Absolut. Hier ist die detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts 6B_817/2024 vom 8. Mai 2025:
Urteil des Bundesgerichts 6B_817/2024 vom 8. Mai 2025
1. Einleitung
Das Urteil des Bundesgerichts (erste strafrechtliche Abteilung) befasst sich mit einem strafrechtlichen Fall, in dem die Beschwerdeführerin, A.__, wegen Gehilfenschaft zum Betrug verurteilt wurde. Sie erhob Beschwerde gegen das Urteil der Chambre pénale d'appel et de révision der Cour de justice des Kantons Genf vom 20. August 2024, mit dem ihre Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des Tribunal correctionnel vom 25. Mai 2022 abgewiesen wurde. Die zentralen Rügen der Beschwerdeführerin betrafen die Verletzung des Anklageprinzips, der Begründungspflicht, der Unschuldsvermutung und des Willkürverbots bei der Sachverhaltsfeststellung sowie der rechtlichen Qualifikation als Gehilfenschaft zum Betrug.
2. Sachverhalt
Dem Urteil liegt ein komplexer Sachverhalt zugrunde, der sich in der Apotheke O._ ereignete. Der Inhaber und verantwortliche Apotheker, B._, hatte zusammen mit Mitarbeitenden ein betrügerisches System zulasten von Krankenversicherungen etabliert. Dieses System bestand im Wesentlichen darin, dass den Versicherten verschriebene Medikamente ganz oder teilweise nicht abgegeben wurden. An deren Stelle erhielten die Kunden Kosmetika, Para-Pharmazeutika, andere nicht-kassenpflichtige Medikamente oder gar die Übernahme ihres Selbstbehalts bzw. ihrer Franchise. Alternativ wurde den Kunden ein Guthaben bei der Apotheke gewährt. Die Krankenversicherungen wurden jedoch für die vollen Kosten der ursprünglich verschriebenen Medikamente und die damit verbundenen pharmazeutischen Leistungen fakturiert.
Das System funktionierte unterschiedlich je nach Abrechnungssystem der Versicherung (tiers garant oder tiers payant/soldant). Im Tiers-Garant-System erhielten Kunden Tickets über die Gesamtkosten, auch für nicht erhaltene Medikamente, die sie dann bei ihren Versicherungen zur Rückerstattung einreichten. Im Tiers-Payant/Soldant-System fakturierte die Apotheke über den administrativen Vermittler OFAC die Leistungen direkt den Kassen, wobei auch hier nicht oder nur teilweise abgegebene Medikamente aufgeführt waren.
Die Beschwerdeführerin war als Assistenz in der Apotheke O._ vom November 2014 bis September 2016 angestellt und war Teil dieses Systems, das von ihren Vorgesetzten (B._ und C.__) eingerichtet wurde und an dem auch andere Assistenzkräfte beteiligt waren. Der Schaden für die Versicherungen konnte nicht genau beziffert werden, wurde aber für den relevanten Zeitraum (2006 bis April 2016) auf rund 2.5 Millionen CHF geschätzt.
3. Rügen der Beschwerdeführerin und rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht
Die Beschwerdeführerin focht ihre Verurteilung als Gehilfin zum Betrug an und begründete dies im Wesentlichen mit folgenden Punkten:
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Verletzung des Anklageprinzips (Art. 9, Art. 325 Abs. 1 StPO): Die Beschwerdeführerin machte geltend, die Anklageschrift sei ungenügend, da sie die ihr vorgeworfenen Handlungen nicht präzise genug beschreibe. Sie enthalte keine Details zu einzelnen Betrugshandlungen, Rechnungen oder Dokumenten mit ihrer Unterschrift.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die Auffassung der Vorinstanz, dass die Anklageschrift den Anforderungen von Art. 325 StPO genügt. Sie beschreibe das System, die Vorgehensweise, die Beteiligten (einschliesslich der Beschwerdeführerin namentlich), die geschädigten Kassen und den wahrscheinlichen Schaden ausreichend präzise. Eine detaillierte Auflistung jeder einzelnen Betrugshandlung sei angesichts der Vielzahl der Transaktionen, der Dauer des Deliktszeitraums und der teilweisen fehlenden Datensicherung materiell nicht praktikabel und mit dem Gebot der gebotenen Kürze der Anklageschrift (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO) kaum vereinbar. Die Nennung spezifischer Beweismittel (wie unterschriebene Dokumente) sei nicht Teil der Anklage, sondern der Beweisführung. Die Beschwerdeführerin habe zudem bestätigt, den Inhalt der Vorwürfe verstanden zu haben. Die Rüge wurde abgewiesen.
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Verletzung der Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 § 1 EMRK, Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO): Die Beschwerdeführerin rügte, das Urteil sei ungenügend begründet, insbesondere hinsichtlich ihrer konkreten Beteiligung und der Art ihrer Unterstützungshandlung.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht befand die Begründung der Vorinstanz als ausreichend. Die Vorinstanz habe klar dargelegt, worin der von B._ begangene Betrug bestand, wer davon profitierte (B._ und Kunden) und wer geschädigt wurde (Krankenkassen). Sie habe auch die Rolle der Beschwerdeführerin beschrieben, nämlich dass diese das System der "dépannages" angewendet, die Zusendung von Rezepten/Rechnungen an die OFAC übernommen und Kunden bedient habe, die von dieser Praxis profitierten. Dass die Unterstützung materieller Natur war und durch die Übermittlung falscher Informationen (indirekt über OFAC) erfolgte, ergebe sich aus der Beschreibung des Sachverhalts selbst und bedurfte keiner gesonderten Erwähnung. Die Beschwerdeführerin sei in der Lage gewesen, das Urteil und die Gründe dafür zu verstehen und anzufechten, was ihr detailliertes Rechtsmittel zeige. Die Rüge wurde abgewiesen.
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Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Willkür, Art. 9 BV, Unschuldsvermutung, Art. 6 § 1/2 EMRK, Art. 14 § 2 UNO-Pakt II, in dubio pro reo): Die Beschwerdeführerin bestritt, am System der "dépannages" teilgenommen zu haben, insbesondere Rechnungen an die OFAC gesendet oder Tickets mit ihren Initialen für "H" oder "sous-total" ausgestellt zu haben. Sie rügte Willkür bei der Feststellung ihrer Beteiligung und ihrer Kenntnis der Illegalität.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wies die Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung zurück. Die Vorinstanz stützte die Beteiligung der Beschwerdeführerin auf die übereinstimmenden Aussagen ihrer Kollegen (die angaben, dass alle Angestellten ausser einer an der Praxis beteiligt waren), auf die Anwesenheit ihrer Initialen auf zwei "sous-total"-Tickets und einem "H"-Ticket sowie auf ihre eigenen anfänglichen Aussagen. Dass die Beschwerdeführerin die "sous-total"-Tickets ausstellte, werde von ihr im Rechtsmittel nicht substanziiert bestritten. Die Anwesenheit ihrer Initialen auf einem "H"-Ticket, das laut Sachverhalt nicht von Assistenten ausgestellt werden sollte, sei zwar erklärungsbedürftig, aber im Lichte der anderen belastenden Elemente nicht ausschlaggebend. Die Behauptung, nie Dokumente an die OFAC gesendet zu haben, sei angesichts ihrer Anstellungsdauer (fast 2 Jahre) und ihrer Rolle in der Apotheke kaum glaubhaft. Insgesamt konnte die Vorinstanz ohne Willkür feststellen, dass die Beschwerdeführerin am System teilnahm, basierend auf der Gesamtheit der Beweise.
- Hinsichtlich der subjektiven Tatseite (Kenntnis der Illegalität/Vorsatz) stützte sich die Vorinstanz auf die ersten detaillierten Aussagen der Beschwerdeführerin bei der Polizei, in denen sie sich "tout à fait consciente de l'illégalité" der Praxis zeigte. Ihre späteren, widersprüchlichen und entlastenden Aussagen (sie habe nur "Ungewöhnlichkeit" gemeint, nicht an Betrug gedacht, ihrem Chef vertraut) wertete die Vorinstanz als unglaubwürdig und auf die Prozessbedürfnisse ausgerichtet. Das Bundesgericht bestätigte diese Beweiswürdigung als nicht willkürlich. Die anfänglichen Aussagen der Beschwerdeführerin stimmten mit denen anderer Mitarbeitenden überein, und die vom Chef B.__ behauptete Bestätigung, die Angelegenheit mit den Kassen zu regeln, wurde von diesem nie bestätigt. Die Widersprüche in den Aussagen der Beschwerdeführerin beeinträchtigten ihre Glaubwürdigkeit. Es sei nicht willkürlich, sich auf die ersten Erklärungen zu stützen.
- Das Bundesgericht wies auch die Rüge der Verletzung der Unschuldsvermutung (in dubio pro reo) zurück, da diese im Rahmen der Beweiswürdigung keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung habe.
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Rechtliche Qualifikation als Gehilfenschaft zum Betrug (Art. 25 i.V.m. Art. 146 StGB): Die Beschwerdeführerin bestritt, eine kausale Beteiligung am Hauptdelikt gehabt zu haben, da der Betrug auch ohne sie stattgefunden hätte. Sie bestritt auch den subjektiven Tatbestand, insbesondere den Vorsatz, an einem Betrug teilzunehmen.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hielt fest, dass für die Gehilfenschaft keine conditio sine qua non im Sinne einer unverzichtbaren Bedingung erforderlich sei. Es genüge, dass die Hilfeleistung die Ausführung der Haupttat gefördert habe. Die Beteiligung der Beschwerdeführerin am System förderte die Betrugstaten. Hinsichtlich des subjektiven Tatbestands (Vorsatz) stellte das Bundesgericht fest, dass die nicht willkürliche Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz ergab, dass die Beschwerdeführerin wusste, an einem illegalen System mitzuwirken. Es sei irrelevant, ob sie den spezifischen juristischen Begriff "Betrug" kannte. Es genüge, dass sie die Hauptzüge der strafbaren Handlung des Täters kannte und diese Handlung unterstützte, selbst wenn sie das Ergebnis (den Schaden der Kassen) nicht wollte, aber in Kauf nahm (Eventualvorsatz). Das Argument, sie sei jung gewesen und habe ihren Vorgesetzten gehorcht, sei ein Strafzumessungsgesichtspunkt (Art. 48 lit. a Ziff. 4 StGB), der aber nicht von der Schuld befreie.
- Das Bundesgericht bestätigte somit die rechtliche Würdigung der Vorinstanz, wonach die Voraussetzungen der Gehilfenschaft zum Betrug erfüllt waren.
4. Weitere Punkte
Die Beschwerdeführerin griff die Höhe der auferlegten Strafe und die Verlegung der kantonalen Verfahrenskosten (abgesehen von ihren Entschädigungsansprüchen) nicht an. Diese Punkte waren somit nicht Gegenstand der Prüfung durch das Bundesgericht.
Die beantragte Beweiserhebung vor Bundesgericht wurde als unzulässig erachtet, da das Bundesgericht im Kassationsverfahren grundsätzlich an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden ist (Art. 105 Abs. 1 LTF).
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde mangels Erfolgsaussichten der Beschwerde abgewiesen. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt, deren Höhe unter Berücksichtigung ihrer finanziellen Verhältnisse festgelegt wurde.
5. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Das Bundesgericht hat die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Gehilfenschaft zum Betrug bestätigt.
- Die Rüge der Verletzung des Anklageprinzips wurde abgewiesen, da die Anklageschrift das betrügerische System und die Rolle der Beschwerdeführerin hinreichend umschrieb, ohne jeden einzelnen Akt detaillieren zu müssen.
- Die Rüge der Verletzung der Begründungspflicht wurde abgewiesen, da die Vorinstanz das Delikt und die Beteiligung der Beschwerdeführerin klar dargelegt hatte.
- Die Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung der Vorinstanz zur Beteiligung der Beschwerdeführerin am System der "dépannages" sowie zu ihrer Kenntnis der Illegalität wurden als nicht willkürlich erachtet, insbesondere gestützt auf die anfänglichen Aussagen der Beschwerdeführerin und übereinstimmende Zeugenaussagen.
- Die rechtliche Qualifikation als Gehilfenschaft zum Betrug wurde bestätigt. Es genügt, dass die Hilfeleistung die Haupttat förderte (Kausalität), und ein Eventualvorsatz (Wissen um und Inkaufnahme der Beteiligung an einer illegalen Praxis, die die Merkmale des Betrugs aufweist) ist für die subjektive Tatseite ausreichend.
6. Endresultat
Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Die Kosten des Verfahrens vor Bundesgericht wurden der Beschwerdeführerin auferlegt.
Dieses Urteil unterstreicht die Anforderungen an Anklageschriften bei komplexen Wirtschaftsstrafsachen, die nicht für jeden Einzelfall eine minutiöse Beschreibung verlangen, sofern das System und die Beteiligung klar sind. Es bekräftigt auch die Grundsätze der Gehilfenschaft, wonach eine Förderungshandlung ausreicht und der Eventualvorsatz bezüglich der Haupttat genügt, selbst wenn der genaue juristische Begriff nicht bekannt ist. Schliesslich verdeutlicht es die Grenzen der Sachverhaltsprüfung durch das Bundesgericht und die Bedeutung der Glaubwürdigkeitsprüfung von Aussagen durch die kantonalen Gerichte.