Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_246/2024 vom 22. Mai 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 2C_246/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts:

Bundesgericht, Urteil 2C_246/2024 vom 22. Mai 2025

Gegenstand: Stromversorgung (Kostentragung für Netzanschlüsse)

Parteien: A.__ AG (Beschwerdeführerin) gegen diverse Gemeinden (Konzessionsgemeinden)

Überblick: Das Bundesgericht hatte über die Beschwerde der A._ AG gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden zu entscheiden. Streitig war die Auslegung einer Konzessionsbestimmung aus den Jahren 1954/1955, welche die Kostentragung für den Bau, Betrieb und Unterhalt von Stromübertragungs- und Verteilanlagen durch die Konzessionärin (A._ AG) regelte. Konkret ging es um die Frage, ob diese Verpflichtung auch die Kosten für neue Netzanschlüsse im Zusammenhang mit Elektromobilität (Ladestationen) und energieintensiven Datenverarbeitungsanlagen (z.B. Krypto-Mining) innerhalb der Bauzonen umfasst, sowie um die prozessuale Geltendmachung der clausula rebus sic stantibus.

Sachverhaltliche Ausgangslage: Die Beschwerdeführerin betreibt Kraftwerke im Kanton Graubünden basierend auf Wasserkraftkonzessionen aus den Jahren 1954 und 1955. Art. 8 Abs. 1 der beiden massgebenden Konzessionen (1 und 2) verpflichtete den "Beliehenen" (später A.__ AG), "sämtliche Übertragungs- und Verteilanlagen [...] bis zu den Hausanschlüssen in den 'Gemeinden' [...] exkl. Hausinstallationen und Verbrauchseinrichtungen" auf eigene Kosten zu erstellen, zu betreiben und zu unterhalten. Zur Konkretisierung wurden Energieversorgungsverträge abgeschlossen, zuletzt 2015. In den Verhandlungen über die Kostenübernahme für Netzanschlüsse für Elektromobilität und energieintensive Datenverarbeitungsanlagen (sog. "besondere Netzanschlüsse") innerhalb der Bauzonen vertrat die Beschwerdeführerin die Ansicht, diese Kosten seien nicht von Art. 8 Abs. 1 erfasst. Nach gescheiterten Verhandlungen erhoben die Konzessionsgemeinden Klage vor dem Verwaltungsgericht Graubünden.

Entscheid der Vorinstanz (Verwaltungsgericht Graubünden): Das Verwaltungsgericht hiess die Klage der Konzessionsgemeinden mit Bezug auf die Konzessionen 1 und 2 gut. Es verpflichtete die Beschwerdeführerin, die Kosten für die Netzanschlüsse für Elektromobilität und energieintensive Endverbraucher innerhalb der im Dezember 2015 ausgeschiedenen Bauzonen zu übernehmen. Ferner wurde die Beschwerdeführerin zur Offenlegung und Rückerstattung der seit 2015 in diesem Zusammenhang bereits an Anschlussnehmer überwälzten Kosten verpflichtet. Das Verwaltungsgericht begründete seinen Entscheid massgeblich mit einer Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Konzessionen basierend auf dem subjektiven (tatsächlichen) Parteiwillen bei Vertragsschluss im Jahr 1954. Es folgerte aus dem Wortlaut ("sämtliche"), der Vorgeschichte (Protokollnotiz, dass die Verpflichtung "ausserordentlich weit" gehe), der langen Vertragsdauer und dem nachträglichen Verhalten der Parteien (Einigung 2015 nur auf räumliche, nicht aber sachliche Beschränkung auf Bauzonen), dass die Parteien einen umfassenden Willen zur Kostenübernahme durch die Konzessionärin bis zum Hausanschluss gehabt hätten. Den Einwand der Beschwerdeführerin betreffend die clausula rebus sic stantibus behandelte das Verwaltungsgericht nicht materiell, da es die Ansicht vertrat, dieser müsse im Klageverfahren mittels (Eventual-)Widerklage und nicht nur einredeweise geltend gemacht werden.

Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Zulässigkeit und Eintretensvoraussetzungen: Das Bundesgericht bejaht die Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 BGG). Es tritt auf die Beschwerde ein (E. 1.1).

  2. Prozedurale Einwände der Beschwerdeführerin:

    • Rechtsschutzinteresse: Die Beschwerdeführerin rügte, das Rechtsschutzinteresse der Klägerinnen (Gemeinden) sei nach dem Parteiwechsel nicht geprüft worden. Das Bundesgericht weist diesen Einwand als unbegründet zurück. Die Gemeinden als Konzessionsgeberinnen und Rechtsinhaberinnen der geltend gemachten Ansprüche hätten offensichtlich ein Rechtsschutzinteresse an der Klage. Eine willkürliche Rechtsanwendung sei nicht gegeben (E. 2.1).
    • Form des Dispositivs: Die Beschwerdeführerin bemängelte, das Dispositiv genüge den Anforderungen an eine Leistungsklage nicht, da es nicht auf Zahlung eines bezifferten Geldbetrags laute, sondern eine Übernahmepflicht statuiere. Das Bundesgericht entgegnet, die Gemeinden hätten kein Geld, sondern ein bestimmtes Verhalten (Kostenübernahme für Erstellung/Ausbau von Leitungen) eingeklagt, was zulässig sei (Art. 84 Abs. 1 ZPO). Die Verpflichtung zur Offenlegung und Erstattung sei ebenfalls genügend bestimmt (E. 2.2, 2.3).
  3. Auslegung der Konzessionsbestimmung (Art. 8 Abs. 1):

    • Das Bundesgericht hält fest, dass Wasserkraftkonzessionen sowohl vertragliche als auch hoheitliche Elemente enthalten. Vertragliche Bestimmungen werden wie öffentlich-rechtliche Verträge ausgelegt: primär nach dem subjektiven Parteiwillen (Art. 18 Abs. 1 OR), subsidiär nach dem Vertrauensgrundsatz (normative Auslegung) (E. 3.1). Während die Ermittlung des subjektiven Willens Tatfrage ist und nur auf Willkür überprüfbar ist, ist die normative Auslegung bei Wasserkraftkonzessionen Rechtsfrage, die vom BGer frei geprüft wird (E. 3.2).
    • Das Bundesgericht prüft die Rügen der Beschwerdeführerin, die Feststellung des subjektiven Parteiwillens durch die Vorinstanz sei willkürlich (Art. 97 Abs. 1 BGG).
      • Vertragszweck: Die Beschwerdeführerin argumentierte, der Zweck sei die Erschliessung der lokalen Bevölkerung/Kleingewerbe gewesen, nicht Energieexport oder überregionale Mobilität. Das BGer weist dies zurück. Der Vertragszweck der Konzession sei die Verleihung von Wasserrechten gegen Gegenleistungen. Die Interessen der Gemeinden auf umfassende Gegenleistungen (hier: flächendeckende Erschliessung bis zum Hausanschluss, unabhängig von Nutzungsart) sei mit dem Wortlaut vereinbar und nicht willkürlich gefolgert. Die damals nicht absehbaren Entwicklungen (E-Mobilität, Datenzentren) ändern nichts am ursprünglichen Willen zur umfassenden Erschliessungspflicht (E. 4.2.1, 4.2.2).
      • Würdigung des Protokolls: Die Beschwerdeführerin rügte, die Vorinstanz habe die Protokollstelle unvollständig gewürdigt, indem sie nur den Hinweis auf die weitreichende Verpflichtung, nicht aber die anschliessende Bemerkung über die praktisch nicht übermässige Belastung berücksichtigt habe. Das BGer hält fest, diese Bemerkung sei eine Prognose gewesen, kein Ausdruck eines Willens zur Begrenzung der Verpflichtung. Die Feststellung der Vorinstanz sei nicht unhaltbar (E. 4.2.3).
      • Nachträgliches Verhalten: Die Beschwerdeführerin führte die Diskussionen über eine "vernünftige Auslegung" und die Ablehnung einer "Subventionierung" als Beleg für eine gewollte Begrenzung an. Das BGer entgegnet, nachträgliche Verständigungen über Auslegungsfragen, insbesondere bei langjährigen Verträgen, sind üblich und bedeuten nicht, dass der ursprüngliche Wille von einer Begrenzung ausging. Dass die Diskussionen stets nur die räumliche Ausdehnung betrafen, zeige gerade, dass die sachliche Tragweite (umfassende Kostenübernahme) bis zum aktuellen Streit unbestritten war. Die Feststellung der Vorinstanz sei auch insoweit nicht willkürlich (E. 4.2.4, 4.2.5).
    • Fazit zur Auslegung: Das Bundesgericht bestätigt, dass die Vorinstanz willkürfrei zum Schluss gekommen sei, dass der übereinstimmende tatsächliche Parteiwillen die umfassende Kostenübernahme für die elektrische Erschliessung sämtlicher Liegenschaften bis zum Hausanschluss umfasste, später nur räumlich (auf Bauzonen) beschränkt wurde. Dies schliesse auch die Kosten für die neuen Nutzungsarten ein (E. 4.2.6).
  4. Geltendmachung der clausula rebus sic stantibus:

    • Dies ist der Kernpunkt, der zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils führt. Die Beschwerdeführerin hatte argumentiert, die unvorhersehbare Entwicklung (E-Mobilität, energieintensive Datenzentren) rechtfertige unter dem Grundsatz der clausula rebus sic stantibus eine Vertragsanpassung, sodass sie die Kosten nicht tragen müsse.
    • Die Vorinstanz hatte diesen Einwand aus prozessualen Gründen nicht geprüft, da sie der Ansicht war, die clausula rebus sic stantibus müsse im Rahmen des Klageverfahrens durch eine (Gestaltungs-)Widerklage und nicht lediglich einredeweise geltend gemacht werden. Ohne entsprechenden Antrag sei das Gericht an die Dispositionsmaxime gebunden und könne keine Vertragsanpassung verfügen (E. 5.1, 5.4.2).
    • Das Bundesgericht hält diese Auffassung der Vorinstanz für falsch. Es sei fraglich, ob die clausula rebus sic stantibus überhaupt ein Gestaltungsklagerecht darstelle, aber selbst wenn, anerkenne Lehre und Rechtsprechung, dass der Anspruch auf (korrigierende) Vertragsergänzung auch einredeweise geltend gemacht werden kann (E. 5.4.3). Die Auffassung der Vorinstanz widerspreche der herrschenden Meinung und Rechtsprechung.
    • Mehr noch: Selbst wenn die prozessuale Auffassung der Vorinstanz als kantonales Recht nicht willkürlich wäre, liefe ihr Vorgehen im konkreten Fall auf eine formelle Rechtsverweigerung hinaus (E. 5.4.4). Da die Beschwerdeführerin die Übernahme der Kosten von Anfang an unter Hinweis auf die veränderten Umstände verweigerte und die Thematik der clausula rebus sic stantibus damit für das Verwaltungsgericht "auf dem Tisch" lag, hätte das Gericht die Beschwerdeführerin über seine strenge prozessuale Auffassung (Notwendigkeit einer Widerklage) informieren müssen, um ihr rechtzeitig Gelegenheit zur Einreichung einer solchen zu geben. Indem es dies unterliess und die zentrale materielle Frage gestützt auf diese unklare und umstrittene prozessuale Rechtsansicht nicht behandelte, verweigerte es der Beschwerdeführerin formal Recht (E. 5.4.4).
    • Das Bundesgericht kann die materiellen Voraussetzungen der clausula rebus sic stantibus (Unvorhersehbarkeit, Unvermeidbarkeit, gravierende Äquivalenzstörung etc.) nicht selbst prüfen, da dies weitere Sachverhaltsfeststellungen und eine rechtliche Würdigung durch die Vorinstanz erfordert (E. 5.4.5).

Ergebnis: Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts auf und weist die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Die Vorinstanz muss nun die Voraussetzungen der clausula rebus sic stantibus materiell prüfen und gestützt darauf über die Klage entscheiden (E. 5.4.5).

Kosten: Die Gerichtskosten des Bundesgerichtsverfahrens werden den unterliegenden Gemeinden auferlegt (solidarisch haftend). Die Gemeinden haben der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (E. 6).

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Die A.__ AG hat gemäss subjektiver Vertragsauslegung (von der Vorinstanz willkürfrei festgestellt) die umfassende Pflicht übernommen, die Stromübertragungs- und Verteilanlagen bis zum Hausanschluss auf eigene Kosten zu erstellen, zu betreiben und zu unterhalten, was auch Anschlüsse für Elektromobilität und energieintensive Datenzentren umfasst.
  • Der Einwand der clausula rebus sic stantibus war für die Beschwerdeführerin von zentraler Bedeutung, wurde aber von der Vorinstanz aus prozessualen Gründen (fehlende Widerklage) nicht geprüft.
  • Das Bundesgericht korrigiert die prozessuale Rechtsauffassung der Vorinstanz: Der Anspruch auf Vertragsanpassung infolge clausula rebus sic stantibus kann auch einredeweise geltend gemacht werden.
  • Die Verweigerung der materiellen Prüfung der clausula rebus sic stantibus durch die Vorinstanz stellte eine formelle Rechtsverweigerung dar.
  • Das Bundesgericht weist die Sache an die Vorinstanz zurück, damit diese die materiellen Voraussetzungen für eine Vertragsanpassung gestützt auf die clausula rebus sic stantibus prüft und gestützt darauf neu entscheidet.