Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 8C_593/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 28. Mai 2025:
1. Einleitung und Streitgegenstand
Das Urteil des Bundesgerichts (8C_593/2024) betrifft die Rückerstattung von rechtmässig bezogenen Ergänzungsleistungen zur AHV/AI (EL) aus dem Nachlass eines verstorbenen Leistungsbezügers. Im Kern des Rechtsstreits steht die Frage, ob der Anspruch der kantonalen EL-Stelle (hier: Service des prestations complémentaires de la République et canton de Genève - SPC) auf Rückerstattung der EL-Leistungen aus dem Nachlass der verstorbenen Person verjährt (im Urteilstext als "péremption" bezeichnet) war, als die Rückforderungsentscheidung erging.
2. Sachverhalt
Ein Ehepaar (D._ und A.A._) bezog Ergänzungsleistungen und lebte in einem Pflegeheim. Nach dem Tod der Ehefrau (D._) im März 2022 passte die EL-Stelle die Leistungen für den Ehemann (A.A._) an, wobei sie per Februar 2022 ein "geteiltes Sparguthaben" von ca. 119'000 CHF berücksichtigte, das aus Bankauszügen hervorging. A.A._ verstarb kurze Zeit später im April 2022. Die EL-Stelle informierte zunächst über eine Rückerstattung zu viel bezahlter Leistungen nach dem Todestag, zog dies aber später teilweise zurück. Im Juli 2022 erhielt die EL-Stelle die Steuererklärung von A.A._ für das Jahr 2022, die ein Brutto-Mobilvermögen von ca. 127'000 CHF auswies.
Im Mai 2023, über ein Jahr nach dem Tod von A.A.__, forderte die EL-Stelle von den Erben (den beiden Kindern des Paares) die Rückerstattung von rechtmässig bezogenen EL-Leistungen in Höhe von ca. 86'000 CHF. Sie begründete dies mit dem Nachlassvermögen von ca. 127'000 CHF, das die Freigrenze von 40'000 CHF überstieg (Art. 16a Abs. 1 ELG). Nach einem Einspracheverfahren, in dem die Erben das Vermögen und die späte Information rügten, reduzierte die EL-Stelle den Rückerstattungsbetrag im Dezember 2023 auf ca. 38'000 CHF, unter Berücksichtigung der Freigrenze und neuer von den Erben vorgelegter Belege.
Die Erben erhoben Beschwerde beim kantonalen Gericht und machten geltend, der Rückforderungsanspruch sei verjährt. Das kantonale Gericht wies die Beschwerde ab. Dagegen richtete sich der Rekurs der Erben ans Bundesgericht.
3. Rechtlicher Rahmen
Das Bundesgericht legt zunächst den relevanten Rechtsrahmen dar, der sich aus dem revidierten Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur AHV/AI (ELG) und der Verordnung über Ergänzungsleistungen zur AHV/AI (ELV) ergibt, in Kraft seit dem 1. Januar 2021.
- Grundsätzlicher Paradigmenwechsel (Art. 16a ELG): Vor der Revision waren EL grundsätzlich nur bei unrechtmässigem Bezug zurückzuerstatten. Mit der Revision wurde eine neue Rückerstattungspflicht eingeführt, die auch rechtmässig bezogene Leistungen betrifft (Carigiet/Koch, EL, 3. A., N. 383). Diese Pflicht trifft jedoch nicht den Leistungsempfänger oder dessen Ehegatten, sondern ausschliesslich die Erben aus dem Nachlass (Art. 16a Abs. 1 ELG).
- Freigrenze (Art. 16a Abs. 1 ELG): Die Rückerstattung ist nur für den Teil des Nachlasses geschuldet, der 40'000 CHF übersteigt. Bei Ehepaaren entsteht die Pflicht erst mit dem Tod des überlebenden Ehegatten (Art. 16a Abs. 2 ELG).
- Bemessung des Nachlasses (Art. 27a Abs. 1 ELV): Der für die Rückerstattung massgebende Nachlass ist zum Zeitpunkt des Todes zu bewerten, und zwar nach den Regeln der kantonalen Gesetzgebung über die direkte Kantonssteuer (für die Vermögensbewertung). Das Bundesgericht präzisiert (unter Verweis auf den zur Publikation vorgesehenen Entscheid 8C_669/2023), dass sich "Nachlass" im Sinne von Art. 16a Abs. 1 ELG auf das Nettovermögen des Erblassers zum Zeitpunkt des Todes bezieht, d.h. die übertragbaren Aktiven abzüglich der übertragbaren Schulden (unter Ausschluss von Ausgleichungen, Einwerfungen und Nachlassschulden wie z.B. die Rückerstattung selbst). Die Rückerstattung ist also eine Nachlassschuld.
- Verjährung/Verwirkung (Art. 16b ELG): Der Anspruch auf Rückerstattung erlischt ein Jahr nach dem Zeitpunkt, an dem die zuständige Stelle (Art. 21 Abs. 2 ELG, hier die kantonale EL-Stelle) Kenntnis vom Sachverhalt erhalten hat, spätestens jedoch zehn Jahre nach Auszahlung der Leistung.
- Übergangsbestimmung: Art. 16a und 16b ELG gelten nur für EL, die nach dem 1. Januar 2021 (Inkrafttreten der Reform) bezogen wurden.
4. Argumente der Parteien vor Bundesgericht
- Beschwerdeführer (Erben): Sie argumentierten, die Verjährungsfrist von einem Jahr gemäss Art. 16b ELG habe spätestens am 16. Februar 2022 zu laufen begonnen, als die EL-Stelle Kenntnis vom Sparguthaben von ca. 119'000 CHF hatte, das die Freigrenze überstieg. Die EL-Stelle habe diese Kenntnis bereits für die Leistungsanpassung nach dem Tod der Ehefrau genutzt. Art. 27a ELV verlange nicht zwingend die Steuererklärung der Erbengemeinschaft für die Berechnung; die Behörde könne auch auf andere Informationen zurückgreifen. Die späte Vorlage der Steuererklärung dürfe nicht dazu führen, dass die Frist erst später beginne, zumal die EL-Stelle die Steuererklärung in der Einspracheentscheidung angeblich nicht mehr berücksichtigt habe.
- Intimierter (EL-Stelle): Unterstützte das kantonale Urteil, dass die Frist erst mit Kenntnis der massgebenden Fakten, insbesondere des Nachlassvermögens, zu laufen beginne.
- Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV): Stellte sich auf den Standpunkt, der Fristbeginn (dies a quo) für die Jahresfrist von Art. 16b ELG sei der Zeitpunkt, an dem die EL-Stelle Kenntnis vom Tod des Leistungsbezügers bzw. des überlebenden Ehegatten erhalte. Die Kenntnis müsse weit ausgelegt werden (z.B. Meldung durch Zivilstandsamt). Praktische Schwierigkeiten bei der Feststellung des genauen Nachlasswertes oder aller Erben dürften den Fristbeginn nicht verzögern.
5. Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüft die Frage des Beginns der einjährigen Verjährungsfrist nach Art. 16b ELG.
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Auslegung von Art. 16b ELG: Das Gericht wendet die üblichen Auslegungsmethoden an (literal, historisch, teleologisch, systematisch).
- Literal: Die französische ("connaissance du fait"), deutsche ("davon Kenntnis") und italienische ("ne ha avuto conoscenza") Fassung von Art. 16b ELG verweisen gemäss Gericht eindeutig auf das "droit de demander la restitution" (Anspruch auf Rückforderung). Die Frist beginnt demnach zu laufen, wenn die Behörde Kenntnis vom Anspruch auf Rückerstattung hat.
- Gesetzgebungsgeschichte: Gibt keine Hinweise, da Art. 16a/16b ELG durch das Parlament eingeführt wurden.
- Teleologisch (Zweck): EL dienen der Existenzsicherung zu Lebzeiten, nicht der Bereicherung der Erben. Der Rückforderungsanspruch aus dem Nachlass setzt den Tod und die Bewertung des Nettovermögens voraus (Art. 16a i.V.m. Art. 27a ELV). Erst die Kenntnis dieser Fakten begründet den Rückforderungsanspruch.
- Systematisch und Analogie (Art. 25 Abs. 2 ATSG): Art. 16b ELG ist Art. 25 Abs. 2 ATSG nachempfunden, auch wenn die Frist dort nun drei Jahre beträgt. Das Bundesgericht wendet die zu Art. 25 Abs. 2 ATSG entwickelte Rechtsprechung an: Der Fristbeginn ist der Zeitpunkt, an dem die Behörde bei zumutbarer Sorgfalt Kenntnis von allen wesentlichen Tatsachen hätte haben müssen, die den Anspruch auf Rückerstattung dem Grunde und der Höhe nach begründen (ATF 150 V 305 E. 6.2, 148 V 217 E. 5.1.1). Bloße Indizien reichen nicht; gegebenenfalls sind Untersuchungen notwendig. Diese Grundsätze gelten auch für Art. 35a BVG und nun auch für Art. 16b ELG.
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Abgrenzung zum Standpunkt des BSV: Das Gericht widerspricht dem BSV-Standpunkt, wonach die Kenntnis des Todes genüge. Dies würde die spezifischen Voraussetzungen von Art. 16a ELG ignorieren (Nachlassgrösse > 40k, Bewertung nach Steuerregeln). Die kurze Jahresfrist solle die Behörde vielmehr anhalten, schnell zu handeln, sobald sie die notwendigen Informationen hat. Die absolute 10-Jahresfrist fängt langwierige Nachlassverfahren auf. Die Kenntnis aller Erben ist für den Fristbeginn nicht erforderlich, da die Erben solidarisch haften (Art. 603 ZGB) und die Mitteilung an einen Erben genügt.
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Anwendung auf den vorliegenden Fall:
- Die EL-Stelle erfuhr am 28. April 2022 vom Tod. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie aber noch nicht alle Informationen zur Bestimmung des Netto-Nachlassvermögens nach Art. 27a Abs. 1 ELV.
- Das im Februar 2022 bekannte Sparguthaben von ca. 119'000 CHF war für die Berechnung der laufenden EL relevant (als Vermögen der Ehegatten), stellte aber nicht das nach Art. 27a ELV massgebende Netto-Nachlassvermögen des verstorbenen Ehemanns zum Zeitpunkt seines Todes dar. Dieses musste erst ermittelt werden.
- Die Steuererklärung des Verstorbenen für 2022, erstellt am 4. Juli 2022 (und danach der EL-Stelle zugegangen), lieferte die Grundlage für die Bestimmung des Nachlassvermögens zum Todeszeitpunkt nach Steuerregeln. Erst mit Kenntnis dieser Erklärung hatte die EL-Stelle Kenntnis von den wesentlichen Tatsachen, die ihren Rückforderungsanspruch dem Grunde und der Höhe nach begründeten (insb. dass das Nachlassvermögen die Freigrenze überstieg).
- Die Rückforderungsentscheidung vom 19. Mai 2023 erging somit innerhalb der Jahresfrist ab dem 4. Juli 2022.
- Das Gericht weist das Argument der Erben zurück, die Steuererklärung sei in der Einspracheentscheidung nicht mehr berücksichtigt worden und sei daher nicht notwendig gewesen. Die EL-Stelle stützte sich für die ursprüngliche Rückforderungsentscheidung vom 19. Mai 2023 gerade auf die Steuererklärung 2022 (Vermögen von 127'576 CHF). Die spätere Reduktion des Betrags in der Einspracheentscheidung erfolgte aufgrund neuer Informationen der Erben (Erbschaftsanteil der verstorbenen Mutter, weitere Kosten), die der EL-Stelle erst nach dem 19. Mai 2023 zur Kenntnis gelangten. Dies bestätigt vielmehr, dass die EL-Stelle erst schrittweise Kenntnis von allen massgebenden Fakten erhielt und die Steuererklärung ein notwendiger Schritt zur Bestimmung des Nachlassvermögens war.
6. Fazit des Bundesgerichts
Da die EL-Stelle erst mit der Kenntnis der Steuererklärung des Verstorbenen (erhalten am 4. Juli 2022) über die wesentlichen Fakten verfügte, die ihren Rückforderungsanspruch aus dem Nachlass begründeten, begann die einjährige Verjährungsfrist von Art. 16b ELG frühestens zu diesem Zeitpunkt zu laufen. Die Rückforderungsentscheidung vom 19. Mai 2023 wurde innerhalb dieser Frist erlassen. Der Rückforderungsanspruch war somit nicht verjährt.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Erben ab.
7. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Seit 2021 können rechtmässig bezogene EL aus dem Nachlass zurückgefordert werden, sofern das Netto-Nachlassvermögen über 40'000 CHF liegt (Art. 16a ELG).
- Der Anspruch auf Rückerstattung verjährt ein Jahr, nachdem die EL-Stelle Kenntnis vom Anspruchsgrund erhalten hat, spätestens 10 Jahre nach Auszahlung (Art. 16b ELG).
- Nach ständiger Rechtsprechung (analog Art. 25 Abs. 2 ATSG) beginnt die Frist zu laufen, wenn die Behörde Kenntnis von allen wesentlichen Tatsachen hat, die den Anspruch dem Grunde und der Höhe nach begründen.
- Im Fall der Rückforderung aus dem Nachlass bedeutet dies, dass die EL-Stelle Kenntnis vom Netto-Nachlassvermögen zum Todeszeitpunkt haben muss, da dies die Anspruchsvoraussetzung (Vermögen > 40k) und die Höhe des Anspruchs bestimmt (Art. 16a, 27a ELG/ELV).
- Die Kenntnis des Todes allein oder früherer Vermögenswerte für die laufende EL-Berechnung genügt dafür nicht.
- Im vorliegenden Fall hatte die EL-Stelle diese massgebende Kenntnis frühestens mit Erhalt der Steuererklärung des Verstorbenen, auf welcher sie ihre Rückforderung begründete.
- Die Rückforderungsentscheidung erging innerhalb eines Jahres nach Erhalt der Steuererklärung, der Anspruch war somit nicht verjährt.