Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_657/2023 vom 24. März 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsentscheids 6B_657/2023 vom 24. März 2025:

1. Parteien und Gegenstand

Der Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts, 1. Strafrechtliche Abteilung, vom 24. März 2025 (Verfahren 6B_657/2023), betrifft die Strafzumessung im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Korruption fremder Amtsträger (Art. 322septies i.V.m. Art. 322ter ff. Strafgesetzbuch, StGB) und weiteren Delikten. Beschwerdeführer ist das Ministère public de la République et canton de Genève (Staatsanwaltschaft Genf). Beschwerdegegner sind A._ und B._, die von der Cour de justice Genf (Chambre pénale d'appel et de révision) in zweiter Instanz verurteilt worden waren. Die Staatsanwaltschaft focht mit ihrem Recours en matière pénale die Strafhöhe an, die sie als übermässig mild erachtete, und kritisierte insbesondere die Anwendung der Strafmilderung gemäss Art. 48 lit. e StGB (Strafmilderung wegen Zeitablaufs).

2. Sachverhalt (massgebende Punkte der Vorinstanz)

Die Vorinstanz (Cour de justice) stellte im Wesentlichen folgenden Sachverhalt fest, der für die strafrechtliche Würdigung relevant war:

  • Ab 2005 interessierte sich der Konzern von A._ (A.A._) für Bergbauprojekte in V._, insbesondere im U._-Gebiet.
  • Über Vermittler, namentlich B._ und L._, knüpfte A.A._ Kontakte zu lokalen Partnern wie E.D._, O._ und insbesondere D.D._, der vierten Ehefrau des damaligen Präsidenten N._. D.D._ stellte den Kontakt zum Präsidenten her.
  • Es wurden komplexe vertragliche und finanzielle Konstrukte geschaffen, unter anderem über die Offshore-Gesellschaft Q._ (formal erworben von B._ und Partnern, aber administrativ mit A.A._ verbunden), um A.A._ eine Beteiligung am U._-Projekt zu sichern und gleichzeitig D.D._ für ihren Einfluss zu entlohnen. Ein Protokoll vom 20. Februar 2006 sah eine kostenlose Beteiligung von 5% am Projekt für D.D._ über Q._ vor. Spätere Verträge (Februar 2008) mit T._ Ltd, einer Gesellschaft von D.D._, sicherten ihr weitere Zahlungen und Aktienanteile zu.
  • Am 28. Juli 2008 entzog Präsident N._ die Konzessionen im U._-Gebiet, die zuvor der Firma M._ zustanden, unter Umgehung der gesetzlichen Verfahren. Am 4. Dezember 2008 beschloss der Ministerrat die Vergabe der Blocks 1 und 2 an A.A._. Präsident N.__ übte massiven Druck auf seine Minister aus, um dies zu erreichen.
  • Nach dem Tod von Präsident N._ und einem Militärputsch verliess D.D._ das Land.
  • A.A._ schloss 2010 ein Joint-Venture mit einer anderen Firma (D1._) im Wert von USD 2.5 Milliarden ab und erhielt eine erste Zahlung von USD 500 Millionen.
  • D.D.__, die sich mit den ihr zugesagten Zahlungen (USD 4 Millionen gemäss einer Bestätigung von 2009, später auf ca. USD 5.5 Millionen erhöht) im Vergleich zum Joint-Venture-Wert unterbezahlt fühlte, denunzierte die Vereinbarung.
  • Im Rahmen von US-Ermittlungen wegen Geldwäscherei und Verstössen gegen den Foreign Corrupt Practices Act kollaborierte D.D._ mit den US-Behörden und liess Gespräche, namentlich mit B._, aufzeichnen (März/April 2013).
  • Diese aufgezeichneten Gespräche zeigten, dass B._ D.D._ eindringlich aufforderte, ihre Rolle als Ehefrau des Präsidenten, ihre Verbindungen zu A.A._ und ihre Beteiligung an der Konzessionsvergabe zu leugnen und belastende Dokumente zu vernichten, wobei ihm versprochen wurde, dass A._ von diesem Vorgehen wisse und dies wünsche.

3. Entscheid der Vorinstanz (Cour de justice)

Die Cour de justice Genf bestätigte im Berufungsverfahren die Schuldsprüche wegen Korruption fremder Amtsträger für A._ und B._ (sowie für eine weitere Person C.__). Sie passte jedoch die Strafen an:

  • A.__: Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren, davon 18 Monate unbedingt und 18 Monate bedingt bei einer Probezeit von 3 Jahren. Die erste Instanz hatte 5 Jahre unbedingt ausgesprochen.
  • B.__: Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren bedingt bei einer Probezeit von 3 Jahren. Die erste Instanz hatte 3.5 Jahre unbedingt ausgesprochen.

Die Vorinstanz begründete die reduzierten Strafen unter anderem mit der Anwendung der Strafmilderung gemäss Art. 48 lit. e StGB (Strafmilderung wegen Zeitablaufs).

4. Rechtsbegehren der Staatsanwaltschaft vor Bundesgericht

Die Staatsanwaltschaft beantragte die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils hinsichtlich der Strafzumessung für A._ und B._ und forderte höhere Strafen (4 Jahre 9 Monate für A._, 3 Jahre 6 Monate für B._). Sie rügte eine Verletzung von Art. 47 StGB (Strafzumessungsgrundsätze) und Art. 48 lit. e StGB (Strafmilderung wegen Zeitablaufs).

5. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die von der Staatsanwaltschaft gerügte Verletzung von Art. 47 und 48 lit. e StGB.

5.1. Grundsätze der Strafzumessung (Art. 47 StGB)

Das Bundesgericht rekapitulierte die Grundsätze von Art. 47 StGB: Der Richter bemisst die Strafe nach der Schuld des Täters, berücksichtigt Vorleben, persönliche Verhältnisse und Wirkung der Strafe. Die Schuld bestimmt sich nach der Schwere der Rechtsgutsverletzung/-gefährdung, der Verwerflichkeit des Handelns, den Motiven und Zielen des Täters sowie der Vermeidbarkeit. Es sind objektive (Tat), subjektive (Wille, Motive) und Täterkomponenten (Vorleben, persönliche Verhältnisse, Verhalten nach der Tat) zu berücksichtigen. Der Richter hat ein weites Ermessen; das Bundesgericht greift nur ein bei Gesetzesverstössen, Berücksichtigung sachfremder Kriterien, Nichtberücksichtigung relevanter Kriterien oder krasser Über- oder Unterschreitung des Ermessens (Ermessensmissbrauch).

5.2. Strafmilderung wegen Zeitablaufs (Art. 48 lit. e StGB)

Das Bundesgericht erläuterte Art. 48 lit. e StGB, wonach die Strafe zu mildern ist, wenn das Strafbedürfnis wegen des seit der Tat verstrichenen Zeitraums merklich gesunken ist und sich der Täter in dieser Zeit wohlverhalten hat. Diese Bestimmung folgt der Idee der Verjährung, um den Heilungseffekt des Zeitablaufs auch vor Eintritt der Verjährung zu berücksichtigen. * Zeitablauf: Es ist ein "relativ langer Zeitraum" erforderlich. Die Rechtsprechung nimmt dies an, wenn zwei Drittel der Verjährungsfrist erreicht sind. Der massgebende Zeitpunkt ist das Urteilsdatum der Berufungsinstanz, da deren Entscheid devolutive Wirkung hat (ATF 140 IV 145 E. 3.1). Hier betrug die Verjährungsfrist 15 Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. b StGB), zwei Drittel entsprechen 10 Jahre. Die Taten endeten spätestens am 14. Mai 2012 (letzte Zahlung). Das Berufungsurteil erging am 28. März 2023. Damit waren über 10 Jahre vergangen. Die Bedingung des Zeitablaufs war erfüllt. * Wohlverhalten: Diese Bedingung ist umstritten. Neuere Bundesgerichtsentscheide (z.B. 6B_260/2020 E. 2.3.3) legen sie als Abwesenheit strafbarer Handlungen aus. Ältere Entscheide (z.B. 6S.117/2000 E. 1c) schlossen die Milderung auch bei moralisch zweifelhaftem Verhalten aus. Für die Anwendung der Milderung nach Art. 48 lit. e StGB sind nur das Wohlverhalten und der Zeitablauf relevant; eine Verzögerung der Verfahren durch den Täter ist hier nicht zu berücksichtigen (kann aber allenfalls bei der Strafzumessung nach Art. 47 StGB einfliessen).

5.3. Prüfung der Rügen im Einzelfall (A._ und B._)

5.3.1. Zu A.__: * Zeitablauf (Art. 48 lit. e StGB): Die Bedingung des Zeitablaufs von über 10 Jahren seit Ende der Taten bis zum Berufungsurteil ist unbestritten erfüllt. * Wohlverhalten (Art. 48 lit. e StGB): Die Staatsanwaltschaft rügte, die Vorinstanz habe zu Unrecht Wohlverhalten angenommen, da A._ 2020 in Rumänien verurteilt worden sei (für Taten bis Ende 2013, also teilweise nach den hier relevanten Taten). Das Bundesgericht schützte die Einschätzung der Vorinstanz: Die rumänische Verurteilung (in Abwesenheit, von A._ angefochten u.a. vor dem EGMR) konnte von der Vorinstanz mit Zurückhaltung berücksichtigt werden. Die Vorinstanz konnte annehmen, dass A.__ seit Ende 2013 (d.h. fast 10 Jahre lang bis zum Berufungsurteil) keine neuen strafbaren Handlungen begangen hat. Die Bedingungen für die Milderung nach Art. 48 lit. e StGB waren somit erfüllt. Die Rüge wird abgewiesen. * Strafmass (Art. 47 StGB): Die Staatsanwaltschaft verlangte 4 Jahre 9 Monate Haft und monierte eine zu milde Strafe angesichts der sehr schweren Schuld, der Rolle als Drahtzieher, der Dauer, Komplexität, des Eigennutzes (USD 2.5 Mrd.), der schlechten Kooperation und fehlenden Einsicht. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Staatsanwaltschaft keine neuen, von der Vorinstanz nicht berücksichtigten Elemente vorbringe. Es prüfte, ob die von der Vorinstanz festgesetzte Strafe von 3 Jahren (davon 18 Monate unbedingt) angesichts der festgestellten schweren Schuld, der zentralen Rolle, der schlechten Kooperation, der fehlenden Einsicht und der berücksichtigten Milderung wegen Zeitablaufs einen Ermessensmissbrauch darstellt. Das Bundesgericht bekräftigte das weite Ermessen der Vorinstanz und verneinte einen Missbrauch; die Strafe sei nicht übermässig milde. Die Rüge wird abgewiesen.

5.3.2. Zu B.__: * Zeitablauf (Art. 48 lit. e StGB): Die Bedingung des Zeitablaufs von über 10 Jahren seit Ende der Taten (Mai 2012) bis zum Berufungsurteil (März 2023) ist unbestritten erfüllt. * Wohlverhalten (Art. 48 lit. e StGB): Die Staatsanwaltschaft rügte, die Vorinstanz habe zu Unrecht Wohlverhalten angenommen, da B._ 2014 in den USA verurteilt worden sei (für Taten im April 2013) und zudem das Verfahren verzögert habe. * US-Verurteilung: Das Bundesgericht folgte der Vorinstanz, dass die US-Taten (Zeugenbeeinflussung, Behinderung einer Untersuchung, Zerstörung von Beweismitteln, bezogen auf die Gespräche mit D.D._ im April 2013) einen "ähnlichen Sachverhaltskomplex" wie die Korruption bildeten und eng mit ihr verbunden waren (Vertuschung der Korruption). Auch wenn diese Taten technisch nach den hier relevanten Korruptionshandlungen (Ende Mai 2012) begangen wurden, lag die US-Verurteilung (2014) selbst bereits fast 10 Jahre zurück. Die Vorinstanz konnte annehmen, dass seitdem Wohlverhalten vorliegt. * Verfahrensverzögerung: Das Bundesgericht bekräftigte, dass prozessuales Verhalten für die Anwendung von Art. 48 lit. e StGB irrelevant ist. Eine schlechte Kooperation kann bei der Strafzumessung nach Art. 47 StGB berücksichtigt werden, was die Vorinstanz auch getan habe. * Fazit zum Wohlverhalten: Die Bedingungen für die Milderung nach Art. 48 lit. e StGB waren für B.__ erfüllt. Die Rügen werden abgewiesen. * Strafmass (Art. 47 StGB): Die Staatsanwaltschaft verlangte 3 Jahre 6 Monate Haft und monierte eine zu milde Strafe angesichts der wichtigen Schuld, der massgeblichen Beteiligung, des Eigennutzes (über USD 11 Mio.), der schlechten Kooperation und fehlenden Einsicht. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Staatsanwaltschaft keine neuen, von der Vorinstanz nicht berücksichtigten Elemente vorbringe. Es prüfte, ob die von der Vorinstanz festgesetzte bedingte Strafe von 2 Jahren angesichts der festgestellten wichtigen Schuld, der Beteiligung, des Eigennutzes, der schlechten Kooperation, der fehlenden Einsicht und der berücksichtigten Milderung wegen Zeitablaufs einen Ermessensmissbrauch darstellt. Das Bundesgericht bekräftigte das weite Ermessen der Vorinstanz und verneinte einen Missbrauch; die Strafe sei nicht übermässig milde. Die Rüge wird abgewiesen.

6. Ergebnis und Hauptgründe

Das Bundesgericht wies den Rekurs der Staatsanwaltschaft ab, soweit er zulässig war.

Die wesentlichen Punkte des Urteils sind:

  • Das Bundesgericht bestätigte die Anwendung der obligatorischen Strafmilderung wegen Zeitablaufs (Art. 48 lit. e StGB) durch die Vorinstanz sowohl für A._ als auch für B._. Die Bedingung des langen Zeitablaufs (über 10 Jahre seit Tatende bis zum Berufungsurteil) war erfüllt.
  • Die Bedingung des Wohlverhaltens war ebenfalls erfüllt. Das Bundesgericht wertete die spätere rumänische Verurteilung von A._ als mit Zurückhaltung zu berücksichtigenden Umstand und die spätere US-Verurteilung von B._ als Teil eines "ähnlichen Sachverhaltskomplexes", von dem aus ebenfalls ein langer Zeitraum bis zum Berufungsurteil vergangen war. Eine Verfahrensverzögerung durch den Täter ist für die Anwendung von Art. 48 lit. e StGB irrelevant.
  • Die von der Vorinstanz festgesetzten Strafen (3 Jahre Freiheitsstrafe, davon 18 Monate unbedingt, für A._ und 2 Jahre bedingt für B._) stellen gemäss Bundesgericht angesichts des weiten Ermessens der Vorinstanz und unter Berücksichtigung der angewendeten Strafmilderung keinen Ermessensmissbrauch dar.

Das Urteil unterstreicht die Bedeutung des Heilungseffekts des Zeitablaufs im Strafrecht und präzisiert die Anforderungen an das "Wohlverhalten" im Sinne von Art. 48 lit. e StGB, auch im Kontext internationaler Verfahren und Vorverurteilungen, solange keine neuen strafbaren Handlungen über einen längeren Zeitraum begangen wurden. Es bestätigt zudem das weite Ermessen der kantonalen Gerichte bei der konkreten Strafzumessung im Einzelfall.