Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_1411/2024 vom 16. Juni 2025

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Absolut. Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_1411/2024 vom 16. Juni 2025:

Bundesgerichtsurteil 7B_1411/2024 vom 16. Juni 2025

Gericht: Bundesgericht, II. Strafrechtliche Abteilung Gegenstand: Aufhebung der Siegelung (Levée de scellés) Parteien: A.__ und EPFL (École polytechnique fédérale de Lausanne) als Beschwerdeführer gegen das Ministère public de l'arrondissement de Lausanne.

1. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

Das Verfahren begann mit einer Strafanzeige wegen Verleumdung und subsidiär Ehrverletzung, eingereicht von einem Professor der EPFL. Die Anzeige wurde später auf unbekannte Täter ausgeweitet, insbesondere bezüglich eines Schreibens vom 21. März 2023, das anonym an die EPFL-Vizepräsidentschaft und andere Stellen gerichtet war. Nachdem das Ministère public (MP) das Verfahren zunächst eingestellt hatte, wurde diese Einstellung durch die Chambre des recours pénale des Kantons Waadt aufgehoben, mit der Anweisung, die Ermittlungen zur Identifizierung der Autoren des Schreibens fortzusetzen.

Im Rahmen dieser Ermittlungen forderte das MP den Beschwerdeführer A._, als damaligen Adressaten des Schreibens in seiner Funktion als Vizepräsident, auf, die Originalversion des Schreibens herauszugeben. A._ weigerte sich zunächst und berief sich auf die Verantwortung der EPFL als Ausbildungsinstitution, die studentische und berufliche Laufbahn der Unterzeichner zu schützen. Nach wiederholter Aufforderung unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen (Art. 292, 305 StGB) lieferten A._ und die EPFL das Schreiben auf einem USB-Stick ab, beantragten aber gleichzeitig die Siegelung des Datenträgers unter Berufung auf das Amtsgeheimnis des Beschwerdeführers A._.

Das MP stellte daraufhin beim Tribunal des mesures de contrainte (TMC) des Kantons Waadt den Antrag auf Aufhebung der Siegelung. A.__ und die EPFL beantragten die Aufrechterhaltung der Siegelung, erneut gestützt auf das Amtsgeheimnis.

Das TMC gab dem Antrag des MP statt und ordnete mit Verfügung vom 12. November 2024 die Aufhebung der Siegelung an. Es setzte den Beschwerdeführern eine Frist, um ihre Absicht, das Bundesgericht anzurufen und den Vollzug aufzuschieben, mitzuteilen.

Dagegen erhoben A.__ und die EPFL Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragten primär die Abweisung des Antrags auf Aufhebung der Siegelung und die Aufrechterhaltung der Siegelung.

2. Die Argumente der Beschwerdeführer

Die Beschwerdeführer machten im Wesentlichen geltend, das TMC habe zu Unrecht entschieden, dass sie als Dritte im Sinne von Art. 105 Abs. 1 Bst. f StPO sich nicht auf einen Versagungsgrund gemäss Art. 264 Abs. 1 Bst. c i.V.m. Art. 170 StPO (Amtsgeheimnis) berufen könnten. Sie beanstandeten ferner, dass das TMC die Auffassung vertrat, A.__ hätte die Entbindung von seinem Amtsgeheimnis beantragen müssen. Unter Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit argumentierten die Beschwerdeführer, es bestünden, gemessen am Inhalt des Schreibens, keine hinreichenden Verdachtsmomente für eine Straftat. Im vorliegenden Fall müsse die Aufrechterhaltung des Amtsgeheimnisses dem Interesse an der Wahrheitsfindung vorgehen, um den Mechanismus der EPFL zu schützen, der es Studierenden erlaube, in gutem Glauben Missstände (insbesondere unangemessenes Verhalten) zu melden.

3. Die rechtlichen Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde und bestätigte, dass die angefochtene Verfügung des TMC als Endentscheid im Sinne von Art. 80 Abs. 2 in fine LTF in Verbindung mit den relevanten StPO-Bestimmungen grundsätzlich mit Beschwerde in Strafsachen anfechtbar ist. Da die Beschwerdeführer als Dritte im Sinne von Art. 105 Abs. 1 Bst. f StPO betroffen seien und die Verfügung das Verfahren nicht abschliesse, handle es sich um einen Teilentscheid im Sinne von Art. 91 Bst. b LTF, dessen Anfechtbarkeit nicht von der Voraussetzung eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils abhänge (Art. 93 Abs. 1 Bst. a LTF). Ihre Legitimation als Inhaber bzw. Berechtigte des betroffenen Datenträgers wurde nicht bestritten (Art. 81 Abs. 1 Bst. a und b LTF). Neue, nicht vor dem TMC geltend gemachte Tatsachen (wie eine interne EPFL-Verfügung zur Nichtentbindung vom Amtsgeheimnis) wurden vom Bundesgericht gemäss Art. 99 Abs. 1 LTF nicht berücksichtigt.

Das Bundesgericht analysierte die relevanten Bestimmungen des Strafprozessrechts (StPO) und des materiellen Rechts (StGB, LPers, OPers): * Art. 248 Abs. 1 StPO: Verpflichtet die Strafbehörde zur Siegelung von Gegenständen, wenn der Inhaber die Beschlagnahme gestützt auf Art. 264 StPO verweigert. * Art. 264 Abs. 1 Bst. c StPO: Listet Gegenstände und Dokumente auf, die nicht beschlagnahmt werden dürfen, darunter solche betreffend Kontakte zwischen dem Beschuldigten und einer Person, die ein Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 170-173 StPO hat, sofern diese Person nicht selbst Beschuldigte in derselben Sache ist. * Art. 170 StPO: Regelt das Zeugnisverweigerungsrecht aufgrund des Amtsgeheimnisses für Beamte, ihre Hilfspersonen sowie Behördenmitglieder und ihre Hilfspersonen. Dieses Recht ist relativ. Gemäss Art. 170 Abs. 2 Bst. b StPO besteht eine Zeugnispflicht, wenn die vorgesetzte Behörde eine schriftliche Ermächtigung erteilt hat. Gemäss Art. 170 Abs. 3 StPO muss die vorgesetzte Behörde die Zeugnispflicht anordnen, wenn das Interesse an der Wahrheitsfindung das Geheimhaltungsinteresse überwiegt. * Art. 320 StGB: Stellt die Verletzung des Amtsgeheimnisses unter Strafe, sieht aber in Art. 320 Ziff. 2 StGB eine Straflosigkeit vor, wenn die Offenbarung mit schriftlicher Zustimmung der vorgesetzten Behörde erfolgt. * LPers/OPers/EPFL-Regeln: Bestätigen die Geltung des Amtsgeheimnisses für das Personal der EPFL (als Teil des ETH-Bereichs und damit des Bundespersonals) und sehen Ausnahmen von der Geheimnispflicht und der Zeugnispflicht vor, insbesondere bei einer schriftlichen Ermächtigung durch die zuständige Behörde und bei Offenbarungspflichten. Art. 22a LPers regelt explizite Anzeigepflichten (nicht einschlägig für Ehrverletzungsdelikte). EPFL-interne Richtlinien (wie LEX 1.8.1) regeln den Umgang mit Meldungen (Whistleblowing) und sehen Ausnahmen von der Vertraulichkeit bei Offenbarungspflichten aufgrund gerichtlicher Verfahren vor.

Das Bundesgericht stellte fest, dass der vorliegende Fall keine der Anzeigepflichten nach Art. 22a Abs. 1 LPers oder Art. 3a LEX 1.8.0.1 betrifft, da es sich um Anzeige- bzw. Antragsdelikte (Verleumdung/Ehrverletzung) handle. Es sei unbestritten, dass der Beschwerdeführer A._ als Vizepräsident der EPFL dem Amtsgeheimnis unterliege und das Schreiben ihm in dieser Funktion übermittelt wurde. Wichtig sei, dass das Schreiben potenziell die Identität der Autoren offenbare, die als mögliche Beschuldigte in Betracht kämen. Somit stelle das Dokument einen Austausch zwischen einer Person mit Amtsgeheimnis (A._) und möglichen Beschuldigten dar (Art. 111 StPO in Verbindung mit Art. 264 Abs. 1 Bst. c StPO). Die Beschwerdeführer hätten sich daher zu Recht auf das Amtsgeheimnis berufen, um die Siegelung zu erwirken.

In Bezug auf die vom TMC vorgenommene Interessenabwägung gemäss Art. 170 Abs. 3 StPO und dessen Auffassung, das Interesse an der Wahrheitsfindung überwiege, entschied das Bundesgericht, dass es die Richtigkeit dieser Abwägung gar nicht prüfen müsse. Der entscheidende Punkt sei, dass das TMC als Siegelungsrichter nicht die zuständige Behörde sei, um den Beschwerdeführer A.__ von seinem Amtsgeheimnis zu entbinden. Diese Kompetenz liege ausschliesslich bei der vorgesetzten Behörde im Sinne von Art. 170 Abs. 2 Bst. b und Abs. 3 StPO (und Art. 320 Ziff. 2 StGB). Das Bundesgericht bestätigte die allgemeine Regel, dass Justizbehörden grundsätzlich nicht befugt sind, Beamte von ihrem Amtsgeheimnis zu entbinden (mit Verweis auf ATF 102 IV 217 und vergleichbare Konstellationen wie das Arztgeheimnis in ATF 147 IV 27).

Das TMC durfte somit die vom Gesetz der zuständigen vorgesetzten Behörde zugewiesene Interessenabwägung (Art. 170 Abs. 3 StPO) weder selbst vornehmen noch deren Ergebnis antizipieren, auch nicht aus prozessökonomischen Gründen. In Ermangelung einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die A.__ von seinem Amtsgeheimnis entbindet, durfte das TMC die Siegelung auf dem USB-Stick nicht aufheben.

4. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, soweit sie zulässig war. Es hob die Verfügung des TMC vom 12. November 2024 insoweit auf, als diese die Siegelung auf dem USB-Stick mit der Originalversion des Schreibens aufhob. Die Sache wurde zur neuen Entscheidung an das TMC zurückgewiesen.

Das TMC muss nun prüfen, ob die für die Entbindung vom Amtsgeheimnis zuständige Behörde (wer dies ist, war vor Bundesgericht nicht abschliessend zu klären) angerufen wurde, ob sie eine Entscheidung getroffen hat und ob diese gegebenenfalls in Rechtskraft erwachsen ist. Das TMC hat den Parteien das rechtliche Gehör zu gewähren und anschliessend unter Berücksichtigung dieser Punkte eine neue Entscheidung zu treffen.

Gerichtskosten wurden keine erhoben. Der Kanton Waadt wurde verpflichtet, den Beschwerdeführern eine Parteientschädigung (pauschal auf 2'500 CHF festgesetzt) zu zahlen, da sie obsiegten und anwaltlich vertreten waren.

5. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Die Siegelung des Datenträgers, der das Schreiben mit den Identitäten potenzieller Beschuldigter enthielt, wurde auf Berufung des Amtsgeheimnisses durch den Beschwerdeführer A.__ erwirkt, was gemäss Art. 264 Abs. 1 Bst. c i.V.m. Art. 170 StPO zulässig war.
  • Das Zwangsmassnahmengericht (TMC) ist nicht die zuständige Behörde für die Entbindung vom Amtsgeheimnis. Diese Kompetenz liegt bei der administrativen vorgesetzten Behörde des Beamten gemäss Art. 170 Abs. 2 Bst. b und Abs. 3 StPO.
  • Das TMC durfte die diesem übergeordnete Behörde vorbehaltene Interessenabwägung zur Frage, ob das Geheimhaltungsinteresse dem Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt, weder selbst vornehmen noch das Ergebnis antizipieren.
  • Solange keine rechtskräftige Entscheidung der zuständigen vorgesetzten Behörde vorliegt, die den Beamten von seinem Amtsgeheimnis entbindet, darf der Siegelungsrichter die Siegelung nicht aufheben.
  • Das Bundesgericht hob die Siegelungsaufhebung auf und wies die Sache an das TMC zurück, damit dieses den Entscheid der zuständigen vorgesetzten Behörde abwartet oder dessen Vorliegen prüft.