Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_160/2024 vom 22. April 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts 4A_160/2024 vom 22. April 2025:

Gericht: Bundesgericht (Tribunal fédéral) Datum des Urteils: 22. April 2025 Aktenzeichen: 4A_160/2024 Parteien: * Beschwerdeführerin (Beklagte): A._ SA (Ususfruktuarin und Vermieterin) * Beschwerdegegnerinnen (Klägerinnen): B._ und C.__ (Mieterinnen) Gegenstand: Mietrecht; ausserordentliche Kündigung (aus wichtigen Gründen) Vorinstanz: Chambre des baux et loyers de la Cour de justice du canton de Genève (Genfer Kantonsgericht, Kammer für Miete und Pacht)

1. Sachverhalt (massgebende Punkte):

  • Das Mietobjekt ist ein Gebäude in Genf, das ursprünglich dem Vater der Beschwerdegegnerinnen gehörte. Nach dessen Tod ging es an seine Erbengemeinschaft über, zu der auch die Beschwerdegegnerinnen gehörten.
  • Die Beschwerdegegnerinnen bewohnten seit längerem die 8. Etage des Gebäudes.
  • Am 23. März 2005 schloss die Erbengemeinschaft zwei Mietverträge mit den Beschwerdegegnerinnen ab: einen mit C._ über zwei Wohnungen (3,5 und 2 Zimmer) und einen mit B._ (und ihrem verstorbenen Ehemann) über eine 6-Zimmer-Wohnung.
  • Beide Verträge begannen am 1. Januar 2005. Der Mietzins war mit 600 CHF/Monat (C._) bzw. 965 CHF/Monat (B._) sehr niedrig.
  • Beide Mietverträge hatten eine lebenslange Dauer ("à vie", bis zum Tod der Mieterinnen) und konnten ins Grundbuch eingetragen werden, wovon die Mieterinnen am 25. Mai 2005 Gebrauch machten.
  • Die Erbengemeinschaft verkaufte das Gebäude am 6. Oktober 2005 im Rahmen eines Terminverkaufsvertrags an G.__ für 7'800'000 CHF. Dem Verkauf war ein Mietertrag (état locatif) beigefügt, der die niedrigen Mieten der Beschwerdegegnerinnen aufführte.
  • Entscheidend für den Verkaufspreis: Die niedrigen Mieten der Beschwerdegegnerinnen wurden beim Verkaufspreis berücksichtigt und zu einem Kapitalisierungssatz von 7,5 % abgezogen. Dies bedeutet, dass der Käufer (G.__) einen reduzierten Preis zahlte, da er die niedrigen Mieteinnahmen und die lebenslange Vertragsdauer akzeptierte.
  • Am 17. Februar 2006 wurde das Genfer Gesetz über Bauten und diverse Anlagen (LCI) geändert (Art. 11 Abs. 4 LCI), was unter bestimmten Bedingungen eine Anhebung/Überbauung des Gebäudes erlaubte – eine Möglichkeit, die zum Zeitpunkt des Mietvertragsabschlusses 2005 noch nicht oder nur eingeschränkt bestand.
  • Am 27. Januar 2017 wurde die Beschwerdeführerin (A._ SA) Ususfruktuarin und damit Vermieterin. G._ blieb nackter Eigentümer.
  • Der nackte Eigentümer (G.__) plante eine Anhebung/Überbauung des Gebäudes zur Schaffung von 13 zusätzlichen Wohnungen sowie Sanierungsarbeiten. Ein Baugesuch wurde am 25. September 2017 eingereicht.
  • Die Anhebung erforderte den zumindest vorübergehenden Auszug der betroffenen Mieter. Der Eigentümer bot den Beschwerdegegnerinnen an, Ersatzwohnungen zu suchen und sämtliche Kosten zu tragen, und sie anschliessend zu denselben Vertragsbedingungen in den überbauten Stockwerken wieder einzuquartieren. Später wurde auch der definitive Umzug in eine andere Wohnung ihrer Wahl angeboten.
  • Die Baubewilligung wurde am 22. Mai 2019 erteilt. Die Behörde war über den Mieterschutz und die Zusicherung informiert, dass die Anhebung keine Mieterhöhung oder Vertragsänderung zur Folge haben würde.
  • Am 22. März 2021 kündigte die Beschwerdeführerin die Mietverträge der Beschwerdegegnerinnen per 30. Juni 2021. Begründung: Die Baubewilligung sei in Kraft. Die Arbeiten könnten nur bei leerstehenden Wohnungen erfolgen. Die Mieterinnen weigerten sich, temporär oder definitiv umzuziehen (trotz finanziell indifferenter Angebote). Die Fortsetzung der Mietverhältnisse sei "manifestement intolérable" (offensichtlich unzumutbar) geworden, daher Kündigung aus "justes motifs" (wichtige Gründe).
  • Die Mieterinnen (Beschwerdegegnerinnen) erinnerten an die lebenslangen Mietverträge und ihr hohes Alter (78 und 76 Jahre), das einen Auszug "moralisch unmöglich und traumatisierend" mache.

2. Prozessgeschichte (wesentlich für den Entscheid):

  • Die Mieterinnen fochten die Kündigungen vor der Schlichtungsbehörde und anschliessend vor dem Mietgericht (Tribunal des baux et loyers) an. Sie beantragten die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigungen, eventualiter deren Annullierung, subeventualiter eine Mietverlängerung.
  • Die Vermieterin (Beschwerdeführerin) beantragte die Feststellung der Gültigkeit und Wirksamkeit der Kündigungen sowie die Ausweisung der Mieterinnen.
  • Das Mietgericht erklärte die Kündigungen vom 22. März 2021 als unwirksam.
  • Das Kantonsgericht (Cour de justice) bestätigte dieses Urteil auf Berufung der Vermieterin am 12. Februar 2024. Es stützte seine Begründung auf die fehlende ausserordentliche Schwere der Umstände und die verspätete Kündigung, aber auch auf die Interessen der Mieterinnen und den historischen Kontext des Verkaufs.

3. Rechtsgrundlagen und rechtliche Argumentation des Bundesgerichts:

  • Art. 266g OR (Ausserordentliche Kündigung aus wichtigen Gründen): Eine Partei kann das Mietverhältnis jederzeit unter Einhaltung der gesetzlichen Frist kündigen, wenn für sie aus wichtigen Gründen die Erfüllung des Vertrags unzumutbar wird. Das Gericht regelt die finanziellen Folgen der vorzeitigen Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände (Abs. 2).
  • Begriff der "wichtigen Gründe": Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung müssen die Umstände so schwerwiegend sein, dass die Fortsetzung des Mietvertrags bis zum vereinbarten Ende (hier: Tod der Mieterinnen) objektiv und subjektiv unerträglich ("intolérable", "unzumutbar") wird (E. 5.1).
    • Die Umstände müssen bei Vertragsabschluss unbekannt und unvorhersehbar gewesen sein.
    • Sie dürfen nicht auf einem Verschulden der kündigenden Partei beruhen.
    • Die kündigende Partei muss unverzüglich nach Eintritt des wichtigen Grundes kündigen; andernfalls zeigt sie, dass die Fortsetzung des Vertrags nicht unzumutbar ist (E. 5.1).
  • Anwendung des richterlichen Ermessens (Art. 4 ZGB): Der Richter muss bei der Beurteilung, ob wichtige Gründe vorliegen, alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, einschliesslich der Interessen der Gegenpartei und des Prinzips der Rechtssicherheit (E. 5.1).
  • Überprüfung von Ermessensentscheiden durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht überprüft Ermessensentscheide nur mit Zurückhaltung. Es greift nur ein, wenn die Vorinstanz ohne Grund von etablierten Regeln abgewichen ist, irrelevante Tatsachen berücksichtigt oder relevante ignoriert hat, oder wenn das Ergebnis offensichtlich ungerecht ist (E. 5.1).
  • Unwirksamkeit der Kündigung: Eine unwirksame Kündigung entfaltet keine rechtlichen Wirkungen (E. 5.2).
  • Keine neuen Tatsachen und Beweismittel vor Bundesgericht: Grundsätzlich unzulässig, es sei denn, sie ergeben sich aus dem Entscheid der Vorinstanz (Art. 99 Abs. 1 BGG). Ein nach Erlass des vorinstanzlichen Entscheids eingetretenes neues Faktum (wie eine weitere Verlängerung der Baubewilligung) rechtfertigt die Beschwerde nicht und kann nicht zur Änderung des Sachverhalts herangezogen werden (E. 3.3, E. 4.2). Auch willkürlich übergangene Tatsachen müssen entscheiderheblich sein (E. 3.2, E. 3.4).

4. Begründung des Gerichts im Detail:

  • Das Bundesgericht schliesst sich der Auffassung der Vorinstanz an, dass die Umstände, die das Überbauungsprojekt ermöglichen (insb. die Gesetzesänderung), bei Vertragsabschluss zwar unbekannt und unvorhersehbar waren und nicht auf einem Verschulden der Vermieterin beruhten (E. 5.3).
  • Ausschlaggebend ist jedoch die Schwere der Umstände: Das Bundesgericht bestätigt die vorinstanzliche Feststellung, dass die Umstände nicht von ausserordentlicher Schwere waren, um die Fortsetzung der Mietverträge als "unzumutbar" im Sinne von Art. 266g OR zu erachten (E. 5.3).
  • Verstoss gegen Unverzüglichkeitsgebot: Die Vermieterin kündigte erst im März 2021, fast zwei Jahre nach Erteilung der Baubewilligung (Mai 2019). Dieses Zuwarten zeigt, dass die Fortsetzung der Verträge für sie gerade nicht unzumutbar war, was das Vorliegen wichtiger Gründe widerlegt (E. 5.3).
  • Sanierungsarbeiten: Diese rechtfertigen per se keinen Auszug der Mieterinnen und machen die Fortsetzung der Verträge somit nicht objektiv unzumutbar. Sie allein stellen keine wichtigen Gründe dar (E. 5.3).
  • Angebotene Ersatzwohnungen: Die Tatsache, dass die Vermieterin finanziell indifferente Umzugslösungen anbot, ändert nichts an der fehlenden ausserordentlichen Schwere der Umstände selbst. Sie macht die Fortsetzung der Mietverhältnisse bis zum Vertragsende nicht unzumutbar (E. 5.3).
  • Berücksichtigung der Interessen der Mieterinnen und des Vertragskontexts: Das Bundesgericht betont, dass die Vorinstanz zu Recht das Interesse der Mieterinnen am Verbleib in den Wohnungen berücksichtigt hat. Die Mieterinnen hatten die lebenslange Dauer der Mietverträge spezifisch ausgehandelt, um bis zu ihrem Tod in den Wohnungen ihres verstorbenen Vaters bleiben zu können.
  • Zentrales Argument: Der reduzierte Kaufpreis: Ganz entscheidend ist für das Bundesgericht der im Sachverhalt unbestrittene Umstand, dass der Verkaufspreis des Gebäudes im Jahr 2005 reduziert wurde, um den Käufer für die Belastung durch die lebenslangen Mietverträge mit niedrigen Mieten zu entschädigen. Der Käufer (und damit auch die nachfolgende Ususfruktuarin) hat diese Einschränkung der Nutzung und Rentabilität des Gebäudes als Teil des Geschäfts akzeptiert (E. 5.4).
  • Angesichts dieses historischen Kontextes kann die Vermieterin nicht erfolgreich geltend machen, die Fortsetzung der Mietverhältnisse sei für sie nun "unzumutbar". Die Tatsache, dass die Mieterinnen "mehrere Jahrzehnte" leben könnten (wie von der Beschwerdeführerin ins Feld geführt), ist gerade Teil des vereinbarten Risikos, das sich im reduzierten Kaufpreis manifestierte (E. 5.4).
  • Die Beschwerdeführerin bringt diverse weitere Argumente vor (Grosse Wohnfläche, Wohnungsnot in Genf, Projektkosten, "neue Wohnungspolitik", "Klimanotstand", Notwendigkeit der Sanierung), die das Bundesgericht jedoch als nicht geeignet erachtet, die Ermessensentscheidung der Vorinstanz zu korrigieren. Keines dieser Argumente macht die Fortsetzung der Verträge im Lichte des gesamten Sachverhalts, insbesondere des Verkaufskontexts, "unzumutbar" (E. 5.4).
  • Das Bundesgericht findet weder Willkür in der Sachverhaltsfeststellung noch eine Verletzung von Art. 266g OR oder eine fehlerhafte Ausübung des richterlichen Ermessens durch die Vorinstanz (E. 5.4).

5. Querverweise auf ähnliche Entscheidungen (implizit durch Bezugnahme auf Judikatur):

  • Das Urteil bezieht sich auf die ständige Rechtsprechung zu Art. 266g OR und dem Begriff der "wichtigen Gründe", insbesondere die Anforderungen der Unvorhersehbarkeit, des fehlenden Verschuldens, der Unverzüglichkeit der Kündigung und der objektiven/subjektiven Unzumutbarkeit (E. 5.1, zitiert u.a. BGE 122 III 262).
  • Es verweist auch auf die Rechtsprechung zur Überprüfung von Ermessensentscheiden (Art. 4 ZGB) durch das Bundesgericht, die eine restriktive Praxis vorsieht (E. 5.1).
  • Weiter wird die Rechtsprechung zur Zulässigkeit neuer Tatsachen und Beweismittel im bundesgerichtlichen Verfahren (Art. 99 Abs. 1 BGG) zitiert (E. 3.3).

6. Schlussfolgerung des Gerichts:

Die ausserordentliche Kündigung der lebenslangen Mietverträge durch die Vermieterin aus wichtigen Gründen gemäss Art. 266g OR ist unwirksam. Die Umstände (insbesondere das Überbauungsprojekt), auch wenn sie nach Vertragsabschluss entstanden sind, erreichen im vorliegenden Fall nicht die Schwere, die eine Fortsetzung der Verträge bis zum Tod der Mieterinnen unzumutbar machen würde. Dies gilt insbesondere angesichts des Umstands, dass der niedrige Mietzins und die lebenslange Dauer der Verträge beim Verkauf des Gebäudes berücksichtigt und durch einen reduzierten Kaufpreis "abgegolten" wurden. Die verspätete Kündigung nach Erhalt der Baubewilligung bestätigt zudem, dass die Situation für die Vermieterin nicht unmittelbar unerträglich war.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigt die Unwirksamkeit der von der Vermieterin ausgesprochenen ausserordentlichen Kündigung der lebenslangen Mietverträge. Obwohl die Möglichkeit der Gebäudeüberbauung nach Vertragsabschluss entstand, stellen die damit verbundenen Umstände im konkreten Fall keine "wichtigen Gründe" im Sinne von Art. 266g OR dar, die die Fortsetzung der Verträge bis zum Tod der Mieterinnen unzumutbar machen. Ausschlaggebend sind dabei die verspätete Kündigung nach Erhalt der Baubewilligung, die fehlende ausserordentliche Schwere der Projektumstände (insb. da Sanierungsarbeiten allein keinen Auszug erfordern) und vor allem der historische Kontext des Gebäudeverkaufs, bei dem der Käufer (und damit die nachfolgende Vermieterin) durch einen reduzierten Preis die Belastung durch die lebenslangen Mietverträge akzeptierte. Das Bundesgericht schützt die vorinstanzliche Ermessensentscheidung und erachtet sie nicht als willkürlich oder rechtsfehlerhaft. Die Beschwerde der Vermieterin wird abgewiesen.