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Gerne, hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsentscheids 6B_715/2024 vom 19. März 2025:
Bundesgerichtsentscheid 6B_715/2024 vom 19. März 2025
1. Einleitung
Das Urteil des Bundesgerichts (1. Strafrechtliche Abteilung) vom 19. März 2025 (Verfahren 6B_715/2024) betrifft eine strafrechtliche Beschwerde gegen ein Urteil der Cour de justice des Kantons Genf. Streitgegenstand ist die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Bettelei gemäss Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 des Genfer Strafgesetzes (Loi pénale genevoise, LPG/GE) in der seit 12. Februar 2022 gültigen Fassung. Die Beschwerdeführerin, eine rumänische Roma, wurde wegen wiederholter Bettelei in der Nähe von Geschäftseingängen in Genf zu einer Busse von CHF 600.-- verurteilt, ersatzweise zu 6 Tagen Freiheitsentzug.
2. Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin wurde zwischen dem 29. April und dem 8. August 2023 achtzehnmal beim Betteln angehalten. Die Vorfälle ereigneten sich an verschiedenen Orten, jeweils in der unmittelbaren Nähe von Geschäftseingängen (Supermärkte, etc.). Die protokollierten Distanzen variierten: etwa zwei Meter, drei Meter, acht Meter oder weniger als zehn Meter von den Eingängen/Ausgängen entfernt, teilweise mit dem Hinweis, dass sie Personen beim Verlassen der Geschäfte ansprach oder vor dem Eingang sass. In vielen Fällen wurde sie von der Polizei aufgefordert, die Orte zu verlassen oder die verbotene Praxis einzustellen, und gleichzeitig wurde die Übertretung polizeilich festgestellt ("déclarée en contravention sur-le-champ").
Die Vorinstanz (Cour de justice Genf) bestätigte das erstinstanzliche Urteil des Polizeigerichts. Sie stellte fest, dass die Beschwerdeführerin durch das Betteln vor Geschäftseingängen, so dass Kunden an ihr vorbeigehen mussten, ein Risiko der Belästigung oder Verunsicherung schuf. Die Vorinstanz anerkannte die prekäre persönliche Situation der Beschwerdeführerin, hielt aber fest, dass dies ihre Handlungen nicht rechtfertige, da es andere Orte gebe, an denen Bettelei zulässig sei.
3. Rügen der Beschwerdeführerin
Die Beschwerdeführerin focht das Urteil mit verschiedenen Argumenten an, darunter: * Ein formeller Mangel der Strafbefehle (fehlende manuelle Unterschrift), gestützt auf Art. 353 Abs. 1 lit. k StPO und das Urteil BGE 148 IV 445. * Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV, Art. 14 EMRK), da sie aufgrund ihrer sozialen Situation (indirekt auch als Angehörige der Roma-Gemeinschaft) diskriminiert werde. * Willkürliche Anwendung der Art. 17 (Notstand) und 52 (geringfügiger Fall) StGB, da sie aus existenzieller Not zum Betteln gezwungen sei. * Verletzung des Legalitätsprinzips (Art. 1 StGB, Art. 5, 9, 164 BV, Art. 7 EMRK), da die Begriffe in Art. 11A LPG/GE ("organisiertes Netz", "belästigendes Verhalten", "unmittelbare Nähe", "vorrangig kommerzielle oder touristische Bestimmung") zu unbestimmt seien. * Verletzung ihrer Grundrechte auf persönliche Freiheit (Art. 7, 10, 36 BV, Art. 8 EMRK) und Kommunikationsfreiheit (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK) aufgrund des unverhältnismässigen Eingriffs durch das Bettelverbot und die strafrechtliche Sanktion, insbesondere die Umwandlung von Bussen in Freiheitsentzug.
4. Begründung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüfte die Rügen unter Berücksichtigung der geltenden Prüfungsstandards für kantonales Recht (nur Willkür, Art. 9 BV) und Grundrechte (freie Prüfung, aber erhöhte Begründungsanforderungen, Art. 106 Abs. 2 LTF).
4.1. Unzulässige und irrelevante Rügen * Formeller Mangel (Unterschrift): Das Bundesgericht erklärte diese Rüge für unzulässig, da sie verspätet (nach Ablauf der Beschwerdefrist) vorgebracht wurde und nicht Gegenstand des angefochtenen kantonalen Berufungsurteils war. Zudem betrifft sie kantonales Verfahrensrecht, dessen willkürliche Anwendung nicht substanziiert gerügt wurde. Das zitierte Urteil BGE 148 IV 445 stützt im Übrigen die gegenteilige Schlussfolgerung (keine automatische Nichtigkeit bei kleineren Mängeln). * Sachverhaltsbezogene Rügen: Behauptungen über die Imhaftierung anderer Bettler, die angebliche Diskriminierung der Roma-Gemeinschaft als Motiv für das Betteln oder die ausschliessliche finanzielle Abhängigkeit der Familie von der Bettelei wurden als neue oder im angefochtenen Urteil nicht festgestellte Tatsachen qualifiziert und waren mangels Rüge der Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung unzulässig.
4.2. Diskriminierung (Art. 8 Abs. 2 BV, Art. 14 EMRK) Das Bundesgericht wies die Diskriminierungsrüge zurück. Es stellte fest, dass die Beschwerdeführerin weder nachwies, dass sie als Romni anders behandelt würde als andere Bettler (z.B. Drogensüchtige, die ebenfalls gebüsst werden), noch dass sie aufgrund ihrer sozialen Situation ungerechtfertigt behandelt würde. Die Beschwerdeführerin substanziierte nicht, dass sie trotz vorhandener kantonaler Regelungen (LIASI/RIASI GE, die auch Not- und Einzelfallhilfe für Nicht-Ansässige vorsehen) und karitativer Angebote (z.B. Caritas) keine Unterstützung erhalten könnte, die ihr ein menschenwürdiges Dasein gemäss Art. 12 BV sichern würde.
4.3. Notstand und Geringfügigkeit (Art. 17, 52 StGB) Diese Bestimmungen sind als subsidiäres kantonales Recht anwendbar und werden nur auf Willkür geprüft. Das Bundesgericht verwarf die Argumentation der Beschwerdeführerin, sie sei zum Betteln gezwungen. Sie legte nicht dar, weshalb es ihr unmöglich oder unzumutbar gewesen wäre, an Orten zu betteln, an denen dies gemäss kantonalem Recht zulässig ist (z.B. ausserhalb der unmittelbaren Nähe von Geschäften oder in nicht prioritären Zonen). Die Behauptung, die Verbotszonen würden de facto das ganze Kantonsgebiet umfassen, wurde als unsubstanziiert und unglaubwürdig zurückgewiesen; die gesetzlichen Ausnahmen (z.B. Landwirtschafts- oder Industriezonen, aber auch Teile der Innenstadt und des Seeufers) lassen zulässige Bettelorte zu.
4.4. Legalitätsprinzip (Art. 7 EMRK, Art. 5 BV) Das Bundesgericht prüfte die Rüge der Unbestimmtheit des Art. 11A LPG/GE im Hinblick auf das Legalitätsprinzip (Bestimmtheitsgebot). * Das Gericht beschränkte die Prüfung auf den für die Verurteilung relevanten Tatbestand: Bettelei "aux abords immédiats des entrées et sorties de tout établissement à vocation commerciale" (in der unmittelbaren Nähe der Ein- und Ausgänge von Geschäftseinrichtungen, Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE). Andere vom appellant gerügte Begriffe (z.B. "organisiertes Netz") waren für diesen konkreten Fall irrelevant und wurden nicht geprüft. * Das Gericht anerkannte, dass der Begriff "aux abords immédiats" (unmittelbare Nähe) mehrdeutig ist und keine feste Distanz vorgibt, weder im Gesetzestext noch in den Vorbereitungsarbeiten oder der kantonalen Rechtsprechung. * Es betonte, dass das Bestimmtheitsgebot (Art. 7 EMRK) zwar nicht übermässige Präzision verlangt, aber eine Auslegung im Lichte des Gesetzeszwecks erforderlich macht. Im Falle der Bettelei in der Nähe von Geschäftseingängen zielt das Verbot in erster Linie auf den Schutz kommerzieller Interessen und der Rechte Dritter (Kunden, Geschäftsinhaber), nicht primär auf die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im engeren Sinne. * Aus diesem Grund muss der Begriff "unmittelbare Nähe" in Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE restriktiv ausgelegt werden. Er umfasst nur einen Radius von wenigen Metern um die Ein- und Ausgänge. Eine Ausdehnung auf 8 oder 10 Meter (wie in einigen der verurteilten Fälle) ist ohne Nachweis besonderer lokaler Umstände, die im vorliegenden Fall nicht festgestellt wurden, mit dem Bestimmtheitsgebot unvereinbar und grenzt an Willkür. Eine solche Interpretation würde die Anforderung der "Unmittelbarkeit" entleeren. * Folglich verstösst die Verurteilung der Beschwerdeführerin für die Fälle, in denen sie in einer Distanz von 8 oder 10 Metern bettelte, gegen das Legalitätsprinzip.
4.5. Verhältnismässigkeit (Art. 8 EMRK, Art. 10, 36 BV) Das Betteln wurde vom Bundesgericht als Ausdruck der persönlichen Freiheit (Art. 10 BV, Art. 8 EMRK) und der Menschenwürde (Art. 7 BV) anerkannt. Ein Verbot stellt einen Eingriff dar, der verhältnismässig sein muss (Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK). * Das Bundesgericht erinnerte an seine Rechtsprechung (BGE 149 I 248, unter Bezugnahme auf EMRK-Urteil Lacatus/Schweiz), wonach strafrechtliche Sanktionen für passive Bettelei, insbesondere Bussen, die in Freiheitsentzug umgewandelt werden können, eine besonders schwere Massnahme für vulnerable und mittellose Personen darstellen. Sie sind nur als ultima ratio zulässig, nachdem mildere, administrative Massnahmen (wie Wegweisungen durch die Polizei mit dokumentierter formeller Verwarnung vor Ort, inklusive Hinweis auf Bussen und die Konsequenz der Umwandlung in Freiheitsentzug bei Wiederholung) erfolglos blieben. Solche administrativen Vorkehrungen sind notwendige Voraussetzung für eine verhältnismässige Strafverfolgung. * Das Gericht prüfte die in diesem Fall erfolgte Vorgehensweise der Genfer Behörden. Es stellte fest, dass in mehreren Fällen keine spezifische Information oder Verwarnung an die Beschwerdeführerin ergangen war. In anderen Fällen beschränkte sich die Polizei darauf, eine "Kontravention festzustellen" und eine Wegweisung auszusprechen. Diese Interventionen hatten bereits einen strafrechtlichen Charakter und entsprachen nicht den erforderlichen rein administrativen Massnahmen. * Es fehlte eine dokumentierte, formelle Verwarnung, die der Beschwerdeführerin klar (und in einer verständlichen Form/Sprache) die geltenden Verbote, die Konsequenzen einer Wiederholung (Busse) und insbesondere das Risiko der Umwandlung der Busse in Freiheitsentzug bei Nichtzahlung erläutert hätte. Die Strafbefehle selbst, teilweise mit rumänischer Übersetzung, enthielten diese notwendige Information über die Umwandlung nicht. * Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das in diesem Fall angewandte Verfahren die Anforderungen der Verhältnismässigkeit gemäss BGE 149 I 248 nicht erfüllte. Die allgemeinen Sensibilisierungsmassnahmen des Kantons (Treffen Polizei/NGOs) können die notwendigen individuellen, vorhergehenden administrativen Massnahmen nicht ersetzen. * Bezüglich der Umwandlung in Freiheitsentzug (Art. 106 Abs. 2 StGB) bemerkte das Gericht, dass diese Bestimmung in erster Linie für den Fall gedacht ist, dass sich die finanzielle Situation nach der Verurteilung verschlechtert, und zweifelte an ihrer Eignung als Korrektiv für eine von vornherein mittellose Person.
5. Ergebnis
Die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Bettelei gemäss Art. 11A LPG/GE verletzt ihre Grundrechte, sowohl in Bezug auf das Legalitätsprinzip (unbestimmte Auslegung des Begriffs "unmittelbare Nähe" bei grösseren Distanzen) als auch und insbesondere in Bezug auf die Verhältnismässigkeit (Fehlen der notwendigen vorhergehenden administrativen Massnahmen vor der strafrechtlichen Sanktion). Da dieser Mangel im vorliegenden Verfahren nicht behoben werden kann, wird die Verurteilung aufgehoben. Die Beschwerdeführerin wird freigesprochen. Die Sache wird zur Neuregelung der kantonalen Kosten und Parteientschädigung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Für das Bundesgerichtsverfahren werden keine Kosten erhoben und der Beschwerdeführerin wird eine reduzierte Parteientschädigung zugesprochen.
6. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Dieses Urteil bekräftigt die strenge Prüfung von Bettelverboten und deren Sanktionierung durch das Bundesgericht im Lichte der Grundrechte, insbesondere des Bestimmtheitsgebots und des Prinzips der Verhältnismässigkeit als ultima ratio. Es unterstreicht die Notwendigkeit klarer gesetzlicher Regelungen und eines gestuften Vorgehens mit administrativen Massnahmen vor einer strafrechtlichen Sanktion, um den Grundrechten mittelloser Personen gerecht zu werden.