Absolut. Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_462/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 19. März 2025:
Bundesgerichtsurteil 6B_462/2024 vom 19. März 2025
Parteien:
* Beschwerdeführerin: A.__ (vertreten durch Advokatin)
* Beschwerdegegner: Ministère public de la République et canton de Genève
Gegenstand:
* Bettelei (Art. 11A Abs. 1 lit. c des Genfer Strafgesetzes, LPG/GE)
* Willkür
Vorinstanz:
* Cour de justice de la République et canton de Genève, Chambre pénale d'appel et de révision
Sachverhalt (relevant für den Entscheid):
Die Beschwerdeführerin, eine Analphabetin aus der Roma-Gemeinschaft aus Rumänien mit prekärer Situation, wurde von der Genfer Justiz wegen Bettelei gemäss Art. 11A Abs. 1 lit. c LPG/GE zu einer Busse von CHF 40.-, ersatzweise einem Tag Freiheitsstrafe, verurteilt. Gegenstand der Verurteilung war ein Vorfall vom 21. Dezember 2022, bei dem sie sich um 18:04 Uhr in V._ "in der Nähe des Eingangs" eines Geschäfts in der Rue U._ aufhielt und bettelte. Die Vorinstanz hatte einen weiteren Vorfall vom 3. Dezember 2022 als nicht strafbar beurteilt, da die erste polizeiliche Intervention nicht als ausreichende Vorwarnung betrachtet wurde (dieser Punkt wurde jedoch vom Bundesgericht anders gewürdigt).
Rechtliche Kernfragen und Argumente:
-
Legalitätsprinzip (Art. 1 CP, Art. 5, 9, 164 BV, Art. 7 EMRK):
- Die Beschwerdeführerin rügt, die Bettelei-Bestimmung des Genfer Gesetzes (Art. 11A LPG/GE) verstosse gegen das Legalitätsprinzip, da Begriffe wie "organisiertes Netzwerk", "belästigendes Verhalten", "unmittelbare Nähe" und "Gebiete mit vorrangig kommerzieller oder touristischer Bestimmung" zu unbestimmt seien und den Vollzugsbehörden einen übermässigen Ermessensspielraum einräumten. Sie meint, die Formulierung erlaube Bettelei praktisch nur noch in Landwirtschafts- oder Industriezonen, was einem faktischen Totalverbot gleichkomme.
- Das Bundesgericht prüft die Anwendung kantonalen Rechts (hier: Art. 11A LPG/GE, Art. 1, 17, 52 StGB als subsidiäres kantonales Recht) nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (Art. 9 BV) oder der Verletzung von Grundrechten (Art. 106 Abs. 2 BGG).
- Das Gericht stellt fest, dass die Beschwerdeführerin konkret nur wegen Bettelei in der "unmittelbaren Nähe der Ein- und Ausgänge" eines Geschäfts verurteilt wurde. Daher beschränkt sich die Prüfung der Bestimmtheit (Art. 7 Abs. 1 EMRK) auf diesen Aspekt.
- Art. 7 Abs. 1 EMRK verlangt, dass eine Straftat klar im Gesetz definiert ist (Bestimmtheitsgebot). Das Gesetz muss dem Einzelnen ermöglichen, vorherzusehen, welche Handlungen strafbar sind ("lex certa"). Dies schliesst zwar richterliche Auslegung nicht aus, verlangt aber, dass das Ergebnis vorhersehbar ist. Die Präzision hängt auch von den Normadressaten ab (z.B. Zugang zu Beratung).
- Das Gericht räumt ein, dass der Begriff "unmittelbare Nähe" (aux abords immédiats) an sich nicht eindeutig ist und keine exakte Distanz festlegt. Es verweist auf die Entstehungsgeschichte des Genfer Gesetzes, wo bewusst auf eine Meter-Begrenzung (wie z.B. in Basel-Stadt) verzichtet wurde.
- Eine funktionale oder teleologische Auslegung des Begriffs "unmittelbare Nähe" sei unumgänglich. Im Kontext von Geschäften ziele das Verbot primär auf den Schutz der kommerziellen Interessen und der Attraktivität der Geschäfte ab, weniger auf die öffentliche Sicherheit im engeren Sinne.
- Angesichts des Fehlens spezifischer öffentlicher Interessen im engeren Sinne müsse die Norm restriktiv ausgelegt werden. "Unmittelbare Nähe" könne nur einen Radius von "wenigen Metern" um Ein- und Ausgänge bedeuten, ohne dass es auf 2 oder 5 Meter ankomme, solange die Regelung nicht schikanös sei (unter Verweis auf BGE 149 I 248 E. 5.3.2). Eine weitergehende Auslegung wäre nicht präzise genug.
- Kritik des Gerichts an der Anwendung durch die Vorinstanz: Die Vorinstanz habe lediglich festgestellt, die Beschwerdeführerin sei "in der Nähe des Eingangs" (à proximité de l'entrée) gewesen. Diese Feststellung sei selbst eine (nicht überprüfbare) Wertung und nicht gleichbedeutend mit "in der unmittelbaren Nähe" (aux abords immédiats). Eine solche unpräzise Sachverhaltsfeststellung erlaube keine Überprüfung der korrekten Anwendung der Strafnorm, auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Willkür.
-
Diskriminierung (Art. 14 EMRK, Art. 8 Abs. 2 BV):
- Die Beschwerdeführerin behauptet, sie werde wegen ihrer sozialen Situation diskriminiert. Sie deutet auch eine Diskriminierung wegen ihrer Zugehörigkeit zur Roma-Gemeinschaft an.
- Das Bundesgericht weist die Rüge als unbegründet zurück. Es gebe keine konkreten Hinweise darauf, dass Bettler anderer Herkunft von Bussen verschont blieben. Die Behauptung einer Diskriminierung wegen der sozialen Situation sei unsubstantiiert; die Beschwerdeführerin lege nicht dar, wie sie im Vergleich zu Personen in ähnlicher oder unterschiedlicher Situation ungleich behandelt worden sei.
-
Notstand/Zwang (Art. 17, 52 StGB):
- Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie sei zum Betteln gezwungen, da dies ihre einzige Überlebensquelle sei. Sie handele aus Not, um einer unmittelbaren Lebens- oder Gesundheitsgefahr zu entgehen.
- Das Bundesgericht verweist auf seine Feststellung, dass die tatsächlichen Behauptungen der Beschwerdeführerin zu ihrer Familiensituation und ausschliesslichen Abhängigkeit vom Betteln nicht festgestellt wurden und im Bundesgerichtsverfahren unzulässig neu vorgebracht wurden (E. 2).
- Ausserdem habe die Beschwerdeführerin nicht substanziiert dargelegt, dass sie die vorgesehene kantonale Not- oder Einzelfallhilfe (gemäss LIASI/GE und RIASI/GE, auch für nicht im Kanton Ansässige) vergeblich beantragt hätte. Art. 12 BV garantiere ein menschenwürdiges Dasein, was nicht zwingend Bargeldleistungen bedeute; andere Hilfen (Essen, Unterkunft durch Organisationen) stünden zur Verfügung.
- Eine willkürliche Anwendung von Art. 17 und 52 StGB (als subsidiäres kantonales Recht) sei nicht dargetan.
-
Persönliche Freiheit und Verhältnismässigkeit (Art. 7, 9, 10, 36 BV, Art. 8 EMRK):
- Die Beschwerdeführerin rügt eine unverhältnismässige Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit durch die strafrechtliche Verurteilung. Sie bestreitet ein öffentliches Interesse am Verbot von Bettelei vor Geschäften, wenn keine aggressive Bettelei vorliege.
- Das Bundesgericht bestätigt seine ständige Rechtsprechung: Betteln als Form des Rechts, andere um Hilfe zu bitten, ist ein elementarer Teil der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) bzw. des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) und berührt die Menschenwürde (Art. 7 BV). Ein Betteiverbot ist eine Einschränkung dieser Rechte.
- Eine Einschränkung muss verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK). Sie muss geeignet sein, das Ziel zu erreichen, das mildeste Mittel sein und in einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Ergebnis stehen.
- Personen, die betteln, seien oft besonders verletzlich und mittellos. Eine strafrechtliche Sanktion (Busse, die zur Ersatzfreiheitsstrafe führen kann) könne für sie besonders schwerwiegend sein.
- Das Bundesgericht verweist auf BGE 149 I 248: Eine Busse, die bei Nichtzahlung zu einer Freiheitsstrafe führt, kann bei mittellosen Personen unverhältnismässig sein, selbst bei räumlich begrenzten Verboten passiver Bettelei. Solche Sanktionen kämen nur als ultima ratio in Betracht, nach dem Scheitern anderer, weniger einschneidender, administrativer Massnahmen. Dazu gehören insbesondere:
- Dokumentierte Wegweisung durch die Polizei aus der Verbotszone beim ersten Verstoss.
- Eine formelle administrative Verwarnung (in der Muttersprache des Betroffenen), die den strafbaren Charakter des Verhaltens und die Konsequenzen (Busse, Umwandlung in Freiheitsstrafe bei Wiederholung) klar darlegt.
- Diese Massnahmen erfordern einen regulatorischen Rahmen.
- Kritik des Gerichts an der Anwendung durch die Vorinstanz: Die Vorinstanz hatte zwar die erste Busse aufgehoben, aber die erste polizeiliche Intervention (vom 3.12.2022) als Warnung für den zweiten Fall (vom 21.12.2022) gewertet. Dies ist nach Ansicht des Bundesgerichts unhaltbar:
- Der Polizeirapport der ersten Intervention war unpräzise formuliert ("diese verbotene Praxis", "unmittelbare Nähe eines Geschäfts", "vor dem Eingang"). Es ist unklar, in welcher Sprache die "Sensibilisierung" erfolgte.
- Die erste Intervention war bereits Teil eines strafrechtlichen Verfahrens (Rapport de contravention), nicht einer rein administrativen Massnahme.
- Wesentliche Elemente einer Verwarnung gemäss BGE 149 I 248 fehlten: formeller Charakter, in Muttersprache, klare Hinweise auf strafrechtliche Konsequenzen und die Möglichkeit der Umwandlung der Busse in Freiheitsstrafe.
- Die Strafverfügung für den ersten Fall (3.12.2022) wurde erst nach dem zweiten Vorfall (21.12.2022) ausgestellt und zugestellt (am 21.3.2023). Sie konnte daher keine Vorwarnung für den am 21.12.2022 begangenen Fall darstellen.
- Allgemeine Informationsmassnahmen über Vereine ersetzen nicht die erforderliche individuelle, administrative Vorab-Verwarnung.
- Daher war die strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin unverhältnismässig, da sie nicht als ultima ratio nach dem Scheitern milder Massnahmen erfolgte.
Fazit des Bundesgerichts:
Die strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Bettelei verstösst gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip und implizit auch gegen das Bestimmtheitsgebot/die Vorhersehbarkeit im Zusammenhang mit der erforderlichen Vorwarnung. Dieser Mangel kann in den konkreten Umständen nicht geheilt werden. Die Verurteilung wird aufgehoben und die Beschwerdeführerin freigesprochen. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese neu über die Kosten des kantonalen Verfahrens entscheidet.
Querverweise und Kontext:
Das Urteil bezieht sich prominent auf zwei frühere Entscheidungen:
* Lacatus gegen Schweiz (EGMR, Urteil vom 19. Januar 2021, Req. 14065/15): Der EGMR stellte eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) in Bezug auf ein früheres, generelles Betteiverbot in Genf fest, insbesondere wegen der Verhängung einer Busse, die bei Nichtzahlung zu einer Freiheitsstrafe führen konnte, gegen eine vulnerable Person. Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts ist eine direkte Folge der Anpassungsbestrebungen des Genfer Gesetzes nach dem Lacatus-Urteil und präzisiert die Anforderungen an die Verhältnismässigkeit und das Verfahren bei der Ahndung von Bettelei gemäss neuem Recht.
* BGE 149 I 248: Dieses Urteil des Bundesgerichts befasste sich ebenfalls mit einem Betteiverbot (im Kanton Basel-Stadt) und präzisierte die Anforderungen an die Verhältnismässigkeit strafrechtlicher Sanktionen für passive Bettelei. Es führte die Notwendigkeit administrativer Vorab-Massnahmen (Wegweisung, formelle Verwarnung) ein, bevor eine Busse als ultima ratio verhängt werden darf. Das vorliegende Urteil bestätigt und konkretisiert diese Anforderungen für den Kanton Genf.
Zusammenfassende wesentliche Punkte:
1. Das Genfer Betteiverbot gemäss Art. 11A Abs. 1 lit. c LPG/GE stellt eine Einschränkung der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 8 EMRK) dar.
2. Der Begriff "unmittelbare Nähe" von Geschäftseingängen muss restriktiv ausgelegt werden (wenige Meter), um dem Bestimmtheitsgebot (Art. 7 EMRK) zu genügen. Die Feststellung der Vorinstanz, die Person sei "in der Nähe" gewesen, war unpräzise und liess keine Kontrolle der Gesetzesanwendung zu.
3. Die strafrechtliche Sanktion (Busse, umwandelbar in Freiheitsstrafe) für passive Bettelei bei mittellosen Personen ist nur als ultima ratio verhältnismässig (Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK).
4. Voraussetzung für eine solche Sanktion ist der vorgängige, dokumentierte Einsatz von weniger einschneidenden Massnahmen, insbesondere eine formelle, individuelle, administrative Verwarnung in einer für den Betroffenen verständlichen Sprache, die über den strafbaren Charakter und die Konsequenzen aufklärt.
5. Im vorliegenden Fall fehlte eine solche vorgängige, formelle Verwarnung. Die erste polizeiliche Intervention war weder formell noch ausreichend präzise und klar im Hinblick auf die Folgen einer Wiederholung. Die spätere Zustellung der Strafverfügung für den ersten Fall erfolgte erst nach dem zweiten Vorfall.
6. Die Verurteilung der Beschwerdeführerin war daher unverhältnismässig und willkürlich, was zu ihrem Freispruch führt.
Dieses Urteil unterstreicht die strengen Anforderungen des Bundesgerichts (basierend auf der EMRK und der Bundesverfassung) an die Verhältnismässigkeit bei der strafrechtlichen Verfolgung von Bettelei, insbesondere gegenüber vulnerablen Personen, und präzisiert die notwendigen verfahrensrechtlichen Schritte vor Verhängung einer Busse.