Gerne, hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des bereitgestellten Urteils des schweizerischen Bundesgerichts 9C_132/2022 und 9C_134/2022 vom 27. Mai 2025.
Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_132/2022 und 9C_134/2022 vom 27. Mai 2025
1. Einleitung und Streitgegenstand
Das Urteil des Bundesgerichts (BG) betrifft zwei Beschwerden gegen ein Urteil des Schiedsgerichts in Sozialversicherungsstreitigkeiten des Kantons Bern vom 18. Januar 2022. Parteien sind ein Facharzt für Allgemeine Innere Medizin (Beschwerdeführer in 9C_132/2022) und mehrere Krankenversicherer, vertreten durch santésuisse (Beschwerdeführerinnen in 9C_134/2022). Streitgegenstand ist eine Rückforderungsklage der Krankenversicherer gegen den Arzt gestützt auf Art. 59 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) wegen angeblich unwirtschaftlicher Behandlungsweise (sog. "Überarztung") in den Jahren 2017 und 2018.
Das kantonale Schiedsgericht hiess die Klagen der Versicherer teilweise gut und verpflichtete den Arzt zur Rückerstattung von Fr. 146'894.75 für 2017 und Fr. 139'417.20 für 2018. Beide Parteien fochten diesen Entscheid beim Bundesgericht an.
2. Relevanter rechtlicher Rahmen und Entwicklung der Rechtsprechung
Das Bundesgericht legt zunächst den massgebenden rechtlichen Rahmen dar, insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot (Art. 32 Abs. 1 KVG), die Pflicht des Leistungserbringers zur Beschränkung auf das notwendige Mass (Art. 56 Abs. 1 KVG) und die Sanktionsmöglichkeit der Rückforderung bei Verstoss gegen die Wirtschaftlichkeitsanforderungen (Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG). Es betont, dass eine Rückforderung kein Verschulden des Leistungserbringers voraussetzt (E. 5.3).
Die Wirtschaftlichkeitsprüfung erfolgt auf Basis des Vergleichs des individuellen Fallwerts des Leistungserbringers mit dem Durchschnittswert einer Vergleichsgruppe gleicher Fachrichtung (Gruppenfallwert). Grundlage hierfür sind die Abrechnungsdaten der SASIS AG (E. 5.2).
Gemäss Art. 56 Abs. 6 KVG haben die Tarifpartner (Leistungserbringer und Krankenversicherer) eine Methode zur Wirtschaftlichkeitskontrolle vertraglich festzulegen. Seit dem Statistikjahr 2017 kommt hierfür die von den Verbänden am 20. März 2018 vereinbarte Screening-Methode zur Anwendung (E. 5.3).
Das Bundesgericht präzisiert die Rolle der Screening-Methode und der nachfolgenden Einzelfallprüfung im Lichte seiner neuen bzw. gleichzeitig ergangenen Rechtsprechung (BGE 150 V 129 [Urteil 9C_135/2022 vom 12. Dezember 2023], 9C_166/2022 vom 9. Dezember 2024 [teilweise zur Publ. vorgesehen] und 9C_199/2022 vom 29. April 2025 [teilweise zur Publ. vorgesehen]).
- Screening (Erster Schritt): Die Screening-Methode dient als erster Schritt der Wirtschaftlichkeitskontrolle zur Identifikation auffälliger Leistungserbringer mittels einer standardisierten Regressionsanalyse. Diese ermittelt einen individuellen Fallwert (Regressionsindex), der verhaltensunabhängige Kostenfaktoren (wie Morbidität des Patientenkollektivs, Facharztgruppe, Standortkanton) zu neutralisieren versucht. Ein erhöhter Index im Screening ist jedoch nicht gleichbedeutend mit unwirtschaftlicher Behandlungsweise, sondern deutet lediglich darauf hin (E. 5.3, 5.4.1).
- Toleranzmarge: Vom individuellen Fallwert ist eine Toleranzmarge abzuziehen, um dem ärztlichen Behandlungsspielraum und individuellem Praxisstil Rechnung zu tragen. Bisher galt eine Marge von 20-30 Indexpunkten. Aufgrund der neuen Methode wird die Marge im Screening-Verfahren provisorisch veranschlagt, während die definitive, individualisierte Marge (weiterhin 20-30 Punkte) erst im Rahmen der Einzelfallprüfung oder im schiedsgerichtlichen Verfahren festgelegt wird (E. 5.4.2).
- Einzelfallprüfung (Zweiter Schritt): Führt das Screening zu einem über den provisorischen Toleranzbereich hinaus erhöhten Index, folgt die Einzelfallprüfung. In diesem Schritt wird die definitive Toleranzmarge festgelegt und es werden Praxisbesonderheiten ermittelt, die sich auf die Kostenstruktur auswirken und die nicht bereits durch die Regressionsanalyse neutralisiert wurden. Nur die Einzelfallprüfung kann zur Feststellung eines Verstosses gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot führen. Der Leistungserbringer hat dabei Gelegenheit, seine Sicht darzulegen und Praxisbesonderheiten aufzuzeigen (E. 5.3, 5.5.1).
- Praxisbesonderheiten: Dies können sowohl angebotsseitige Faktoren (z.B. kostenwirksame Spezialisierungen, Funktion als "Permanence") als auch nachfrageseitige Faktoren (z.B. spezifische Morbidität des Patientenkollektivs, die nicht ausreichend durch die Morbiditätsindikatoren der Regressionsanalyse erfasst wird, wie z.B. bestimmte chronische Schmerzerkrankungen) sein (E. 5.5.2). Der Leistungserbringer hat eine Mitwirkungspflicht, indem er die Besonderheit und deren grundsätzliche Kostenrelevanz glaubhaft macht, während die Krankenversicherer zur Abklärung und zum Beweis der Unwirtschaftlichkeit verpflichtet sind (E. 5.5.3).
3. Direkte vs. Veranlasste Kosten und Rückforderungssubstrat
Das Bundesgericht beurteilt die Wirtschaftlichkeit einer Praxis auf Grundlage des Gesamtkostenindexes, der sowohl direkte (vom Leistungserbringer selbst erbrachte) als auch veranlasste (durch den Leistungserbringer bei Dritten ausgelöste, z.B. Labor, Physiotherapie, bestimmte Medikamente) Kosten umfasst. Eine Rückforderung kann jedoch gemäss Gesetz (Art. 56 Abs. 2 Satz 2 KVG) nur die dem Leistungserbringer zu Unrecht bezahlten Vergütungen betreffen, d.h. die direkten Kosten. Dennoch erfolgt die Berechnung der Rückerstattungsquote und des rückforderbaren Betrags auf Grundlage des Gesamtkostenindexes, da eine integrale Betrachtung aller vom Arzt beeinflussten Kosten für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit geboten ist (E. 5.6, 8.2).
4. Rügen des Leistungserbringers und die Beurteilung des Bundesgerichts (Verfahren 9C_132/2022)
Der Beschwerdeführer (Arzt) beanstandete mehrere Punkte des vorinstanzlichen Verfahrens und Urteils:
- Aussagekraft der Screening-Methode: Der Arzt machte geltend, das Screening allein dürfe nicht zum Nachweis der Unwirtschaftlichkeit genügen. Das BG bestätigt dies und verweist auf die Notwendigkeit der Einzelfallprüfung (E. 7.1).
- Zusammensetzung des Vergleichskollektivs: Er rügte, die Vergleichsgruppe (Allgemeine Internisten) sei unzutreffend, da seine Praxis einen überdurchschnittlichen Anteil an Schmerzpatienten behandle und auf Neuraltherapie spezialisiert sei. Das BG hält fest, dass die Vergleichsgruppe grundsätzlich nach dem Facharzttitel definiert wird. Spezifische Praxiseigenschaften oder -schwerpunkte sind primär im Rahmen der Einzelfallprüfung als Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen, nicht durch eine Anpassung der Vergleichsgruppe ex ante. Dies gelte auch für die von ihm angeführte Selbstdispensation (E. 7.2.1, unter Verweis auf 9C_199/2022 und BGE 150 V 129).
- Verwendung einer veralteten PCG-Liste: Der Arzt monierte, dass eine veraltete, unvollständige Liste pharmazeutischer Kostengruppen (PCG) zur indirekten Erfassung der Morbidität verwendet wurde. Das BG entschied, dass die verwendete PCG-Liste für das Screening akzeptabel sei. Sollten bestimmte, in der erweiterten Liste enthaltene Krankheitsbilder die Morbidität seines Patientenkollektivs relevant beeinflussen und dies nicht durch die verwendete PCG-Liste ausreichend erfasst sein, können die entsprechenden Daten im Rahmen der Einzelfallprüfung erhoben und berücksichtigt werden, sofern der Arzt entsprechende Hinweise liefert (E. 7.2.2, unter Verweis auf 9C_166/2022).
- Umfang der Toleranzmarge: Der Arzt vertrat die Ansicht, es sei eine Marge von fixen 30 Punkten anzuwenden, während die Vorinstanz nur 20 Punkte zugestand. Das BG bekräftigt, dass die definitive Toleranzmarge 20 bis 30 Punkte beträgt und im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen festzulegen ist, wobei die methodische Umstellung der Wirtschaftlichkeitsprüfung die Notwendigkeit einer angemessenen Berücksichtigung des individuellen Praxisstils nicht aufhebt. Es verweist auf die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung zur differenzierten Spanne (E. 7.2.3, unter Verweis auf 9C_166/2022).
- Nichtberücksichtigung von Praxisbesonderheiten: Der Arzt rügte, die Vorinstanz habe überhöhte Anforderungen an den Nachweis von Praxisbesonderheiten gestellt und seine Daten (insb. zum Anteil von Schmerzpatienten und den Kosten der Neuraltherapie-Medikamente) ungenügend berücksichtigt. Das BG stellte klar, dass der Leistungserbringer Praxisbesonderheiten mit den ihm verfügbaren Daten glaubhaft machen darf. Es obliegt den Krankenversicherern, diese im Rahmen ihrer Abklärungspflicht zu überprüfen und anhand statistischer Daten deren Relevanz zu beurteilen. Die Mitwirkungspflicht des Arztes umfasst auch Daten, die den Versicherern nicht vorliegen. Die speziellen Kosten für die Neuraltherapie können relevant sein, fallen aber allenfalls unter die Berücksichtigung des Kosteneffekts eines spezialisierten Patientenkollektivs in der Einzelfallprüfung (E. 7.3.1, 7.3.2, unter Verweis auf 9C_166/2022 und 9C_199/2022).
5. Rügen der Krankenversicherer und die Beurteilung des Bundesgerichts (Verfahren 9C_134/2022)
Die Beschwerde der Krankenversicherer richtete sich gegen die Höhe der vom Schiedsgericht zugesprochenen Rückerstattung und die angewandte Berechnungsformel.
Das Bundesgericht erklärte die Diskussion um die bisherige Berechnungsformel als obsolet. Es legte die neue Berechnungsformel fest, wie sie im Urteil 9C_199/2022 (zur Publ. vorgesehen) entwickelt wurde:
- Ein Verstoss gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot liegt vor, wenn sowohl der (um Toleranzmarge und Praxisbesonderheiten bereinigte) Gesamtkostenindex als auch der (in gleicher Weise bereinigte) Index der direkten Kosten grösser als 100 ist.
- Das Rückforderungssubstrat sind die totalen direkten Kosten.
- Die Rückerstattungsquote wird jedoch auf Grundlage des Gesamtkostenindexes berechnet.
- Die Formel lautet: Rückforderbarer Betrag = Totale direkte Kosten * ((Bereinigter Gesamtkostenindex - 100) / Unbereinigter Gesamtkostenindex) (E. 8.2, unter Verweis auf 9C_199/2022 E. 10.3).
Das BG stellte fest, dass entgegen der Ansicht der Vorinstanz aus den statistischen Grundlagen ein Index der totalen direkten Kosten abgeleitet werden kann (E. 8.3).
6. Ergebnis und Rückweisung
Das Bundesgericht hält fest, dass das angefochtene Urteil und das diesem zugrundeliegende Verfahren nicht auf den Vorgaben der neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung beruhen, insbesondere hinsichtlich der Anwendung der Screening-Methode, der Handhabung der Toleranzmarge, der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten und der Berechnung der Rückforderung.
Daher hob das Bundesgericht das Urteil des kantonalen Schiedsgerichts auf. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese das Verfahren unter Beachtung der neuen Rechtsprechung wiederholt. Das Schiedsgericht muss den Parteien Gelegenheit zur Vervollständigung der Wirtschaftlichkeitsprüfung geben (insbesondere zur detaillierten Einzelfallprüfung und substantiierter Darlegung von Praxisbesonderheiten) und anschliessend auf der Grundlage einer gegebenenfalls ergänzten Klage neu entscheiden (E. 6, 9.1).
Die Beschwerde des Arztes (9C_132/2022) wird teilweise gutgeheissen (im Ergebnis der Aufhebung und Rückweisung). Die Beschwerde der Krankenversicherer (9C_134/2022) wird abgewiesen, da ihre Rügen zur Berechnung im Lichte der neuen Rechtsprechung anders zu beurteilen sind bzw. die Rückweisung unabhängig davon erfolgt.
Die Kostenfolgen ergeben sich aus der Rückweisung, die rechtlich als vollständiges Obsiegen der Partei gilt, die sie beantragt. Daher tragen die klagenden Krankenversicherer die Gerichtskosten und entschädigen den Arzt (E. 10).
7. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Die Wirtschaftlichkeitsprüfung im KVG erfolgt neu in einem zweistufigen Verfahren: Screening mittels Regressionsanalyse zur Identifikation auffälliger Praxen, gefolgt von einer detaillierten Einzelfallprüfung.
- Der Screening-Index allein ist kein abschliessender Nachweis für Unwirtschaftlichkeit.
- Die Zusammensetzung der Vergleichsgruppe erfolgt primär nach Facharzttitel; spezifische Praxiseigenschaften werden in der Einzelfallprüfung als Praxisbesonderheiten berücksichtigt.
- Die Toleranzmarge beträgt weiterhin 20 bis 30 Indexpunkte und wird in der Einzelfallprüfung individualisiert festgelegt.
- Praxisbesonderheiten (angebots- oder nachfrageseitig, z.B. spezifische Morbidität bei Schmerzpatienten) müssen vom Arzt glaubhaft gemacht werden; die Krankenversicherer haben eine Abklärungs- und Beweislast.
- Die Wirtschaftlichkeit wird anhand des Gesamtkostenindexes (direkte + veranlasste Kosten) beurteilt.
- Die Rückforderung beschränkt sich auf die direkten Kosten, wird aber anhand einer neuen Formel auf Basis des bereinigten Gesamtkostenindexes berechnet.
- Das Bundesgericht hebt das vorinstanzliche Urteil auf und weist die Sache zur Neubeurteilung unter Anwendung der in den jüngsten Urteilen präzisierten Grundsätze zurück, da das bisherige Verfahren diesen nicht entsprach.
Dieses Urteil bekräftigt und präzisiert die neue Methodik der Wirtschaftlichkeitskontrolle und betont die Bedeutung der detaillierten Einzelfallprüfung sowie der korrekten Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten und der Toleranzmarge nach der Regressionsanalyse. Es klärt zudem die Berechnungsmethode für die Rückforderung.