Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_216/2024 vom 19. März 2025

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Gerne, hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_216/2024 vom 19. März 2025:

Urteil des Bundesgerichts 6B_216/2024 vom 19. März 2025

Gegenstand: Bettelei (Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE); Willkür Vorinstanz: Chambre pénale d'appel et de révision de la Cour de justice genevoise Datum des Vorinstanzurteils: 30. Januar 2024

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin, eine 1999 geborene rumänische Staatsangehörige, ohne Wohnsitz und Arbeit in der Schweiz, wurde vom Tribunal de police des Kantons Genf wegen Bettelei nach der damals geltenden Fassung von Art. 11A des Genfer Strafgesetzes (LPG/GE) bereits 2019 (23 Vorfälle) und 2020 (13 Vorfälle) verurteilt.

Mit Urteil vom 18. Juli 2023 verurteilte dasselbe Gericht die Beschwerdeführerin nach der seit 12. Februar 2022 geltenden Fassung von Art. 11A Abs. 1 lit. c LPG/GE erneut wegen Bettelei zu einer Busse von 190 Franken (Ersatzfreiheitsstrafe von 2 Tagen). Die Verurteilung basierte auf zwei Vorfällen vom 9. und 13. August 2022. Am 9. August 2022 hatte sie vor einem Einkaufszentrum in U._ Passanten mit einem mit Münzen gefüllten Kaffeebecher angebettelt. Am 13. August 2022 bat sie in V._ Kunden, die ein Lebensmittelgeschäft verliessen, um Geld.

Auf Beschwerde hin reduzierte die Chambre pénale d'appel et de révision der Cour de justice Genf mit Urteil vom 30. Januar 2024 die Busse auf 150 Franken (Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag), bestätigte aber die Verurteilung wegen Bettelei nach Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE. Das Kantonsgericht hielt fest, dass die Beschwerdeführerin vor den Geschäften gestanden und Kunden angesprochen habe und sich somit "in den unmittelbaren Abgrenzungen der Zugänge dieser Läden" befunden habe. Ihre prekäre persönliche Situation erkläre zwar ihr Handeln, rechtfertige es aber nicht vollständig. Sie habe gehandelt, um ihre schwierige Lage zu verbessern, nicht aus Profitgier.

Rechtsfrage und Hauptproblematik:

Die zentrale Rechtsfrage, die das Bundesgericht zu prüfen hatte, war die Vereinbarkeit der Verurteilung wegen Bettelei nach Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE – d.h. Bettelei in der unmittelbaren Umgebung von Geschäftszugängen – mit höherrangigem Recht, insbesondere mit dem Legalitätsprinzip (Art. 7 EMRK) und dem Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 8 EMRK, Art. 10 Abs. 2, Art. 36 Cst. in Verbindung mit Art. 7 Cst.).

Rechtsmittelverfahren:

Die Beschwerdeführerin beantragte beim Bundesgericht primär ihren Freispruch. Sie rügte im Wesentlichen eine willkürliche Anwendung von kantonalem und subsidiär anwendbarem Bundesrecht sowie die Verletzung verschiedener Grundrechte, namentlich der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 Cst., Art. 8 EMRK), der Kommunikationsfreiheit (Art. 16 Cst., Art. 10 EMRK) und des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 Cst., Art. 14 EMRK), sowie des Legalitäts- und Verhältnismässigkeitsprinzips.

Massgebende Rechtsnormen (Auszug):

  • Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE (in Kraft seit 12.02.2022): Bestraft wird, wer bettelt "aux abords immédiats des entrées et sorties de tout établissement à vocation commerciale, notamment les magasins, hôtels, cafés, restaurants, bars et discothèques" (in der unmittelbaren Umgebung der Ein- und Ausgänge aller gewerblichen Einrichtungen, insbesondere Geschäfte, Hotels, Cafés, Restaurants, Bars und Diskotheken).
  • Art. 7 EMRK: Legalitätsprinzip im Strafrecht (nullum crimen, nulla poena sine lege).
  • Art. 8 EMRK: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Abs. 2 erlaubt Eingriffe nur unter bestimmten Bedingungen (gesetzlich vorgesehen, legitimer Zweck, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig).
  • Art. 10 Abs. 2 Cst.: Recht auf persönliche Freiheit.
  • Art. 36 Cst.: Einschränkungen von Grundrechten (Abs. 1: Gesetzliche Grundlage; Abs. 2: Öffentliches Interesse; Abs. 3: Verhältnismässigkeit).
  • Art. 106 Abs. 2 BGG: Rügen der Verletzung von Grundrechten bedürfen einer qualifizierten Rügepflicht (Prinzip der Rüge).

Begründung des Bundesgerichts:

  1. Sachverhaltsprüfung und Rügen: Das Bundesgericht ist grundsätzlich an den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Berichtigung kommt nur bei Willkür in Frage (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG). Die Beschwerdeführerin brachte neue Sachverhaltsbehauptungen vor (Diskriminierung der Roma, extreme Armut, Familienlast), die von der Vorinstanz nicht festgestellt wurden. Da sie keine willkürliche Sachverhaltsfeststellung rügte, blieben diese neuen Behauptungen unbeachtet (E. 2).
  2. Rüge formeller Mangel: Eine spät nach Ablauf der Beschwerdefrist erhobene Rüge betreffend einen angeblichen formellen Mangel bei den ursprünglichen Strafbefehlen (fehlende Unterschrift) wurde als unzulässig erklärt, da sie verspätet und nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Endentscheids war (E. 3).
  3. Diskriminierungsrüge: Die Rüge, die Verurteilung stelle eine Diskriminierung dar (Art. 14 EMRK, Art. 8 Abs. 2 Cst.), wurde abgewiesen. Die Beschwerdeführerin legte nicht dar, inwiefern sie aufgrund ihrer sozialen Lage oder ihrer Zugehörigkeit zur Roma-Gemeinschaft anders behandelt wurde als andere Personen in vergleichbarer Situation (E. 5). Ebenso wenig zeigte sie auf, dass sie keinen Zugang zu Nothilfeleistungen nach kantonalem Recht hätte erhalten können (E. 5).
  4. Notstand und minimale Schuld (Art. 17, 52 StGB als kantonales Recht): Die Berufung auf Notstand zur Rechtfertigung des Bettelns (als einzige Überlebensquelle) wurde unter Hinweis auf mögliche andere Hilfsquellen (karitative Organisationen, minimale verfassungsmässige Garantie nach Art. 12 Cst.) verworfen. Diese StGB-Bestimmungen finden als subsidiäres kantonales Recht Anwendung und werden vom Bundesgericht nur auf Willkür geprüft (E. 6).
  5. Legalitätsprinzip (Art. 7 EMRK):
    • Das Bundesgericht prüfte die Konformität des angewandten Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE mit dem Legalitätsprinzip (Klarheit, Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit der Norm). Die Prüfung beschränkte sich auf die in diesem Fall relevante Verbotszone: die unmittelbare Umgebung von Geschäftszugängen (E. 7.2). Begriffe wie "organisiertes Netzwerk", "belästigendes Verhalten" oder "Prioritätszone", die nicht zur Verurteilung führten, wurden nicht geprüft (E. 7.5.1).
    • Der Begriff "aux abords immédiats" (unmittelbare Umgebung) sei zwar nicht eindeutig und weise keine feste Distanz auf, anders als z.B. die 5-Meter-Regel in Basel-Stadt. Eine funktionale oder teleologische Auslegung sei notwendig (E. 7.5.3 f.).
    • Bezogen auf die "unmittelbare Umgebung von Geschäftszugängen" (Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE) ziele das Verbot in erster Linie auf den Schutz kommerzieller Interessen (Anziehungskraft von Geschäften, Komfort der Kunden). Dies erfordere eine restriktive Auslegung. Es könne sich nur um einen Radius von wenigen Metern handeln. Jenseits dieser kurzen Distanz seien die Personen nur noch Passanten und nutzten die Zugänge nicht mehr direkt (E. 7.6). Eine weitergehende Interpretation würde dem Gebot der Normklarheit widersprechen.
    • In der Anwendung auf den konkreten Fall, wo die Beschwerdeführerin "an den Eingängen" der Geschäfte bettelte, stellte das Bundesgericht fest, dass dies unzweifelhaft in die "unmittelbare Umgebung" im Sinne der restriktiven Auslegung fällt (E. 7.8 f.). Die Norm war für dieses spezifische Verhalten hinreichend klar und das Legalitätsprinzip in Bezug auf die Bestimmtheit nicht verletzt (E. 7.11).
    • Die Frage der Zugänglichkeit der Norm für die Beschwerdeführerin (Ausländerin, Analphabetin, neue Gesetzgebung mit unbestimmten Begriffen) wurde als mit der Verhältnismässigkeit zusammenhängend betrachtet (E. 7.11).
  6. Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 8 EMRK, Art. 10, 36 Cst.):
    • Betteln als Akt der Bitte um Hilfe gehört zur persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 Cst., Art. 8 EMRK) und berührt die Menschenwürde (Art. 7 Cst.). Ein Verbot stellt einen Eingriff dar, der verhältnismässig sein muss (E. 8.2 f.).
    • Das Bundesgericht erinnerte an seine Rechtsprechung (ATF 149 I 248, zu Basel-Stadt) und diejenige des EGMR (Lacatus gegen Schweiz): Der Schutz der Interessen Dritter (Passanten, Anwohner, Geschäftsbetreiber) sei ein legitimer Zweck (E. 8.5). Bei passivem Betteln (wie hier) sei die Pönalisierung, selbst bei räumlich begrenzten Verboten, heikel. Bussen und Ersatzfreiheitsstrafen könnten ungeeignet sein. Eine strafrechtliche Sanktion dürfe nur ultima ratio sein, nachdem administrative Massnahmen (wie polizeiliche Wegweisung, schriftliche Verwarnung) fehlgeschlagen seien. Dies gelte selbst bei geringen Bussen (E. 8.5).
    • Das Kantonsgericht hatte argumentiert, die Vorstrafen der Beschwerdeführerin (über 30 Vorfälle unter altem Recht) zeigten, dass administrative Massnahmen wirkungslos blieben (E. 8.6). Das Bundesgericht widersprach dieser Argumentation:
      • Erstens bezogen sich die Vorstrafen auf altes Recht (totales Verbot), während das neue Recht zonenspezifische Verbote enthält, die Interpretation erfordern ("unmittelbare Umgebung"). Es wurde nicht dargetan, dass die Beschwerdeführerin sich geweigert hätte, wenige Meter von den Eingängen wegzugehen (E. 8.6).
      • Zweitens genügen allgemeine Sensibilisierungsmassnahmen oder Informationen an Organisationen nicht. Entscheidend sind individuelle, vorgängige administrative Massnahmen (Wegweisung, Verwarnung) gegenüber der betroffenen Person, bevor eine strafrechtliche Sanktion erfolgt (E. 8.6).
    • Diese notwendigen vorgängigen administrativen Massnahmen wurden im vorliegenden Fall nicht festgestellt.
    • Auch Art. 106 Abs. 2 StGB (Umwandlung Busse in Ersatzfreiheitsstrafe bei Nichtzahlung) bietet keine ausreichende Gewähr für Verhältnismässigkeit, da die Rechtsprechung zum "nicht schuldhaften Unvermögen" restriktiv ist und eine Anwendung bei von vornherein mittellosen Personen fraglich ist (E. 8.7).
    • Die Verurteilung der Beschwerdeführerin verletzt somit das Verhältnismässigkeitsprinzip, da die strafrechtliche Sanktion ohne vorgängige administrative Massnahmen als unangemessen erscheint, insbesondere angesichts ihrer offensichtlichen Bedürftigkeit (E. 9).

Endgültiger Entscheid:

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, soweit sie zulässig war. Es hob das Urteil der Vorinstanz auf und sprach die Beschwerdeführerin frei. Die Sache wurde zur Neuregelung der Kosten und Entschädigung des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Gerichtskosten des Bundesverfahrens wurden dem Kanton Genf auferlegt; dieser muss die Beschwerdeführerin für das Bundesverfahren entschädigen (E. 9, 10).

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die Verurteilung wegen Bettelei in der unmittelbaren Umgebung von Geschäftszugängen nach Genfer Recht aufgehoben und die Beschwerdeführerin freigesprochen. Zwar wurde die Norm "unmittelbare Umgebung" in Bezug auf das konkrete Handeln "an den Eingängen" als hinreichend bestimmt und damit das Legalitätsprinzip als nicht verletzt erachtet. Die Verurteilung verstösst jedoch gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip. Angesichts der Schutzbedürftigkeit von Bettlern ist eine strafrechtliche Sanktion, selbst eine geringe Busse, nur als ultima ratio zulässig. Ihr müssen grundsätzlich vorgängige, dokumentierte administrative Massnahmen (wie Wegweisungen oder Verwarnungen) vorausgehen. Da solche Massnahmen im Fall der Beschwerdeführerin nicht festgestellt wurden, war die strafrechtliche Verurteilung unverhältnismässig.