Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts 9C_534/2024 vom 3. Juni 2025:
Bundesgericht, Urteil 9C_534/2024 vom 3. Juni 2025
Einleitung
Das Urteil des Bundesgerichts (III. öffentlich-rechtliche Abteilung) vom 3. Juni 2025 (Verfahren 9C_534/2024) betrifft eine Beschwerde gegen einen Entscheid der Cour de justice des Kantons Genf vom 20. August 2024. Streitgegenstand sind kantonale und kommunale Steuern (ICC) des Kantons Genf für die Steuerperiode 2016, insbesondere die Rechtmässigkeit eines Nachsteuerverfahrens, einer Busse wegen Steuerhinterziehung und der damit verbundenen Steuerveranlagung.
Sachverhalt und Verfahrensgang (relevant für die rechtliche Würdigung)
Der Beschwerdeführer war im Jahr 2016 primär im Kanton Waadt domiziliert, zog jedoch am 1. Januar 2016 als Wochenaufenthalter in den Kanton Genf und erhielt dort eine Aufenthaltsbewilligung. Als Wochenaufenthalter war er verpflichtet, in Genf eine Steuererklärung einzureichen und eine Personalsteuer zu entrichten. Er war bis zum 30. Juni 2016 unselbständig und ab dem 1. Juli 2016 selbständig in Genf erwerbstätig.
Trotz Aufforderungen der Genfer Steuerverwaltung (AFC GE) im April und Mai 2017 reichte der Beschwerdeführer seine Steuererklärung für 2016 nicht ein. Am 22. Juni 2017 informierte die AFC GE den Beschwerdeführer in zwei separaten Schreiben, dass sie auf eine Besteuerung für 2016 verzichte (sowohl für die direkte Bundessteuer als auch für die ICC). Das ICC-Schreiben enthielt keinen Rechtsmittelhinweis, wies aber darauf hin, dass jährlich eine Steuererklärung einzureichen sei und ein Nachsteuerverfahren vorbehalten bleibe. Eine Personalsteuer von CHF 25 wurde erhoben.
Im Februar 2018 reichte der Beschwerdeführer seine Steuererklärung in Waadt ein. Die Waadtländer Steuerverwaltung informierte die AFC GE am 7. Juni 2018 über die interkantonale Steuerausscheidung für 2016, welche Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit Genf zuwies. Am 13. Juni 2018 erfolgte die Veranlagung durch Waadt.
Am 11. November 2022 eröffnete die AFC GE ein Nachsteuer- und ein Bussenverfahren für die ICC 2016 wegen der selbständigen Erwerbstätigkeit. Am 5. Dezember 2022 erliess sie eine Nachsteuerverfügung über CHF 41'956.70 und eine Busse in Höhe von 75 % dieses Betrags. Die Einsprache des Beschwerdeführers wurde am 29. März 2023 abgewiesen.
Das Tribunal administratif de première instance (TAPI) hiess die Beschwerde teilweise gut und reduzierte die Busse, da die AFC GE einer Reduktion auf 50 % zugestimmt hatte. Die Cour de justice wies die Beschwerde gegen das TAPI-Urteil ab. Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde an das Bundesgericht.
Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
- Zulässigkeit (Kurzfassung): Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde ein (Art. 82 lit. a, 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, 90 BGG i.V.m. Art. 73 StHG). Die ursprünglich rein kassatorischen Anträge (Aufhebung) wurden im Lichte der Beschwerdebegründung als Reformanträge (Feststellung der Verjährung, subsidiär Reduktion der Busse) ausgelegt und als zulässig betrachtet (Art. 107 Abs. 2 BGG).
- Anwendung des Rechts: Das Bundesgericht prüft die Anwendung des harmonisierten kantonalen Rechts und seine Konformität mit dem StHG frei (Art. 106 Abs. 1 BGG). Grundrechtsverletzungen werden nur geprüft, wenn sie explizit und begründet gerügt werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz sind für das Bundesgericht bindend, ausser bei Verletzung von Bundesrecht oder offensichtlicher Unrichtigkeit (Willkür), sofern diese Behebung den Verfahrensausgang beeinflussen kann (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 1 BGG).
- Harmonisierung: Fragen im Zusammenhang mit Nachsteuerverfahren und Steuerhinterziehung bei den ICC richten sich nach den Grundsätzen des StHG, weshalb die Rechtsprechung zur direkten Bundessteuer (DBG) sinngemäss anwendbar ist (Art. 73 StHG; vgl. Urteil 9C_583/2023 E. 6).
- Qualifikation des Schreibens vom 22. Juni 2017: Das Bundesgericht prüfte, ob das Schreiben der AFC GE vom 22. Juni 2017 eine Veranlagungsverfügung darstellt.
- Rechtliche Grundlagen: Eine Verfügung ist eine hoheitliche Massnahme in einem Einzelfall zur rechtsverbindlichen Regelung eines Rechtsverhältnisses (materieller Entscheidbegriff). Sie kann rechtsgestaltend oder -feststellend sein (vgl. BGE 135 II 30 E. 1.1). Fehlende formelle Elemente wie ein Rechtsmittelhinweis schliessen die Qualifikation als materielle Verfügung nicht aus (Urteil 2C_603/2023 E. 5.3).
- Anwendung auf den Fall: Das Gericht bejahte die Natur als Veranlagungsverfügung. Das Schreiben stellte nicht nur fest, dass der Beschwerdeführer für 2016 nicht der ICC unterworfen sei (Unterwerfungsentscheid), sondern setzte auch implizit die steuerbaren Elemente (Einkommen, Vermögen) auf Null fest, indem es auf eine Besteuerung verzichtete. Die – vom Beschwerdeführer gerügte – unpräzise Bezugnahme der Vorinstanz auf Art. 35 des Genfer Steuerverfahrensgesetzes (LPFisc), der primär Unterwerfungsentscheide regelt, ändert nichts an der materiellen Qualifikation des Schreibens als Veranlagungsverfügung. Da im Zeitpunkt des Schreibens nach damaliger Kenntnis der Behörde keine Steuerpflicht bestand, war keine separate Verfügung zur Festsetzung der steuerbaren Elemente notwendig. Das Argument des Beschwerdeführers, wonach die Behörde mangels Steuererklärung keine provisorische Veranlagung gemäss kantonalem Recht erlassen habe, ging ins Leere, da das Schreiben als definitive Veranlagung (Null-Veranlagung) für das Jahr 2016 zu qualifizieren sei. Auch der Vorbehalt eines Nachsteuerverfahrens ändert nichts an der Natur als (Null-)Veranlagungsverfügung.
- Fazit: Das Schreiben vom 22. Juni 2017 ist einer Veranlagungsverfügung für die ICC 2016 gleichzustellen.
- Verjährung des Veranlagungsrechts: Da das Schreiben vom 22. Juni 2017 als Veranlagungsverfügung gilt, wurde die relative fünfjährige Verjährungsfrist für das Recht zur ordentlichen Veranlagung (Art. 47 Abs. 1 StHG) unterbrochen bzw. ist nie eingetreten. Die Verjährung des Rechts zur Eröffnung eines Nachsteuerverfahrens und der Strafverfolgung wegen Steuerhinterziehung (absolute zehnjährige Frist gemäss Art. 53 Abs. 2 und 58 Abs. 2 lit. a StHG i.V.m. kantonalem Recht, hier Art. 61 Abs. 1 und 77 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 LPFisc) war ebenfalls nicht eingetreten, da die Verfahrenseröffnung (11. November 2022 bzw. 5. Dezember 2022) innerhalb von zehn Jahren nach Ende der Steuerperiode 2016 erfolgte. Das vom Beschwerdeführer zitierte Urteil 2C_263/2018 betraf einen anderen Sachverhalt (ordentliche Veranlagung nach Ablauf der Verjährung).
- Fazit: Die Verjährung des Veranlagungs-, Nachsteuer- und Bussenrechts war nicht eingetreten.
- Voraussetzungen für das Nachsteuerverfahren: Ein Nachsteuerverfahren (Art. 53 Abs. 1 StHG) ist möglich, wenn der Steuerbehörde bisher unbekannte Tatsachen oder Beweismittel eine Veranlagung ermöglichen oder eine rechtskräftige Veranlagung unvollständig erscheinen lassen.
- Rechtliche Grundlagen: "Bisher unbekannt" meint Tatsachen oder Beweismittel, die sich nicht aus dem Dossier der Behörde im Zeitpunkt der Veranlagung ergaben (BGE 148 V 277 E. 4.2.2; 144 II 359 E. 4.5.1). Die Behörde darf grundsätzlich von der Richtigkeit der Steuererklärung ausgehen und muss nicht von sich aus Nachforschungen anstellen, ausser bei offensichtlicher Unvollständigkeit oder Unklarheit der massgebenden Tatsachen im Dossier (BGE 144 II 359 E. 4.5.1). Eine schwere Sorgfaltspflichtverletzung der Behörde beim ordentlichen Verfahren kann den Kausalzusammenhang zwischen unvollständiger Deklaration und unvollständiger Veranlagung unterbrechen und das Nachsteuerverfahren ausschliessen. Die Anforderungen an eine solche schwere Fahrlässigkeit sind hoch (Urteil 9C_689/2022 E. 9.1, nicht publ. in BGE 149 II 177).
- Anwendung auf den Fall: Die Vorinstanz stellte fest, dass die AFC GE im Zeitpunkt des Schreibens vom 22. Juni 2017, basierend auf der Kenntnis der unselbständigen Tätigkeit und dem Domizil in Waadt, keine Anhaltspunkte für eine selbständige Erwerbstätigkeit in Genf hatte. Sie war daher nicht verpflichtet, weitere Abklärungen zu treffen. Die Information durch die Waadtländer Steuerverwaltung am 7. Juni 2018 über die selbständige Tätigkeit ab 1. Juli 2016 stellte eine neue Tatsache im Sinne von Art. 53 Abs. 1 StHG dar, die der AFC GE nach Erlass der (Null-)Veranlagungsverfügung vom 22. Juni 2017 bekannt wurde. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer keine Genfer oder Waadtländer Steuererklärung eingereicht hatte (trotz Aufforderung), wurde berücksichtigt. Die über vierjährige Verzögerung zwischen der Kenntnisnahme der neuen Tatsache (7. Juni 2018) und der Eröffnung des Nachsteuerverfahrens (11. November 2022) wurde zwar von der Vorinstanz als "bedauerlich" bezeichnet, vom Bundesgericht jedoch als nicht ausreichend erachtet, um den Kausalzusammenhang zu unterbrechen, da dies eine schwere Sorgfaltspflichtverletzung der Behörde vorausgesetzt hätte, die hier nicht vorlag.
- Fazit: Die Voraussetzungen für die Eröffnung des Nachsteuerverfahrens gemäss Art. 53 ff. StHG waren erfüllt.
- Steuerhinterziehung und Höhe der Busse:
- Steuerhinterziehung: Für eine Steuerhinterziehung (Art. 56 Abs. 1 StHG) sind ein hinterzogener Steuerbetrag (objektiv) und ein Verschulden des Steuerpflichtigen (subjektiv: Absicht oder mindestens Fahrlässigkeit) sowie ein Kausalzusammenhang erforderlich (Urteil 9C_583/2023 E. 4.1). Die Begriffe der Absicht und Fahrlässigkeit entsprechen jenen des Strafrechts (Art. 12 Abs. 2 und 3 StGB). Die Vorinstanz hat festgestellt, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner fehlenden Kooperation (Nichtabgabe der Steuererklärung trotz Aufforderung, keine Information über die selbständige Tätigkeit oder die Verzögerung der Waadtländer Veranlagung) mindestens fahrlässig gehandelt hat. Seine universitäre Ausbildung liess nicht zu, dass er gutgläubig die steuerlichen Konsequenzen seiner selbständigen Tätigkeit in Genf ignorieren konnte. Die Übermittlung der Waadtländer Erklärung 2016 und der Konten 2017/2018 (Ende 2018/Anfang 2019) entband ihn nicht von seinen ursprünglichen Kooperationspflichten. Der Beschwerdeführer räumte selbst eine "Pflichtverletzung bei der Kooperation" ein. Das Bundesgericht bestätigte, dass die Vorinstanz das Vorliegen von Steuerhinterziehung, zumindest durch Fahrlässigkeit, rechtskonform bejaht hat.
- Höhe der Busse: Die Busse wird gemäss Art. 56 Abs. 1 StHG i.V.m. Art. 69 Abs. 2 LPFisc in der Regel auf den hinterzogenen Steuerbetrag festgesetzt, kann bei leichter Schuld bis auf einen Drittel reduziert und bei schwerer Schuld bis auf das Dreifache erhöht werden. Die konkrete Höhe richtet sich nach dem Verschuldensgrad und den allgemeinen Strafzumessungsgrundsätzen (Art. 47, 106 Abs. 3 StGB analog), wobei insbesondere Betrag der hinterzogenen Steuer, Vorgehen, Motivation sowie persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse zu berücksichtigen sind (BGE 144 IV 136 E. 7.2.1 f.). Das Bundesgericht überprüft die Bussenhöhe nur unter dem Gesichtspunkt des Ermessensmissbrauchs (BGE 144 IV 136 E. 9.1).
- Anwendung auf den Fall: Die Vorinstanz hielt eine Busse von 0.5 Mal dem hinterzogenen Betrag (welcher auf einem beträchtlichen Nettoeinkommen basierte) für gerechtfertigt und nicht übermässig. Sie qualifizierte das Verschulden des Beschwerdeführers als mindestens mittlere Fahrlässigkeit aufgrund seiner mangelnden Kooperation und seiner Ausbildung, die ihm die Steuerpflichten bewusst machen musste. Das Argument des Beschwerdeführers, wonach er gemäss Art. 2 Abs. 2 der Verordnung über die Anwendung des StHG (StHGV) eine Kopie der Waadtländer Erklärung hätte einreichen können und ihm nur eine "einfache Verfahrenspflichtverletzung" (Nichtinformation über die Verzögerung der Waadtländer Erklärung) vorzuwerfen sei, wurde vom Gericht zurückgewiesen. Ihm oblag es nicht nur, die Behörde über die Verzögerung zu informieren, sondern auch über die selbständige Tätigkeit. Die Vorinstanz hat ihr Ermessen nicht überschritten oder missbraucht, indem sie die Busse auf die Hälfte des hinterzogenen Betrags festsetzte.
- Fazit: Die Busse von 50 % des hinterzogenen Betrags ist angemessen.
Ergebnis
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab und bestätigte das Urteil der Cour de justice. Damit wurden die Nachsteuerveranlagung und die Busse (in der von der Vorinstanz reduzierten Höhe) bestätigt.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Das Schreiben der Genfer Steuerverwaltung vom 22. Juni 2017, das auf eine Besteuerung für 2016 verzichtete und die steuerbaren Elemente implizit auf Null setzte, ist als materielle Veranlagungsverfügung für die ICC 2016 zu qualifizieren.
- Dadurch wurde die relative Verjährung des Veranlagungsrechts unterbrochen; die absolute Verjährung für das Nachsteuer- und Bussenverfahren war ebenfalls nicht eingetreten.
- Die selbständige Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers in Genf, die der Steuerverwaltung erst nach der Null-Veranlagung bekannt wurde, stellte eine neue Tatsache dar, welche die Eröffnung eines Nachsteuerverfahrens rechtfertigte. Eine schwere Sorgfaltspflichtverletzung der Behörde, die den Kausalzusammenhang unterbrochen hätte, lag nicht vor.
- Aufgrund der fehlenden Kooperation (Nichtabgabe der Steuererklärung, Nichtinformation über die selbständige Tätigkeit) hat der Beschwerdeführer eine Steuerhinterziehung, zumindest durch Fahrlässigkeit, begangen.
- Die Festsetzung der Busse auf die Hälfte des hinterzogenen Betrags durch die Vorinstanz (reduziert gegenüber der ursprünglichen Busse) liegt im Rahmen des Ermessens und ist nicht zu beanstanden.