Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_611/2024 vom 2. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (2C_611/2024 vom 2. Juni 2025) detailliert auf Deutsch zusammen:

Bundesgerichtsurteil 2C_611/2024 vom 2. Juni 2025

Gegenstand: Disziplinarmassnahme gegen einen Rechtsanwalt (Verwarnung) wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht (Art. 12 lit. a des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte, BGFA).

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer D.__ ist Rechtsanwalt im Kanton Genf. Er wurde am 28. März 2022 als amtlicher Verteidiger für A. in einem Strafverfahren bestellt (Fall notwendiger Verteidigung gemäss Art. 130 lit. b StPO). In erster Instanz wurde A. vom Vorwurf der versuchten Vergewaltigung und sexuellen Nötigung der Nebenklägerin B. freigesprochen, jedoch wegen einfacher Körperverletzung, geringfügiger einfacher Körperverletzung, Tätlichkeiten und Beschimpfung verurteilt. B. legte gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung ein, insbesondere gegen den Freispruch von A. bezüglich der versuchten Vergewaltigung, und verlangte von A. Fr. 10'000.- Schmerzensgeld.

In der Berufungsverhandlung vom 21. September 2023 vor der Strafkammer der Cour de justice Genf stellte das Gericht die Abwesenheit von B. fest. Deren Anwalt gab an, den Ladungsbefehl übermittelt zu haben, habe aber seit einiger Zeit keine Nachrichten mehr von seiner Klientin erhalten. Die Strafkammer lud die Parteien ein, sich zur Frage der "Nichtanwesenheit von B., welche als Rücknahme der Berufung im Sinne von Art. 407 Abs. 1 StPO gilt" zu äussern. Die Staatsanwaltschaft plädierte und beantragte die Rücknahme der Berufung von B., mit der Begründung, dass deren Anwalt seine Klientin nicht mehr vertreten könne. Der Beschwerdeführer (Anwalt D._) überliess die Beurteilung dem Gericht ("s'en est rapporté à justice"). Anschliessend beantragte der Anwalt von B., seine Klientin gestützt auf eine Vollmacht aus dem Jahr 2021 vertreten zu dürfen. Nach Beratung hielt die Strafkammer im vorbereitenden Beschluss vom 25. September 2023 fest, dass die Berufung von B. als zurückgenommen gelte (Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO), was den Freispruch von A. bezüglich der versuchten Vergewaltigung unanfechtbar mache. In der Folge seien die Voraussetzungen für die notwendige Verteidigung von A. nicht mehr erfüllt, und das Mandat des Beschwerdeführers als amtlicher Verteidiger wurde mit sofortiger Wirkung widerrufen. Das Gericht beanstandete zusätzlich, dass die Verteidigung von A. aufgrund der unzureichenden Intervention des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der Nichtanwesenheit von B. nicht mehr gewährleistet gewesen sei. Es sei "zumindest von Me D._ erwartet [worden], dass er die Position der Staatsanwaltschaft unterstützt, wobei diese auf die Feststellung der Rücknahme der von B. eingelegten Berufung geschlossen hatte".

Vorinstanzen:

  1. Anwaltskommission des Kantons Genf: Erhielt eine Kopie des vorbereitenden Beschlusses der Strafkammer. Sie erliess am 17. Juni 2024 eine Verwarnung gegen den Beschwerdeführer wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht. Der Anwalt habe durch seine Passivität in der Berufungsverhandlung vom 21. September 2023, indem er die Beurteilung dem Gericht überliess, gegen seine Pflicht verstossen.
  2. Verwaltungsgericht der Cour de justice Genf (Chambre administrative): Wies die Beschwerde des Anwalts gegen die Verwarnung am 29. Oktober 2024 ab. Es begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Berufung von B. für A. von grosser Bedeutung gewesen sei (drohende Verurteilung wegen schwerer Delikte, Schmerzensgeldforderung). Da die Abwesenheit von B. zur Rücknahme der Berufung führen und somit den endgültigen Freispruch für A. bedeuten konnte (Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO), sei es offensichtlich gewesen, dass es dem Anwalt oblag, diesen Punkt zu Gunsten seines Klienten aufzugreifen. Die Strafkammer habe ein gewisses Ermessen gehabt und hätte die Vertretung von B. durch ihren Anwalt zulassen können, was zu einer neuen Verhandlung über die schweren Vorwürfe hätte führen können. Indem der Beschwerdeführer auf eine für die Verteidigung seines Klienten so wichtige prozessuale Frage die Beurteilung dem Gericht überliess, habe er die von einem amtlichen Verteidiger geforderte Sorgfalt vermissen lassen.

Entscheidung des Bundesgerichts:

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Anwalts gut und hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2024 auf. Die Disziplinarmassnahme (Verwarnung) gegen den Beschwerdeführer wird aufgehoben.

Begründung des Bundesgerichts im Detail:

  1. Zulässigkeit der Beschwerde: Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit und tritt auf die Beschwerde ein (endgültiger Entscheid, kantonales letztinstanzliches Gericht, öffentlich-rechtliche Angelegenheit, frist- und formgerecht eingereicht, Beschwerdelegitimation). Diese Punkte werden im Folgenden gemäss der Vorgabe als nebensächlich behandelt, soweit sie nicht die Begründung des Hauptpunktes beeinflussen.
  2. Prüfungsstandard: Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Bundesrecht frei (Art. 95 lit. a, 106 Abs. 1 BGG). Die Verletzung von Grundrechten prüft es nur, wenn ein solcher Rüge erhoben und begründet wurde (Art. 106 Abs. 2 BGG).
  3. Streitgegenstand: Im Kern geht es um die Frage, ob das Verhalten des Anwalts, sich zur Frage der Berufungsrücknahme durch die Nebenklägerin dem Gericht zu unterstellen ("s'en rapporter à justice"), eine Verletzung der anwaltlichen Sorgfaltspflicht (Art. 12 lit. a BGFA) darstellt, die eine Disziplinarmassnahme rechtfertigt.
  4. Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA:

    • Grundsatz der Sorgfaltspflicht: Art. 12 lit. a BGFA verlangt, dass der Anwalt seinen Beruf mit Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit ausübt. Dies ist eine Generalklausel für korrektes Verhalten. Die erste Berufspflicht ist die Verteidigung der Interessen der Klienten. Der Anwalt hat dabei einen weiten Ermessensspielraum bei der Wahl der Mittel und Strategien zur Erreichung dieses Ziels (Verweis auf BGE 144 II 473, 131 IV 154).
    • Schwellenwert für Disziplinarmassnahmen: Disziplinarrechtliche Massnahmen sind nur bei signifikanten Pflichtverletzungen gerechtfertigt. Allerdings muss das beanstandete Verhalten keine qualifizierte Schwere aufweisen, um disziplinarisch relevant zu sein. Sehr leichte oder einmalige Verstösse rechtfertigen zwar keine Massnahme, aber bereits die mildeste Sanktion (Verwarnung) ist bei wenig bedeutenden Mängeln zulässig, um den Anwalt auf potenzielle Folgen aufmerksam zu machen (Verweis auf BGE 149 II 109, 148 I 1). Das Disziplinarrecht zielt auf die Prävention zukünftigen Fehlverhaltens ab.
    • Einschränkung bei technischen Fehlern: Hier kommt die entscheidende Nuance ins Spiel. Gemäss Lehre genügen fehlerhafte Ratschläge, Verfahrensfehler, aus strategischer oder psychologischer Sicht ungeeignete Prozesshandlungen oder Verzögerungen alleine nicht, um eine disziplinierbare Pflichtverletzung darzustellen (Verweis auf Bohnet/Martenet, Fellmann, Valticos). Die Aufsichtsbehörde ist nicht dazu berufen, die Mandatsführung zu beurteilen. Solche Fehler können allenfalls zu einer zivilrechtlichen Haftung des Anwalts führen, falls dem Klienten ein Schaden entsteht. Disziplinarisch relevant werden sie nur, wenn der Anwalt seinem Klienten auf eine Art und Weise rät oder handelt, die den Interessen des Klienten zuwiderläuft und auf einem groben Fehler oder schwerer Nachlässigkeit beruht, oder wenn er gar vorsätzlich gegen die Interessen des Klienten handelt. Beispiele für disziplinarisch relevante Nachlässigkeiten sind äusserst nachlässige Mandatsführung, ungerechtfertigte Fristversäumnisse, Unterlassen notwendiger Massnahmen zur Verteidigung der Interessen, Nichterscheinen an Verhandlungen etc.
    • Anwendung auf den konkreten Fall: Der Klient des Beschwerdeführers war erstinstanzlich vom Hauptvorwurf freigesprochen worden. Die Berufung der Nebenklägerin zielte auf diesen Freispruch ab und verlangte Schmerzensgeld. In der Berufungsverhandlung stellte das Gericht die Abwesenheit der Berufungsklägerin fest. Das Gericht warf von sich aus die Frage der Anwendung von Art. 407 StPO auf (Rücknahme der Berufung wegen unentschuldigter Abwesenheit). Bevor der Beschwerdeführer sich äusserte, hatte die Staatsanwaltschaft bereits den für den Klienten günstigen Schluss gezogen, dass die Berufung von B. als zurückgenommen gelten müsse, weil ihr Anwalt sie nicht vertreten könne.
    • Beurteilung des Verhaltens: Das Bundesgericht stellt fest, dass unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und des Ermessensspielraums des Anwalts bezüglich des Prozessverlaufs das Verhalten des Beschwerdeführers, die Beurteilung der Frage der Berufungsrücknahme dem Gericht zu überlassen, keinen technischen Fehler darstellt, der den erforderlichen Schweregrad erreicht, um unter Art. 12 lit. a BGFA zu fallen und eine Disziplinarmassnahme zu rechtfertigen. Das Gericht selbst hatte die Frage aufgeworfen, und die Staatsanwaltschaft hatte bereits die für den Klienten günstigste Schlussfolgerung gezogen. In dieser spezifischen Situation war das Überlassen der Beurteilung an das Gericht, das die Frage ohnehin prüfte und dessen Entscheid nach Art. 407 StPO zugunsten des Klienten zu erwarten war (und dann auch erfolgte), kein "grober Fehler" oder "schwere Nachlässigkeit" im Sinne der disziplinarrechtlichen Kriterien für technische Fehler.
    • Irrelevanz des fehlenden Schadens: Das Bundesgericht hält fest, dass das Fehlen eines Schadens für den Klienten des Beschwerdeführers (die Berufung wurde ja zurückgenommen, der Freispruch blieb bestehen) für das Disziplinarverfahren irrelevant ist. Disziplinarverfahren dienen dem öffentlichen Interesse an der Wahrung des Ansehens des Berufsstandes und sind schadensunabhängig. Dieser Punkt beeinflusst aber nicht die Entscheidung über den Schweregrad des beanstandeten Verhaltens selbst.
    • Schlussfolgerung: Die Vorinstanz hat Art. 12 lit. a BGFA verletzt, indem sie das Verhalten des Anwalts als disziplinarisch relevant einstufte. Der Einwand des Beschwerdeführers ist begründet.
  5. Weitere Rügen: Da die Beschwerde bereits aufgrund der Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA gutgeheissen wird, müssen die weiteren vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen nicht mehr geprüft werden.

  6. Kosten und Entschädigung: Der Rekurs wird gutgeheissen, das vorinstanzliche Urteil aufgehoben. Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 3 BGG), die dem Kanton Genf auferlegt wird. Die Sache wird zur Neuregelung der Kosten und Parteientschädigung des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Ein Rechtsanwalt wurde wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht (Art. 12 lit. a BGFA) verwarnt, weil er in einer Berufungsverhandlung auf die Frage der Rücknahme der Berufung der Gegenpartei die Beurteilung dem Gericht überliess, statt aktiv zu Gunsten seines Klienten (der vom Hauptvorwurf freigesprochen worden war) zu argumentieren.
  • Das Bundesgericht präzisiert die Schwelle für disziplinare Massnahmen bei technischen Fehlern des Anwalts. Reine Verfahrensfehler, strategische Unzulänglichkeiten oder fehlerhafte Ratschläge begründen alleine noch keine disziplinarische Verantwortlichkeit, sondern primär eine zivilrechtliche Haftung bei Schaden.
  • Disziplinarische Relevanz bei technischen Fehlern besteht nur bei groben Fehlern oder schwerer Nachlässigkeit, die den Interessen des Klienten entgegenstehen (oder bei Vorsatz).
  • Im vorliegenden Fall sah das Bundesgericht das Verhalten des Anwalts, die Beurteilung dem Gericht zu überlassen, nicht als einen Fehler an, der den erforderlichen Schweregrad für eine Disziplinarmassnahme erreicht. Dies insbesondere unter Berücksichtigung der konkreten Umstände: das Gericht hatte die Frage selbst aufgeworfen und die Staatsanwaltschaft hatte bereits die für den Klienten günstige Position vertreten.
  • Das Bundesgericht hebt daher die Verwarnung auf und stellt fest, dass die Vorinstanz Art. 12 lit. a BGFA verletzt hat.

Dieses Urteil verdeutlicht die Abgrenzung zwischen (nicht disziplinierbaren) technischen Fehlern und (disziplinierbaren) groben Sorgfaltspflichtverletzungen im Anwaltsrecht und unterstreicht, dass die disziplinarische Beurteilung von anwaltlichem Verhalten stets im Lichte der konkreten Umstände und des dem Anwalt zustehenden Ermessensspielraums erfolgen muss.