Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_182/2024 vom 14. Mai 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_182/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts:

Rubrum: Schweizerisches Bundesgericht Tribunal fédéral Tribunale federale Tribunal federal

9C_182/2024 Urteil vom 14. Mai 2025 III. Öffentlich-rechtliche Abteilung

Parteien: Beschwerdeführerin (Recourante): A.A.__ Beschwerdegegnerin (Intimée): Administration cantonale des impôts du canton de Vaud (Kantonale Steuerverwaltung Waadt)

Gegenstand: Kantonale und Gemeindesteuer, Steuerperioden 2009 bis 2017, Revision. Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Waadt vom 16. Februar 2024.

Sachverhalt: Die Eheleute B.A._ und A.A._, mit Wohnsitz in Genf, waren in den Steuerperioden 2009 bis 2017 im Kanton Waadt beschränkt steuerpflichtig aufgrund des Eigentums an dort gelegenen Grundstücken. B.A._ gewährte in den Jahren 2009 bis 2011 Darlehen an C._ in erheblicher Höhe (3,2 Mio. USD, 1,7 Mio. EUR, 4,2 Mio. CHF). Diese Darlehensforderungen wurden in den waadtländischen Steuererklärungen für die Jahre 2009 bis 2017 deklariert, anfänglich vollumfänglich, später jedoch mit Abschreibungen (50% in 2014, 25% in 2015). In den Jahren 2016 und 2017 wurden die Forderungen nur noch mit einem symbolischen Franken angegeben. Die Steuerbehörde veranlagte die Eheleute in den Steuerperioden 2009 bis 2017 basierend auf dem Nominalwert der Darlehensforderungen und akzeptierte die ab 2014 vorgenommenen Reduktionen nicht. Im Veranlagungsentscheid für 2009 war zusätzlich ein Geschäftsertrag aus einem Grundstückverkauf enthalten. Diese Veranlagungsentscheide erwuchsen in Rechtskraft. B.A._ verstarb im Februar 2018. Im August 2020 stellten A.A._ und die Erbengemeinschaft ein Revisionsgesuch für die Steuerperioden 2009 bis 2017. Sie begründeten dies mit dem nun vorliegenden Beweis für die Uneinbringlichkeit der Darlehensforderungen und dem Gesundheitszustand von B.A.__, der ihm die ordentliche Geschäftsführung verunmöglicht habe. Das Revisionsgesuch wurde von der Steuerbehörde im September 2020 abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Einsprache wurde von der kantonalen Steuerverwaltung im März 2023 abgewiesen.

Vorinstanz: Das Kantonsgericht Waadt wies die Beschwerde gegen die Einspracheentscheidung ab und bestätigte die Ablehnung des Revisionsgesuchs. Es befand, dass die Voraussetzungen für eine Steuerrevision nicht erfüllt seien.

Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts (Auswahl der massgebenden Punkte):

  1. Zulässigkeit der Beschwerde: Das Bundesgericht prüft die formelle Zulässigkeit der Beschwerde. Obwohl die Beschwerdeführerin fälschlicherweise eine "recours de droit administratif et public" einreichte, wurde dies als Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten behandelt, da die Voraussetzungen (Art. 82 lit. a, 86 Abs. 1 lit. d/Abs. 2, 90, 100 Abs. 1 LTF) erfüllt waren und keine Ausnahmegründe nach Art. 83 LTF vorlagen. Die gestellten Anträge (Aufhebung des kantonalen Urteils und Rückweisung) wurden im Lichte der Begründung so ausgelegt, dass letztlich die Gutheissung des Revisionsgesuchs beantragt wird (Reformbegehren gemäss Art. 107 Abs. 2 LTF). Anträge, die sich gegen frühere Entscheide richten (hier: Einspracheentscheid), sind wegen der kassatorischen Wirkung der kantonalen Beschwerde (voller Devolutiveffekt) unzulässig. Der Eventualantrag auf Feststellung der Nichtigkeit wurde als grundsätzlich zulässig erachtet.

  2. Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 LTF). Bei der Verletzung von Grundrechten oder kantonalem Recht prüft es jedoch nur gerügte und substantiierte Rügen (Art. 106 Abs. 2 LTF). Die Konformität des harmonisierten kantonalen Steuerrechts (LI Waadt) mit dem Steuerharmonisierungsgesetz (LHID) wird grundsätzlich frei geprüft, ausser bei kantonalen Ermessensspielräumen, wo die Rüge obskonstitutioneller Verletzungen gemäss Art. 106 Abs. 2 LTF erfolgen muss. Der Sachverhalt wird grundsätzlich basierend auf den Feststellungen der Vorinstanz übernommen (Art. 105 Abs. 1 LTF), es sei denn, er wurde willkürlich oder unter Verletzung von Recht festgestellt und die Berichtigung ist entscheidrelevant (Art. 97 Abs. 1 LTF).

  3. Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des rechtlichen Gehörs: Die Beschwerdeführerin rügte, das Kantonsgericht habe ihre persönliche Situation und die ihres Ehemanns (Urteilsunfähigkeit, Unkenntnis der Geschäfte) nicht berücksichtigt, was willkürlich sei und das rechtliche Gehör verletze. Das Bundesgericht stellte klar, dass diese Rüge keine willkürliche Sachverhaltsfeststellung betrifft, sondern die Frage, ob die persönliche Situation einen Revisionsgrund darstellt. Dies ist eine Rechtsfrage, die im Rahmen der Prüfung der Revisionsvoraussetzungen zu behandeln ist, und keine Frage der Beweiswürdigung oder des rechtlichen Gehörs bezüglich der Tatsachen. Diese Rügen wurden daher abgewiesen.

  4. Rüge der Nichtigkeit der Veranlagungsentscheide: Die Beschwerdeführerin machte geltend, die Veranlagungsentscheide seien nichtig, weil sie erlassen und zugestellt wurden, als ihr Ehemann bereits urteilsunfähig war und kein Beistand bestellt war. Das Bundesgericht prüfte diese Rüge anhand der Grundsätze der Nichtigkeit (nur schwerwiegendste, offensichtliche Mängel, die die Rechtssicherheit nicht übermässig gefährden). Es verwies auf die gesetzliche Regelung der gegenseitigen Vertretung unter Ehegatten im Steuerverfahren (Art. 40 LHID, Art. 113 LIFD, Art. 160 LI Waadt). Diese Bestimmungen sehen vor, dass Mitteilungen an verheiratete, in gemeinsamer Haushaltung lebende Personen gemeinsam zu richten sind (Art. 160 Abs. 4 LI Waadt). Gemäss konstanter Rechtsprechung und Lehre steht diese Bestimmung der Zustellung eines einzigen Veranlagungsentscheids an die Ehegatten nicht entgegen. Eine Veranlagungsverfügung wird gültig zugestellt, selbst wenn einer der Ehegatten urteilsunfähig ist, sofern sie dem anderen Ehegatten zugestellt wird. Die Beschwerdeführerin lebte in gemeinsamer Haushaltung mit ihrem Ehemann und war somit empfangsberechtigt und vertretungsbefugt. Das Fehlen der Urteilsfähigkeit des Ehemanns macht die an sie gerichteten (gemeinsamen) Veranlagungsentscheide daher nicht nichtig. Die Rüge wurde abgewiesen.

  5. Rüge, die Veranlagungen 2016/2017 seien nicht rechtskräftig: Die Beschwerdeführerin behauptete, die Veranlagungen für 2016 und 2017 seien nicht rechtskräftig geworden, weil der Kanton Waadt auf die Veranlagung durch den Wohnsitzkanton (Genf) hätte warten müssen, was bisher nicht erfolgt sei. Das Bundesgericht wies diese Rüge als offensichtlich unbegründet ab. Es hielt fest, dass in interkantonalen Steuerverhältnissen jeder Kanton berechtigt ist, seine eigene Veranlagung vorzunehmen, ohne auf den Entscheid des Hauptwohnsitzkantons warten zu müssen (Verweis auf ATF 150 II 73 E. 5.2.1).

  6. Prüfung der Revisionsvoraussetzungen (Art. 51 LHID / Art. 203 LI Waadt): Dies war der Kern des Streits.

    • Das Bundesgericht zitierte die massgebenden Bestimmungen: Eine rechtskräftige Entscheidung kann zugunsten des Steuerpflichtigen revidiert werden, wenn wichtige Tatsachen oder schlüssige Beweismittel entdeckt werden (Art. 203 Abs. 1 lit. a LI Waadt / Art. 51 Abs. 1 lit. a LHID).
    • Es hob hervor, dass wichtige Tatsachen solche sind, die bereits im Zeitpunkt des Erlasses der Veranlagungsverfügung bestanden, aber dem Steuerpflichtigen erst nachträglich bekannt geworden sind.
    • Zentral ist der Ausschlussgrund (Art. 203 Abs. 2 LI Waadt / Art. 51 Abs. 2 LHID): Die Revision ist ausgeschlossen, wenn der Antragsteller Gründe geltend macht, die er im ordentlichen Verfahren bei gebührender Sorgfalt hätte vorbringen können.
    • Das Bundesgericht bestätigte die Auffassung des Kantonsgerichts, dass die Beschwerdeführerin keine wichtigen Tatsachen oder schlüssigen Beweismittel im Sinne der Revisionsbestimmungen beigebracht habe. Das Schreiben von C.__ vom Mai 2020, in dem dieser die Rückzahlung der Darlehen bestritt, stellte keine neue Tatsache dar, die bereits zur Zeit der ursprünglichen Veranlagung (2009-2017) bestand. Es war vielmehr der Ausdruck einer neuen Bestreitung der Schuld nach Erlass der Veranlagungen.
    • Bezüglich der persönlichen Situation (Gesundheitszustand des Ehemanns, Unkenntnis der Ehefrau) bestätigte das Bundesgericht ebenfalls die Vorinstanz. Diese Umstände stellen keinen Revisionsgrund dar. Gestützt auf die gegenseitige Vertretung der Ehegatten hätte die Beschwerdeführerin im ordentlichen Verfahren (innerhalb der Einsprache- oder Beschwerdefrist) gegen die Veranlagungen vorgehen können. Sie war als Ehefrau befugt und verpflichtet, die Steuererklärung mit zu unterzeichnen und die Interessen der Ehegemeinschaft zu wahren. Die Urteilsunfähigkeit des Ehemanns entband sie nicht von dieser Pflicht oder der Möglichkeit, selbst oder durch Beizug eines Dritten zu handeln.
    • Das Gericht führte zusätzlich an, dass die Steuerpflichtigen ab 2014 die Darlehensforderungen bereits mit Abschreibungen deklarierten und 2016/2017 sogar nur noch symbolisch angaben. Dies widerspricht der Behauptung, sie seien nicht in der Lage gewesen, ihre Argumente im ordentlichen Verfahren vorzubringen und die Veranlagungen anzufechten. Es zeigt vielmehr, dass ihnen die Problematik der Darlehen bekannt war und sie versuchten, diese steuerlich zu berücksichtigen – jedoch nicht auf dem korrekten Weg innerhalb der Fristen für die ordentlichen Rechtsmittel.
  7. Gegenstand der Revision: Das Bundesgericht stellte klar, dass im Revisionsverfahren ausschliesslich die Voraussetzungen für die Revision (Entdeckung neuer Tatsachen/Beweismittel, die bei gebührender Sorgfalt nicht im ordentlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können) geprüft werden. Fragen, die den materiellen Inhalt der ursprünglichen, rechtskräftig gewordenen Veranlagung betreffen (wie hier der im Jahr 2009 berücksichtigte Geschäftsertrag), sind nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens. Diese hätten mit den ordentlichen Rechtsmitteln (Einsprache, Beschwerde) angefochten werden müssen.

Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Voraussetzungen für eine Revision der Steuerveranlagungen für die Perioden 2009 bis 2017 nicht erfüllt seien. Das Kantonsgericht hat die Revisionsgründe zutreffend beurteilt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Ein Revisionsgesuch setzt die Entdeckung wichtiger Tatsachen oder schlüssiger Beweismittel voraus, die bereits zum Zeitpunkt der ursprünglichen Veranlagung bestanden, aber trotz gebührender Sorgfalt nicht geltend gemacht werden konnten.
  • Die nachträgliche Erklärung des Schuldners, die Forderung nicht anzuerkennen, ist keine neue Tatsache, die zur Zeit der Veranlagung bestand, sondern Ausdruck einer nachträglichen Bestreitung.
  • Die Urteilsunfähigkeit eines Ehegatten stellt für sich allein keinen Revisionsgrund dar, da der andere Ehegatte aufgrund der gesetzlichen gegenseitigen Vertretung befugt und verpflichtet ist, im Steuerverfahren zu handeln und Rechtsmittel zu ergreifen.
  • Steuerveranlagungen an Ehegatten, die in gemeinsamer Haushaltung leben, sind auch dann nicht nichtig, wenn ein Ehegatte urteilsunfähig ist, sofern die Zustellung an den anderen Ehegatten erfolgte.
  • Jeder Kanton ist in interkantonalen Verhältnissen zur selbständigen Veranlagung berechtigt und muss nicht auf die Veranlagung des Wohnsitzkantons warten.
  • Das Revisionsverfahren dient nicht dazu, den materiellen Inhalt einer rechtskräftigen Veranlagung erneut zu prüfen, sondern nur, ob die formellen Revisionsvoraussetzungen erfüllt sind.

Das Bundesgericht wies die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ab.