Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_923/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts:
Gegenstand des Urteils:
Das Urteil befasst sich mit der strafrechtlichen Verurteilung wegen Bettelei gemäss Art. 11A Abs. 1 lit. c des Genfer Strafgesetzes (LPG/GE) in der Fassung seit dem 12. Februar 2022. Der Beschwerdeführer, ein rumänischer Staatsangehöriger und Mitglied der Roma-Gemeinschaft, wurde mehrfach wegen Bettelei in verbotenen Zonen verurteilt.
Verfahrensgeschichte:
Der Beschwerdeführer (A.__) wurde vom Polizeigericht des Kantons Genf wegen mehrerer Widerhandlungen gegen Art. 11A Abs. 1 lit. c LPG/GE zu einer Busse von CHF 300, ersatzweise 3 Tagen Freiheitsstrafe, verurteilt. Er legte Berufung ein. Die Chambre pénale d'appel et de révision des Genfer Justizhofs bestätigte die Verurteilung im Wesentlichen, sprach ihn jedoch für einen Fall (26. Januar 2023, 15:01 Uhr) frei, da der Tatort im Contraventionsrapport nicht schlüssig nachgewiesen sei. Die Busse und Ersatzfreiheitsstrafe blieben bestehen. Der Beschwerdeführer erhob daraufhin Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht.
Sachverhalt (massgebend für die rechtliche Würdigung):
Dem Beschwerdeführer wurden acht Fälle von Bettelei vorgeworfen, die sich zwischen November 2022 und März 2023 ereigneten. Die Orte waren jeweils die unmittelbare Umgebung von Ladeneingängen (Distanzen von ca. 2m bis weniger als 10m genannt, oder allgemein "vor/bei" Geschäften), die unmittelbare Nähe des Eingangs eines Geschäfts und eines Marktes, sowie die unmittelbare Nähe einer Bushaltestelle. Bei den Kontrollen wurde er jeweils aufgefordert, die Praxis einzustellen und/oder den Ort zu verlassen, und es wurde eine Anzeige erstattet ("déclaré en contravention sur le champ"). Die erste Tat, die zur Anzeige führte (25. November 2022), wurde vom kantonalen Gericht im Berufungsverfahren nicht mehr sanktioniert (faktisch ein Freispruch für diese Tat).
Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:
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Überprüfungsbefugnis: Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), ausser bei Willkür (Art. 9 BV). Eine Verletzung kantonalen Rechts prüft das Bundesgericht ebenfalls nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür oder der Verletzung von Grundrechten (Art. 95 BGG i.V.m. Art. 9 BV bzw. Art. 106 Abs. 2 BGG). Für die Rüge von Grundrechtsverletzungen gelten erhöhte Begründungsanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Strafgesetzbuch (StGB) gilt für kantonale Übertretungen nur subsidiär (Art. 335 Abs. 1 StGB), seine Anwendung durch die Kantone wird ebenfalls nur auf Willkür hin geprüft.
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Zurückgewiesene prozedurale und sachverhaltliche Rügen:
- Der Beschwerdeführer brachte neue Sachverhalte vor (angebliche Freiheitsstrafen anderer Bettler, mangelnde Unterschrift auf Strafbefehlen). Das Gericht wies diese als unzulässig zurück, da sie neu waren (Art. 99 Abs. 1 BGG) oder nicht in den kantonalen Instanzen vorgebracht wurden, obwohl dies möglich gewesen wäre (Art. 80 Abs. 1 BGG, Grundsatz von Treu und Glauben).
- Die Behauptung der Bettelei als einziger Überlebensquelle und der Fürsorgepflicht für die Familie wurde als nicht ausreichend festgestellt vom kantonalen Gericht gewertet und nicht willkürlich befunden, da die Vorinstanz von einer "indéniablement précaire" (unzweifelhaft prekären) Situation ausging, die das Handeln erkläre, aber nicht rechtfertige.
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Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV, Art. 14 EMRK, Art. 2 EIMP):
- Der Beschwerdeführer rügte eine Diskriminierung aufgrund seiner sozialen Situation und implizit seiner Zugehörigkeit zur Roma-Gemeinschaft.
- Das Gericht verneinte eine Diskriminierung. Es fehlten konkrete Hinweise, dass Bettler anderer Herkunft nicht sanktioniert würden. Andere Quellen deuteten darauf hin, dass auch andere Gruppen (z.B. Drogenabhängige) in Genf gebüsst würden. Die Rüge der Diskriminierung aufgrund der sozialen Situation war ungenügend begründet, da der Beschwerdeführer nicht aufzeigte, wie er anders behandelt wurde als vergleichbare Personen oder gleich wie wesentlich anders situierte Personen. Art. 14 EMRK habe keine eigenständige Bedeutung, wenn andere Konventionsrechte angerufen würden.
- Der Einwand mangelnder alternativer Hilfen wurde ebenfalls verworfen. Es existierten kantonale Nothilfen (Art. 11 Abs. 4 LIASI/GE), und Art. 12 BV garantiere ein Existenzminimum, das nicht zwingend Geldleistungen umfasse und auch ohne Wohnsitz in Genf zugänglich sei. Wohltätigkeitsorganisationen böten ebenfalls Hilfe.
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Notstand/Notwehr (Analoge Anwendung von Art. 17 und 52 StGB):
- Der Beschwerdeführer argumentierte, er sei gezwungen gewesen zu betteln, um zu überleben, und handelte somit im Notstand (Art. 17 StGB) oder bei geringfügigem Erfolg/Täterverhalten (Art. 52 StGB).
- Das Gericht verwies erneut auf die ungenügende Sachverhaltsbasis hinsichtlich der ausschliesslichen Abhängigkeit von der Bettelei und der familiären Fürsorgepflicht.
- Wesentlicher Gegenstand der Prüfung war, ob der Beschwerdeführer willkürlich verurteilt wurde, obwohl er angeblich nur in verbotenen Zonen betteln konnte. Das Gericht verwarf die pauschale Behauptung des Beschwerdeführers, Bettelei sei nur noch in Industrie- oder Landwirtschaftszonen erlaubt. Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass zahlreiche erlaubte Orte in der Stadt Genf existierten. Der Beschwerdeführer habe nicht schlüssig dargelegt, warum Bettelei ausserhalb der unmittelbaren Nähe der Eingänge/Haltestellen unmöglich oder unzulässig gewesen wäre. Die Prüfung der Anwendung von Art. 17/52 StGB als subsidiäres kantonales Recht erfolgte nur unter dem Willkürvorbehalt.
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Legalitätsprinzip (Nullum crimen sine lege) und Bestimmtheit des Gesetzes (Art. 1 StGB, Art. 5, 9, 164 BV, Art. 7 EMRK):
- Der Beschwerdeführer rügte die Unbestimmtheit der Begriffe in Art. 11A LPG/GE ("réseau organisé", "comportement de nature à importuner", "abords immédiats", "vocation commerciale ou touristique prioritaire") als Verletzung des Legalitätsprinzips, da dies zu einer de-facto-Verbot führe.
- Das Gericht erklärte die Rüge bezüglich der Begriffe "réseau organisé", "comportement de nature à importuner" und "vocation commerciale ou touristique prioritaire" als unzulässig oder ungenügend begründet, da sie die konkret vorgeworfenen Taten nicht betrafen.
- Das Gericht konzentrierte sich auf den relevanten Begriff "abords immédiats" (unmittelbare Umgebung/Nähe).
- Es anerkannte, dass dieser Begriff nicht eindeutig sei. Unter dem Blickwinkel von Art. 7 EMRK (Bestimmtheit) und Art. 36 BV (Grundrechtseinschränkungen bedürfen einer Gesetzesgrundlage) müsse das Gesetz hinreichend zugänglich und vorhersehbar sein. Dies gelte auch für kantonale Übertretungen. Die nötige Präzision hänge vom Adressatenkreis ab (hier: ausländische, Analphabeten, vulnerable Personen).
- Das Gericht interpretierte den Begriff "abords immédiats" in Art. 11A Abs. 1 lit. c LPG/GE. Angesichts des Gesetzeszwecks (Schutz von Geschäftsinteressen, Verkehrsfluss, Sicherheit von Nutzern) müsse der Begriff restriktiv ausgelegt werden. Er bezeichne eine "wenige Meter" umfassende Zone um die Eingänge/Ausgänge von Geschäften, Märkten und die Haltestellen. Eine darüber hinausgehende Auslegung wäre nicht mehr verhältnismässig und präzis.
- Anwendung auf die konkreten Fälle: Eine Distanz von 2 Metern liege objektiv innerhalb der "unmittelbaren Nähe". Jedoch seien Feststellungen wie "unmittelbare Nähe" oder "unmittelbar bei" ohne konkrete Distanzangabe ungenügende Sachverhaltsfeststellungen für eine Überprüfung der Normenanwendung (auch unter Willkürgesichtspunkten). Angaben wie "weniger als 10 Meter" schienen eher ausserhalb einer restriktiven Auslegung von "wenige Meter" zu liegen. Die globale Begründung der Vorinstanz zur Behinderung von Passanten war nicht ausreichend für die einzelnen Taten.
- Fazit zur Bestimmtheit/Sachverhalt: Während der Fall bei 2 Metern objektiv unter den Gesetzeswortlaut fällt, sind die Feststellungen bei anderen Taten ungenügend oder scheinen ausserhalb des Geltungsbereichs der Norm zu liegen. Dies allein könnte zu teilweisem Freispruch führen.
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Verhältnismässigkeit (Art. 7, 9, 10, 36 BV, Art. 8 EMRK): Dies war die entscheidende Rüge.
- Das Gericht bekräftigte, dass Bettelei unter die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) fällt und die Menschenwürde berührt (Art. 7 BV). Einschränkungen (wie ein Betteiverbot) sind nur unter strikter Einhaltung der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK) zulässig.
- Es betonte erneut die besondere Vulnerabilität von Bettlern. Strafrechtliche Sanktionen (Bussen, umwandelbar in Freiheitsstrafe) seien nur als ultima ratio zulässig, nachdem andere, mildere Massnahmen versagt haben.
- Das Gericht erinnerte an seine eigene Rechtsprechung (ATF 149 I 248, in Bezug auf das Basler Betteiverbot), wonach eine Busse bei passiver Bettelei nur zulässig sei, wenn ihr vorgängig administrative Massnahmen (wie Wegweisung durch die Polizei) und eine förmliche Verwarnung unter Androhung einer Busse im Wiederholungsfall vorausgegangen seien. Diese Massnahmen müssten dokumentiert und hinreichend präzise sein. Sie sind eine notwendige Voraussetzung für eine strafrechtliche Sanktion.
- Anwendung auf den vorliegenden Fall: Obwohl das kantonale Gericht angeblich eine Praxis anwendete, Ersttäter nicht zu sanktionieren, war die erste polizeiliche Intervention im Fall des Beschwerdeführers (25. November 2022) bereits der Beginn eines Strafverfahrens ("déclaré en contravention"). Der rapport de contravention enthielt keine ausreichende Information über die spezifischen Verbotszonen und, entscheidend, über das Risiko der Umwandlung einer Busse in eine Freiheitsstrafe bei Wiederholung. Die Strafbefehle selbst (die nach den meisten vorgeworfenen Taten ergingen) enthielten diese Informationen ebenfalls nicht ausreichend präzise und in verständlicher Form (z.B. auf Rumänisch). Allgemeine Informationsmassnahmen der Behörden oder von Hilfsorganisationen ersetzen nicht die erforderliche individuelle administrative Vorwarnung.
- Die vom Ministry Public vorgebrachte Möglichkeit, die Umwandlung einer Busse in eine Ersatzfreiheitsstrafe gemäss Art. 106 Abs. 2 StGB anzufechten, reiche nicht aus. Gemäss bisheriger Rechtsprechung liege eine schuldlos mangelnde Zahlungsfähigkeit im Sinne dieser Norm nur vor, wenn sich die Verhältnisse nach der Verurteilung unverschuldet verschlechtert haben, nicht aber bei von Anfang an bestehender Mittellosigkeit. Es sei zweifelhaft, ob Art. 106 Abs. 2 StGB hier ein wirksames Korrektiv darstelle.
- Schlussfolgerung zur Verhältnismässigkeit: Die strafrechtliche Sanktion (Busse, umwandelbar in Freiheitsstrafe) war im Fall des Beschwerdeführers nicht von den erforderlichen vorgängigen administrativen Massnahmen und einer förmlichen, dokumentierten Verwarnung begleitet, wie sie gemäss der Bundesgerichtsrechtsprechung für vulnerable Personen notwendig sind. Die Verurteilung ist daher unverhältnismässig.
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Fazit und Dispositiv: Da die Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips im vorliegenden Fall nicht geheilt werden kann, muss die Verurteilung aufgehoben werden. Der Beschwerdeführer ist vollumfänglich freizusprechen. Die Sache wird zur Neuregelung der kantonalen Kosten und Entschädigungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht hebt die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Bettelei gemäss Art. 11A Abs. 1 lit. c LPG/GE auf und spricht ihn frei. Die Verurteilung verstösst gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK) in Bezug auf vulnerable Personen. Das Gericht bekräftigt, dass strafrechtliche Sanktionen für Bettelei, insbesondere für vulnerable Personen wie den Beschwerdeführer, nur als ultima ratio nach vorgängigen administrativen Massnahmen (Wegweisung) und einer förmlichen, dokumentierten Verwarnung unter Androhung strafrechtlicher Folgen zulässig sind. Solche vorgängigen Massnahmen und eine ausreichende Belehrung über die rechtlichen Konsequenzen (inkl. Risiko der Bussenkonversion in Freiheitsstrafe) fanden im Fall des Beschwerdeführers nicht in der erforderlichen Form statt. Zwar hält das Gericht fest, dass der Begriff "abords immédiats" (unmittelbare Nähe) im Gesetz prinzipiell auslegbar und restriktiv auf "wenige Meter" zu beschränken sei, um dem Bestimmtheitsgebot (Art. 7 EMRK) zu genügen. Die Feststellungen des kantonalen Gerichts waren in mehreren Fällen ungenügend präzise, um diese Distanz zu überprüfen. Jedoch war der fehlende vorgängige administrative Prozess entscheidend für den Freispruch aller verbliebenen Anklagepunkte. Die Rügen bezüglich Diskriminierung, Notstand und der allgemeinen Unbestimmtheit weiterer Gesetzesbegriffe wies das Gericht zurück oder ging nicht darauf ein, da sie für den vorliegenden Fall nicht entscheidend oder ungenügend begründet waren.