Zusammenfassung von BGer-Urteil 5A_809/2024 vom 6. Juni 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 5A_809/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts:

Bundesgerichtsurteil 5A_809/2024 vom 6. Juni 2025

Gegenstand: Kontroll- und Informationsmandat (Art. 307 Abs. 3 ZGB) Vorinstanz: Präsident der Kindesschutzkammer des Kantonsgerichts Tessin Datum des Vorinstanzurteils: 22. Oktober 2024

Sachverhalt (verkürzt auf die wesentlichen Punkte):

Der Fall betrifft den Minderjährigen B._ (geb. 2015), Sohn der Beschwerdeführerin A._ und von C.__. Eine Kindesschutzmassnahme wurde aufgrund einer Meldung des Amts für Hilfe und Schutz (UAP) vom 16. November 2023 eingeleitet, welche Sorgen um das Wohlergehen des Kindes enthielt (unter anderem im Zusammenhang mit der fehlenden formellen Anerkennung der Vaterschaft).

Am 20. Februar 2024 entschied die zuständige Kindesschutzbehörde (ARP) mündlich, protokolliert in einem Verhandlungsprotokoll, ein Kontroll- und Informationsmandat gemäss Art. 307 Abs. 3 ZGB zugunsten von B.__ zu erteilen. Dies umfasste einen Hausbesuch des UAP und die Verpflichtung der Schule, bei schulischen Schwierigkeiten zu informieren.

Nach einem Bericht des UAP vom 28. Mai 2024, welcher unter anderem die Notwendigkeit einer therapeutischen Begleitung des Kindes aufzeigte (wogegen sich die Mutter aussprach), erliess die ARP am 21. Juni 2024 eine formelle, sofort vollstreckbare Verfügung. Darin wurde das UAP als Kontroll- und Informationsorgan gemäss Art. 307 Abs. 3 ZGB eingesetzt (Dispositiv Ziff. 1) und verpflichtet, vierteljährlich, erstmals bis zum 30. September 2024, Berichte einzureichen (Dispositiv Ziff. 2).

Gegen diese Verfügung vom 21. Juni 2024 erhob die Mutter Rekurs beim Kantonsgericht, der mit Urteil vom 22. Oktober 2024 abgewiesen wurde. Dagegen richtet sich der vorliegende Rekurs an das Bundesgericht.

Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Zulässigkeit (summarisch): Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit des Rekurses nach den allgemeinen Bestimmungen des BGG. Es handelt sich um ein Endurteil (Art. 90 BGG) einer letzten kantonalen Instanz (Art. 75 BGG) in einer Kindesschutzsache (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG). Der Rekurs ist grundsätzlich zulässig. Die Beschwerdeführerin kann die Verletzung von Bundesrecht rügen (Art. 95 lit. a BGG). Die Begründungsanforderungen gemäss Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG sowie Art. 106 Abs. 2 BGG (bei Rügen von Grundrechtsverletzungen) sind zu beachten. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser wurde offensichtlich unrichtig (willkürlich) oder rechtswidrig ermittelt (Art. 105 Abs. 2 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel sind vor Bundesgericht grundsätzlich unzulässig, es sei denn, das angefochtene Urteil gibt dazu Anlass (Art. 99 Abs. 1 BGG).

  2. Gegenstand und anwendbares Recht: Gegenstand des Verfahrens ist die Zulässigkeit des mit Verfügung vom 21. Juni 2024 angeordneten Kontroll- und Informationsmandats gemäss Art. 307 Abs. 3 ZGB. Art. 307 Abs. 1 ZGB ermächtigt die Kindesschutzbehörde, geeignete Massnahmen anzuordnen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern dem nicht Abhilfe schaffen können oder wollen. Kindesschutzmassnahmen unterliegen dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, d.h., die Massnahme muss geeignet und notwendig sein, um das angestrebte Schutzziel zu erreichen. Sie ist nur zulässig, wenn das Wohl des Kindes nicht durch mildere Massnahmen oder durch die Eltern selbst sichergestellt werden kann (Subsidiarität). Die Massnahme soll die elterlichen Bemühungen ergänzen, nicht ersetzen (Komplementarität). Die Anordnung einer Massnahme nach Art. 307 Abs. 3 ZGB liegt im weiten Ermessen der Kindesschutzbehörde (Art. 4 ZGB). Das Bundesgericht übt bei der Überprüfung solcher Ermessensentscheide eine gewisse Zurückhaltung und greift nur ein, wenn die Behörde ohne triftigen Grund von den von Lehre und Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen abgewichen ist, massgebende Faktoren ausser Acht gelassen hat oder das Ergebnis als offensichtlich unbillig erscheint.

  3. Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz stützte die Notwendigkeit des Kontroll- und Informationsmandats auf verschiedene in der ursprünglichen Meldung vom 16. November 2023 und an der Anhörung vom 20. Februar 2024 identifizierte Sorgen. Dazu gehörten die fehlende formelle Klärung der Vaterschaft, die Veranlassung durch die Schule, dass sich die Mutter ans UAP wende, die von der Mutter erwähnten Leiden und die Wut des Kindes sowie die Änderung der Haltung der Mutter bezüglich einer psychologischen Begleitung. Obwohl die Vorinstanz anerkannte, dass der Vaterschaftsprozess inzwischen eingeleitet wurde, die schulische Situation gut war und das familiäre Netzwerk funktionierte, hielt sie die Massnahme für notwendig. Sie argumentierte, dass die anfänglich ernste Situation des Kindes unwahrscheinlich innerhalb weniger Monate bedeutsam verbessert worden sei. Die Massnahme sei eine der mildesten und ermögliche eine externe Beobachtung zum Schutz der Stabilität und des psychischen Wohlbefindens des Kindes.

  4. Prüfung durch das Bundesgericht:

    • Sachverhaltsrügen und neue Beweismittel: Das Bundesgericht weist die Sachverhaltsrügen der Beschwerdeführerin zurück. Sie beschränkt sich darauf, ihre eigene Interpretation der Fakten der Würdigung der Vorinstanz entgegenzuhalten, was unzulässig ist (Art. 105 Abs. 1 BGG). Neue Beweismittel, wie der von der Beschwerdeführerin eingereichte UAP-Bericht vom 9. Oktober 2024, sind im bundesgerichtlichen Verfahren unzulässig. Die Vorinstanz hat diesen Bericht nach eigenen Angaben erst nach Abschluss der Schriftenwechsel und der Beratung erhalten. Das Bundesgericht kann neue Beweismittel nur berücksichtigen, wenn sie erst durch den angefochtenen Entscheid relevant geworden sind (Art. 99 Abs. 1 BGG), was hier nicht der Fall ist.

    • Verhältnismässigkeit der Massnahme: Das Bundesgericht stellt eine Ambivalenz in der Begründung der Vorinstanz fest. Die Vorinstanz betrachtete die Verfügung vom 21. Juni 2024 als Formalisierung der mündlichen Entscheidung vom 20. Februar 2024 und rechtfertigte sie mit denselben Gründen, die zur ersten Massnahme führten. Das Bundesgericht stellt klar, dass es sich um zwei aufeinanderfolgende, distincte Massnahmen handelt.

      • Die erste Massnahme (Protokoll vom 20. Februar 2024) umfasste einen einmaligen Hausbesuch, einen Bericht (UAP-Bericht vom 28. Mai 2024) sowie Informationspflichten für Schule und Anwalt.
      • Die zweite Massnahme (Verfügung vom 21. Juni 2024), welche Gegenstand des Rekurses ist, ist ein neues Mandat mit der Verpflichtung zu vierteljährlichen Berichten. Für die Notwendigkeit dieser neuen, wiederkehrenden Massnahme, sieht das Bundesgericht in der Begründung der Vorinstanz keine aktuellen und relevanten Rechtfertigungen. Die Gründe, welche die erste Massnahme stützten, sind nach Ansicht des Bundesgerichts für die Rechtfertigung der zweiten Massnahme nicht mehr ausreichend, insbesondere da die Vorinstanz selbst positive Entwicklungen anerkennt (gute schulische Leistung, funktionierendes Familiennetzwerk, erfolgte Vaterschaftsanerkennung, Bemühen der Mutter um den Kontakt des Kindes zum Vater und dessen Familie).
      • Die von der Vorinstanz herangezogenen Argumente, wonach die Mutter anfänglich Sorgen zugab, diese aber später verkleinerte, oder dass die blosse Möglichkeit bestehe, dass das Kind weiterhin eine externe Kontrolle benötige, oder dass es unwahrscheinlich sei, dass sich die Situation in wenigen Monaten massgeblich verbessert habe, erachtet das Bundesgericht als generisch und hypothetisch. Solche Erwägungen reichen nicht aus, um eine (neue), wiederkehrende Massnahme, die einen Eingriff in die elterliche Sorge darstellt, als "absolut opportun und notwendig" zu rechtfertigen.
      • Die Tatsache, dass die Mutter ihre Meinung bezüglich einer therapeutischen Begleitung geändert hat, ist ebenfalls nicht relevant für die Rechtfertigung dieses Kontrollmandats, sondern allenfalls im Rahmen der Prüfung der sich aus dem UAP-Bericht vom 28. Mai 2024 ergebenden Folgemassnahmen zu berücksichtigen (wobei das Bundesgericht darauf hinweist, dass die Anordnung einer Therapie selbst eine Massnahme gemäss Art. 307 Abs. 3 ZGB darstellt, die nicht zwingend mit einem Kontroll- und Informationsmandat kombiniert werden muss).
    • Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums der Behörden gelangt das Bundesgericht zum Schluss, dass die angeordnete Massnahme (vierteljährliche Berichte) nicht verhältnismässig ist, da eine ausreichende aktuelle Gefährdungslage, die eine solche Massnahme rechtfertigen würde, nicht dargelegt wurde. Eine Prüfung der Rüge der Verletzung von Art. 313 ZGB erübrigt sich somit.

Entscheid:

Der Rekurs wird, soweit zulässig, gutgeheissen. Das angefochtene Urteil der Vorinstanz wird aufgehoben und dahingehend reformiert, dass die Verfügung der Kindesschutzbehörde vom 21. Juni 2024 aufgehoben wird.

Die Sache wird zur Neufestsetzung der Kosten und Parteientschädigungen des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. Für das Verfahren vor Bundesgericht werden keine Gerichtskosten erhoben. Der Kanton Tessin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen. Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege für das Bundesgerichtsverfahren wird gegenstandslos.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hob ein von einer Kindesschutzbehörde angeordnetes Kontroll- und Informationsmandat gemäss Art. 307 Abs. 3 ZGB auf, da es unverhältnismässig war. Die Begründung der Vorinstanz, welche die Massnahme als notwendig erachtete (vierteljährliche Berichterstattung), basierte auf veralteten und für die nun wiederkehrende Massnahme unzureichenden Gründen. Obwohl anfängliche Sorgen bestanden, wurden aktuelle positive Entwicklungen (gute schulische Leistung, funktionierendes familiäres Umfeld, erfolgte Vaterschaftsanerkennung) von der Vorinstanz zwar anerkannt, aber deren Bedeutung für die Notwendigkeit einer neuen, wiederkehrenden Kontrolle verkannt. Die blosse Möglichkeit einer Gefährdung oder die Unwahrscheinlichkeit einer schnellen Verbesserung stellen laut Bundesgericht keine ausreichende, aktuelle Grundlage für einen solchen Eingriff in die elterliche Sorge dar. Das Gericht hob die Verfügung auf und wies die Sache zur Neuregelung der kantonalen Kosten zurück.