Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_714/2024 vom 19. März 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen.

Zusammenfassung des Urteils 6B_714/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 19. März 2025

1. Einleitung und Gegenstand

Das Urteil des Bundesgerichts 6B_714/2024 vom 19. März 2025, ergangen durch die I. Strafrechtliche Abteilung, behandelt eine strafrechtliche Beschwerde gegen ein Urteil der Strafrechtlichen Beschwerdekammer des Genfer Kantonsgerichts vom 5. August 2024. Gegenstand ist die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Bettelns gemäss Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 und 5 des Genfer Strafgesetzes (LPG/GE). Die Beschwerdeführerin, eine mittellose rumänische Staatsangehörige der Roma-Gemeinschaft, wurde aufgrund von zwölf Vorfällen des passiven Bettelns in der Nähe einer gewerblichen Einrichtung und einer Parkkasse in Genf zu einer Busse verurteilt.

2. Sachverhalt

Der kantonalen Vorinstanz folgend stellt das Bundesgericht auf den Sachverhalt ab, wonach die Beschwerdeführerin zwischen dem 22. Oktober und 2. Dezember 2022 an zwölf verschiedenen Daten in der Nähe eines Einkaufszentrums in V.__ bzw. bei der dazugehörigen Parkkasse von Polizeibeamten angetroffen wurde, während sie bettelte. Die Vorinstanz stellte fest, dass sie dabei entweder unmittelbar vor dem Eingang des Zentrums, in einem Umkreis von weniger als zehn Metern zum Supermarkt oder an die Parkkasse gelehnt stand und Kunden um Geld bat.

Die Vorinstanz kam zum Schluss, dieses Verhalten erfülle den Tatbestand des Bettelns an den "unmittelbaren Zugängen und Ausgängen jeder gewerblichen Einrichtung" (Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE) bzw. an "unmittelbaren Zugängen und Ausgängen von Parkkassen" (Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 5 LPG/GE) in der zum Zeitpunkt der Taten geltenden Fassung (seit 12. Februar 2022). Sie erwog, dass das Betteln an diesen Orten, wo Kunden vorbeigehen müssen, das Risiko berge, Personen zu belästigen oder bei ihnen ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen. Die Vorinstanz anerkannte zwar die prekäre persönliche Situation der Beschwerdeführerin, erachtete ihr Handeln jedoch als nicht gerechtfertigt, da ihr erlaubt sei, an anderen Orten im Quartier zu betteln.

3. Rechtliche Argumente der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin rügte im Wesentlichen Willkür bei der Anwendung von kantonalem Recht (insb. Art. 11A LPG/GE) in Verbindung mit subsidiärem Bundesrecht (Art. 1, 17, 52 StGB) sowie die Verletzung von Bundesverfassungsrecht (Art. 5, 7, 8, 9, 10, 16, 36 Abs. 3 BV) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 7, 8, 10, 14 EMRK). Ihre zentralen Argumente waren:

  • Das Legalitätsprinzip (Art. 7 EMRK, Art. 5, 9 BV, Art. 1 StGB als subsidiäres Recht): Die Begriffe "organisiertes Netz", "verhaltensweise, die geeignet ist, das Publikum zu belästigen", "unmittelbare Umgebung" und "vorrangig gewerblich oder touristisch geprägtes Gebiet" seien zu unbestimmt und räumten den Strafverfolgungsbehörden zu viel Ermessen ein, was gegen das Gebot der Gesetzesbestimmtheit verstosse.
  • Persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV, Art. 8 EMRK): Das Bettelverbot stelle eine unzulässige Einschränkung der persönlichen Freiheit dar, da kein genügendes öffentliches Interesse vorliege, das Betteln vor Geschäften zu verbieten.
  • Kommunikationsfreiheit (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK): Das Betteln sei auch eine Form der Kommunikation, insbesondere als Ausdruck der Diskriminierung der Roma-Gemeinschaft.
  • Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV, Art. 14 EMRK): Die Verurteilung stelle eine Diskriminierung aufgrund ihrer sozialen Situation und Herkunft dar.
  • Notstand/geringfügigkeit (Art. 17, 52 StGB als subsidiäres Recht): Sie sei aus Not zum Betteln gezwungen, da es ihre einzige Überlebensquelle sei, und das Delikt sei aufgrund der geringfügigen Folgen als unbedeutend einzustufen.
  • Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK): Die strafrechtliche Sanktion (Busse, konvertierbar in Ersatzfreiheitsstrafe) für passives Betteln sei unverhältnismässig, insbesondere angesichts ihrer Mittellosigkeit und der fehlenden Alternativen.

4. Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht prüfte die Rügen der Beschwerdeführerin unter dem eingeschränkten Blickwinkel der Willkür, soweit kantonales Recht betroffen ist (Art. 106 Abs. 2 LTF), und unter voller Kognition für die Rüge der Verletzung von Bundesverfassungsrecht und EMRK (Art. 106 Abs. 1 LTF), wobei für die Rüge von Grundrechtsverletzungen eine qualifizierte Begründung erforderlich ist (Art. 106 Abs. 2 LTF).

4.1. Sachverhaltsrügen und formelle Einwände

Das Bundesgericht wies die pauschalen Sachverhaltsbehauptungen der Beschwerdeführerin (z.B. bzgl. Kommunikationszweck des Bettelns, Familienlast) mangels Substantiierung und Nachweis der Willkür bei der kantonalen Sachverhaltsfeststellung zurück (E. 2). Ein formeller Mangel der Strafbefehle (fehlende Unterschrift) wurde als unzulässig erachtet, da er verspätet geltend gemacht wurde und nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Urteils war (E. 3).

4.2. Diskriminierung

Das Bundesgericht verwarf die Rüge der Diskriminierung (E. 5). Es stellte fest, dass die Beschwerdeführerin keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorgebracht habe, dass Bettler anderer Herkunft von Bussen verschont blieben. Die Rüge der Diskriminierung aufgrund der sozialen Situation sei ebenfalls unbegründet, da die Beschwerdeführerin weder dargelegt habe, wie sie im Vergleich zu Personen in ähnlicher oder unähnlicher Lage behandelt worden sei, noch dass sie keinen Zugang zu existenzsichernden Hilfsleistungen gehabt hätte (Verweis auf kantonale Nothilfevorschriften und Art. 12 BV).

4.3. Notstand und geringfügigkeit

Die subsidiär erhobene Rüge des Notstands oder der geringfügigkeit (Art. 17, 52 StGB als subsidiäres kantonales Recht) wurde ebenfalls abgewiesen (E. 6). Das Bundesgericht hielt daran fest, dass diese Bestimmungen nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür geprüft werden. Die Beschwerdeführerin habe nicht nachgewiesen, dass Betteln ihre einzige Überlebensquelle sei (Verweis auf karitative Organisationen, Art. 12 BV). Sie habe auch nicht willkürfrei dargelegt, warum es ihr verunmöglicht worden sei, an den gesetzlich erlaubten Orten zu betteln (z.B. ausserhalb der "unmittelbaren Nähe" oder der spezifisch verbotenen Zonen).

4.4. Legalitätsprinzip (Art. 7 EMRK)

Das Bundesgericht prüfte die Rüge der Unbestimmtheit der Norm, insbesondere der Wendung "unmittelbare Umgebung" (aux abords immédiats), im Lichte des Legalitätsprinzips von Art. 7 EMRK (E. 7). Es hielt fest, dass dieses Prinzip die Bestimmtheit von Strafnormen verlange, damit der Normadressat wissen könne, welches Verhalten strafbar ist. Dies umfasse auch die Vorhersehbarkeit der richterlichen Auslegung.

Die Wendung "unmittelbare Umgebung" sei nicht eindeutig und könne nur im jeweiligen Kontext (z.B. in der Nähe einer Stadt vs. eines Gebäudes) verstanden werden (E. 7.5.4). Der Genfer Gesetzgeber habe bewusst auf eine exakte Meterangabe verzichtet. Das Bundesgericht anerkannte, dass eine Auslegung im Lichte des Zwecks der Norm erforderlich sei. Im Falle von gewerblichen Einrichtungen (Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 2 LPG/GE) ziele das Verbot auf die Interessen der Gewerbetreibenden und ihrer Kunden ab (serene Bedingungen, Attraktivität). Hier sei eine restriktive Auslegung geboten. Eine Distanz von mehr als wenigen Metern könne nicht mehr als "unmittelbar" gelten, ohne schikanös zu wirken. Auch bei Parkkassen (Art. 11A Abs. 1 lit. c Ziff. 5 LPG/GE) sei der Zweck der Schutz des Sicherheitsgefühls der Nutzer, was aber schon durch die Einhaltung üblicher sozialer Normen gewährleistet werde; eine weitergehende Distanz als bei gewerblichen Eingängen sei hier nicht gerechtfertigt, um die Norm nicht diskriminierend oder schikanös zu gestalten (E. 7.6). Zusammenfassend umschreibe "unmittelbare Umgebung" einen Umkreis von einigen wenigen Metern (E. 7.7).

Das Bundesgericht kritisierte sodann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz, die teilweise unbestimmte Begriffe ("vor dem Eingang", "in der Höhe", "an der Parkkasse gelehnt") oder gar "unter zehn Metern" verwendet habe. Während das "Anlehnen an die Parkkasse" klar unter die Norm falle (E. 7.9.1), liessen die anderen Formulierungen keine Überprüfung zu, ob die Distanz tatsächlich "unmittelbar" war (E. 7.9.2). Die vorinstanzlichen Globalerwägungen reichten hierfür nicht aus.

4.5. Grundrechte und Verhältnismässigkeit (Art. 8 EMRK, Art. 7, 10, 36 BV)

Das Bundesgericht bekräftigte, dass Betteln als Form des Rechts, andere um Hilfe zu bitten, unter die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) falle und die Menschenwürde berühre (Art. 7 BV). Ein Verbot stelle eine Einschränkung dieser Rechte dar (E. 8.2). Die Kommunikationsfreiheit (Art. 10 EMRK) biete hier keinen weitergehenden Schutz (E. 8.3).

Die entscheidende Frage war die Verhältnismässigkeit der strafrechtlichen Sanktion (Busse, umwandelbar in Haft) im Lichte von Art. 36 Abs. 3 BV und Art. 8 Abs. 2 EMRK (E. 8.4). Zwar sei der Schutz Dritter (Passanten, Gewerbetreibende) ein legitimes Ziel (E. 8.5, unter Verweis auf EMRK-Urteil Lacatus c. Suisse und BGE 149 I 248), doch die Verhältnismässigkeit der Bestrafung von passivem Betteln sei heikel. Das Bundesgericht wiederholte seine Rechtsprechung (BGE 149 I 248), wonach eine strafrechtliche Sanktion wie eine Busse, die in Haft umgewandelt werden kann, bei mittellosen und besonders schutzbedürftigen Personen für passives Betteln nur als ultima ratio in Betracht kommt, nachdem andere, weniger einschneidende Massnahmen (administrative, z.B. Wegweisung durch die Polizei, formelle Verwarnung) erfolglos geblieben sind. Solche Massnahmen erforderten ein strukturiertes reglementarisches Dispositiv, einschliesslich dokumentierter polizeilicher Interventionen und förmlicher Warnungen in der Sprache des Betroffenen, die auf den strafrechtlichen Charakter des Verhaltens und die drohende Busse (samt Risiko der Umwandlung in Haft) hinweisen (E. 8.5).

Das Bundesgericht befand, die von der Vorinstanz als genügend betrachtete erste polizeiliche Intervention/Verwarnung am 22. Oktober 2022 sei unzureichend gewesen (E. 8.6). Es sei unklar, in welcher Sprache die Information erfolgte. Die blosse Angabe "vor einem gewerblichen Einrichtung" sei zu unpräzise bzgl. der Anforderungen der "unmittelbaren Umgebung von Eingängen/Ausgängen oder Parkkassen". Diese erste Intervention sei bereits strafrechtlicher Natur gewesen und hätte durch eine formelle, administrative Verwarnung mit klarem Inhalt, einschliesslich des Hinweises auf das Haftrisiko, ersetzt werden müssen, was nicht geschehen sei. Die Information, die erst mit dem Strafbefehl (Monate später) erfolgte, sei verspätet. Allgemeine Informationsmassnahmen des Kantons über karitative Organisationen könnten die erforderlichen individuellen und vorherigen administrativen Massnahmen nicht ersetzen.

Der Einwand des Staatsanwalts, Art. 106 Abs. 2 StGB (schuldloser Unmöglichkeit der Zahlung) biete eine Korrektur, wurde als zweifelhaft zurückgewiesen, da diese Norm primär spätere unverschuldete Verschlechterungen der finanziellen Verhältnisse betreffe, nicht aber eine bereits bei Bussenverhängung bestehende Mittellosigkeit (E. 8.7).

5. Ergebnis

Nach Ansicht des Bundesgerichts ist die Verurteilung der Beschwerdeführerin unverhältnismässig, da die erforderlichen vorherigen administrativen Massnahmen bzw. ausreichenden Warnungen nicht nachweislich erfolgt sind. Da dieser Mangel im Nachhinein nicht geheilt werden kann, muss die Verurteilung aufgehoben und die Beschwerdeführerin freigesprochen werden (E. 9).

6. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Das Betteln fällt unter den Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK).
  • Ein räumlich begrenztes Verbot des passiven Bettelns kann unter bestimmten Umständen ein legitimes Ziel verfolgen (Schutz Dritter, z.B. vor Belästigung oder Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls).
  • Eine strafrechtliche Sanktion (Busse, umwandelbar in Haft) für passives Betteln bei mittellosen und besonders schutzbedürftigen Personen stellt einen schweren Eingriff dar und ist nur als ultima ratio verhältnismässig.
  • Die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion für passives Betteln setzt voraus, dass zuvor administrative Massnahmen (wie dokumentierte Wegweisung durch die Polizei) und förmliche Warnungen in einer für den Betroffenen verständlichen Sprache (einschliesslich des Hinweises auf die Strafbarkeit, die spezifische Verbotszone und das Risiko der Umwandlung einer Busse in Haft) ergriffen wurden und erfolglos blieben.
  • Im vorliegenden Fall waren die polizeilichen Interventionen/Warnungen im Vorfeld der Bussenverhängungen unzureichend und entsprachen nicht den Anforderungen an eine verhältnismässige Handhabung bei passiven Bettlern.
  • Die fehlenden oder unzureichenden vorherigen Massnahmen führen zur Unverhältnismässigkeit der strafrechtlichen Verurteilung und zum Freispruch.
  • Die Norm des Genfer Strafgesetzes (Art. 11A LPG/GE) ist in Bezug auf die "unmittelbare Umgebung" interpretierbar, aber die konkrete Anwendung durch die Vorinstanz basierte teilweise auf zu unbestimmten Sachverhaltsfeststellungen.

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, reformierte das Urteil der Vorinstanz im Sinne eines Freispruchs und wies die Sache zur Neuregelung der kantonalen Kosten und Parteientschädigung zurück.