Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_419/2024 vom 26. Mai 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 8C_419/2024 vom 26. Mai 2025:

1. Einführung

Das Urteil des Bundesgerichts (8C_419/2024 vom 26. Mai 2025) befasst sich mit einem Fall aus der Unfallversicherung (UVG). Im Zentrum steht die Frage des Anspruchs auf Revision einer Invalidenrente aufgrund eines Nachfalls sowie die damit zusammenhängende Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und die Verteilung der Kosten einer gerichtlichen Expertise. Die Beschwerdeführerin ist die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), im Urteil als Caisse nationale suisse d'assurance en cas d'accidents (CNA) bezeichnet. Die Beschwerdegegnerin ist die versicherte Person A.__.

2. Sachverhalt

A.__ erlitt am 3. August 1988 einen Unfall mit komplexen Frakturen an linkem Femur und linkem Fussknöchel. Sie war damals als Telefonistin tätig und bei der SUVA versichert. Nach dem Unfall erhielt sie zunächst eine Integritätsentschädigung von 15%, aber keine Rente. Aufgrund der Unfallfolgen (Verkürzung des Femurs, Rotationsfehler) meldete sie wiederholt Nachfälle. Dies führte 1997 zur Zusprache einer halben Invalidenrente der UVG (50%) basierend auf einer Erwerbsunfähigkeit von 50%.

Im August 2016 meldete die Versicherte eine erneute Verschlechterung (Nachfall) mit Beschwerden im unteren Rücken und in der linken Hüfte. Sie war fortan vollständig arbeitsunfähig. Medizinische Abklärungen ergaben zwei Problembereiche: lumbal (Fehlstellung) und an der linken Hüfte (chronische Insuffizienz der Abduktoren aufgrund Sehnenrupturen). Die SUVA übernahm die Kosten für die Hüftoperation im Februar 2018, lehnte jedoch Leistungen für die Rückenbeschwerden ab.

Der SUVA-Kreisarzt Dr. H._ beurteilte den Zustand im September 2019 als stabilisiert. Er attestierte funktionelle Einschränkungen (Gehen, Stehen, Sitzen jeweils < 30 Minuten, kein Hocken/Knien, stark eingeschränktes Lastenheben, Sitzen nur 20 Minuten). Er hielt eine überwiegend sitzende Tätigkeit mit Positionswechsel für zumutbar, erwähnte aber, dass bereits geringe Belastung schwere Schmerzen verursache, die monatelange Arbeitsunfähigkeit bedingten. Die SUVA stellte per 1. Oktober 2019 die Heilbehandlung und Taggelder ein und lehnte mit Entscheid vom 21. November 2019 eine Erhöhung der Invalidenrente ab, da keine wesentliche Verschlechterung eingetreten sei. Die Einsprache wurde am 11. Dezember 2020 abgewiesen, basierend auf den Berichten von Dr. H._ und einer späteren Stellungnahme von Dr. I.__.

3. Kantonales Verfahren

Die Versicherte gelangte an die kantonale Versicherungsgericht (Chambre des assurances sociales de la Cour de Justice de la République et canton de Genève) und beantragte insbesondere eine Gerichtsexpertise. Sie legte weitere medizinische Berichte vor, die u.a. einen Zusammenhang zwischen der Hüftproblematik und den Rückenbeschwerden nahelegten. Das kantonale Gericht ordnete eine Gerichtsexpertise durch Prof. J.__ an. Basierend auf dessen Gutachten hiess das kantonale Gericht die Beschwerde teilweise gut und sprach der Versicherten ab dem 1. Oktober 2019 eine ganze Invalidenrente (100%) zu. Die Kosten der Gerichtsexpertise wurden der SUVA auferlegt.

4. Beschwerde ans Bundesgericht

Die SUVA erhob Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht. Sie beantragte die Aufhebung des kantonalen Urteils bezüglich des Rentenanspruchs (100% ab 1.10.2019) und der Kostenauferlegung für die Expertise. Sie beantragte primär die Bestätigung ihrer Einspracheentscheids (keine Rentenerhöhung) und subsidiär die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Einholung einer neuen Gerichtsexpertise.

5. Rechtliche Grundlagen und Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht prüfte den Anspruch auf eine höhere Invalidenrente gestützt auf die massgebenden Bestimmungen des UVG (Art. 6 UVG betreffend Leistungen bei Unfallfolgen/Nachfall) und des ATSG (Art. 17 Abs. 1 ATSG betreffend Rentenrevision). Es erinnerte an die Notwendigkeit eines natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsbeeinträchtigung (ATF 148 V 138 E. 5.1.1).

Für die Beurteilung der Invalidität ist die (verbleibende) Erwerbsfähigkeit relevant, welche anhand eines Invaliditätsgrades bemessen wird. Eine Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG ist nur möglich, wenn sich der Invaliditätsgrad, der für die Rentenfestsetzung massgebend war, infolge einer wesentlichen Änderung im Gesundheitszustand und/oder in den wirtschaftlichen Auswirkungen der Invalidität erheblich verändert hat (ATF 147 V 167 E. 4.1).

Das Bundesgericht legte dar, dass es bei der Beurteilung medizinischer Berichte grundsätzlich auf die Einschätzung der Ärzte abstellt, solange diese schlüssig und überzeugend sind (ATF 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a). Bezüglich des Beweiswerts einer gerichtlichen Expertise hob das Gericht hervor, dass der Richter grundsätzlich nicht ohne triftige Gründe von den Schlussfolgerungen eines medizinischen Gutachtens abweicht. Triftige Gründe können Widersprüche im Gutachten, überzeugende Ergebnisse einer Obergutachten oder gewichtige, ernsthafte Zweifel begründende Gegenmeinungen anderer Spezialisten sein (ATF 143 V 269 E. 6.2.3.2; 135 V 465 E. 4.4).

6. Beurteilung des Rentenanspruchs (Kern der Begründung)

Das Bundesgericht stützte sich massgeblich auf die gerichtliche Expertise von Prof. J.__.

  • Feststellungen des Experten: Der Experte stellte fest, dass die bei der Versicherten diagnostizierten Pathologien an der linken Hüfte (Tendinopathien, Hernie, Bursitis, Ossifikation, Abduktoreninsuffizienz mit Muskelrupturen) in kausalem Zusammenhang mit den verschiedenen Operationen im Hüftbereich einerseits und mit dem Hinken (Trendelenburg-Hinken) andererseits stünden, welches eine Überlastung dieser Muskeln verursache. Die aufeinanderfolgenden Eingriffe hätten seit 2016 zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands am linken Bein in Form von chronischen Schmerzen (Coxodynien) geführt, die im Vordergrund stünden. Diese Schmerzen verhinderten langes Sitzen/Stehen/Liegen (weniger als 30 Minuten), Hocken, schränkten Kraft und Beweglichkeit des linken Beins sowie die Gehdistanz (weniger als 20 Minuten) stark ein. Aufrechtes Sitzen sei aufgrund der Spannung in der Hüftregion unmöglich, was die Rückenschmerzen beeinflusse.
  • Kausalzusammenhang: Der Experte beurteilte die geschilderten Beschwerden und funktionellen Einschränkungen als konsistent mit den festgestellten anatomischen Läsionen, die durch das Trauma und die erlittenen Operationen erklärbar seien. Er bejahte damit den Kausalzusammenhang zwischen den verschlechterten Beschwerden und dem Unfall von 1988 bzw. dessen Folgen/Behandlungen.
  • Arbeitsfähigkeit: Auf die Frage der Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit (Teleoperatorin 50%) gab der Experte an, die Versicherte sei aufgrund der Coxodynien nicht mehr in der Lage, diese Tätigkeit auszuüben. Bezüglich einer angepassten Tätigkeit äusserte sich der Experte wie folgt: Zwar könnten die Einschränkungen mit einer sitzenden Tätigkeit kompatibel sein, aber die chronischen, schwer kontrollierbaren Schmerzen, die ein Wechseln der Position alle Viertelstunde erforderten, machten eine berufliche Tätigkeit unwahrscheinlich. Zudem könnten die eingenommenen Schmerzmittel (Morphine) Konzentrations- und Vigilanzstörungen verursachen, was die Erwerbsfähigkeit weiter einschränke.
  • Bundesgerichtliche Würdigung des Gutachtens: Das Bundesgericht befand, die gerichtliche Expertise erfülle die rechtsprechungsgemässen Anforderungen an ein beweiskräftiges Gutachten. Es gebe keine zwingenden Gründe, davon abzuweichen. Das Bundesgericht widersprach der SUVA-Argumentation, der Experte habe sich unzulässigerweise zur Frage der Existenz angepasster Stellen auf dem Arbeitsmarkt geäussert. Das Gericht stellte klar, dass es die Aufgabe des Mediziners sei, ein Urteil über den Gesundheitszustand zu fällen und insbesondere anzugeben, inwieweit dieser sich entwickelt hat und für welche Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist (ATF 140 V 193 E. 3.2). Die Aussage des Experten, dass die Arbeitsfähigkeit angesichts der Schwere der Schmerzen und der Notwendigkeit häufiger Positionswechsel nur noch marginal und damit unverwertbar sei, liege im Kompetenzbereich des Mediziners.
  • Beurteilung der SUVA-Ärzte: Das Bundesgericht wies auch den Vorwurf der SUVA zurück, das kantonale Gericht habe dem Bericht von Dr. I.__ vom März 2021 zu Unrecht keinen Beweiswert beigemessen. Dieser Bericht sei durch die spätere gerichtliche Expertise in allen relevanten Punkten (insbesondere Kausalzusammenhang der Hüftbeschwerden, Zusammenhang Hüfte/Rücken) überzeugend widerlegt worden. Die Einwände der SUVA gegen die Feststellungen des Experten seien unbegründet.
  • Schlussfolgerung zum Rentenanspruch: Gestützt auf die schlüssige und beweiskräftige gerichtliche Expertise gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass sich der Gesundheitszustand der Versicherten in unfallkausalem Zusammenhang verschlechtert habe. Da der Zustand per Ende September 2019 als stabilisiert beurteilt wurde und eine volle Arbeitsunfähigkeit vorlag, bestätigte das Bundesgericht den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente ab 1. Oktober 2019.

7. Beurteilung der Expertisekosten

Die SUVA beanstandete die Auferlegung der Kosten für die gerichtliche Expertise. Sie argumentierte, ihre Sachverhaltsabklärung sei ausreichend gewesen (Berichte Dr. H., Aktennotiz Dr. I.), und es hätten keine offensichtlichen Widersprüche bestanden, welche eine gerichtliche Expertise nötig gemacht hätten.

Das Bundesgericht erläuterte die Rechtsprechung zur Verteilung der Expertisekosten: Kosten können der Verwaltung auferlegt werden, wenn die behördliche Abklärung eindeutige Mängel oder unzureichenden Beweiswert aufwies, die eine gerichtliche Expertise zur Behebung dieser Mängel erforderlich machten. Es muss ein Zusammenhang zwischen den Mängeln der behördlichen Untersuchung und der Notwendigkeit der gerichtlichen Expertise bestehen. Wenn die Behörde hingegen ihrer Untersuchungspflicht nachgekommen ist und ihre Beurteilung auf schlüssige Gutachten stützte, sind die Kosten einer vom Gericht angeordneten Expertise grundsätzlich nicht der Verwaltung aufzuerlegen, auch wenn neue Berichte oder Privatgutachten vorgelegt werden (ATF 143 V 269 E. 3.3; 140 V 70 E. 6.1; 139 V 496 E. 4.4).

Das Bundesgericht bestätigte die Auffassung des kantonalen Gerichts, wonach die medizinischen Beurteilungen durch Dr. H._, auf die sich die SUVA stützte, eindeutige Mängel aufwiesen, die eine gerichtliche Expertise notwendig machten. Die Widersprüche und Inkonsistenzen in den Berichten von Dr. H._ wurden im Detail aufgeführt: Einerseits die Aussage, dass geringe Belastungen monatelange Arbeitsunfähigkeit verursachen könnten, andererseits die Schlussfolgerung, eine ähnliche Tätigkeit wie zuvor sei zumutbar. Des Weiteren die spätere, nicht durch andere Berichte gestützte Behauptung, die Einschränkungen seien auf eine nicht unfallkausale Dysplasie zurückzuführen. Aufgrund dieser Mängel hatten die behördlichen Beurteilungen keinen ausreichenden Beweiswert. Die spätere Aktennotiz von Dr. I.__ konnte diese Mängel nicht beheben.

Folglich hielt das Bundesgericht die Auferlegung der Kosten der gerichtlichen Expertise an die SUVA für rechtens.

8. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerde der SUVA ab. Es bestätigte das Urteil des kantonalen Gerichts, wonach der Versicherten ab dem 1. Oktober 2019 eine ganze Invalidenrente (100%) zusteht und die Kosten der gerichtlichen Expertise der SUVA aufzuerlegen sind. Die SUVA hat die Gerichtskosten zu tragen und der Versicherten eine Parteientschädigung zu leisten.

9. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Das Bundesgericht bestätigte den Anspruch der Versicherten auf eine ganze Invalidenrente (100%) ab 1. Oktober 2019.
  • Der Anspruch beruhte auf der Feststellung einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands (Nachfall) in unfallkausalem Zusammenhang, die zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit führte.
  • Die Beurteilung stützte sich massgeblich auf eine gerichtliche Expertise, die die Schwere der chronischen Schmerzen (Coxodynien) und die daraus resultierenden funktionellen Einschränkungen detailliert darlegte.
  • Das Bundesgericht bekräftigte, dass die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, insbesondere der Unverwertbarkeit einer Restarbeitsfähigkeit aufgrund der Art und Schwere der Einschränkungen (z.B. Notwendigkeit ständiger Positionswechsel), in den Kompetenzbereich des medizinischen Experten fällt.
  • Es wies die Einwände der SUVA gegen das gerichtliche Gutachten zurück und erachtete dieses als beweiskräftig und schlüssig.
  • Die Kosten der gerichtlichen Expertise wurden der SUVA auferlegt, da die behördlichen medizinischen Abklärungen Mängel aufwiesen und keinen ausreichenden Beweiswert für die Beurteilung des Falles hatten.