Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des bereitgestellten Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_539/2024 vom 12. Juni 2025:
1. Einleitung und Verfahrensgegenstand
Das Bundesgericht hatte in der vorliegenden Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten über die Leistungspflicht der Invalidenversicherung (IV) zugunsten des Beschwerdeführers, Herrn A.__ (geb. 1991), zu entscheiden. Konkret ging es um die Frage des Anspruchs auf berufliche Eingliederungsmassnahmen sowie auf eine Invalidenrente. Der Beschwerdeführer hatte sich im Januar 2020 bei der IV angemeldet. Seine Erwerbstätigkeit als Telesales Agent war bereits Ende August 2018 aus gesundheitlichen Gründen beendet worden. Zuvor unternommene arbeitsmarktliche Massnahmen der Arbeitslosenversicherung sowie ein Belastungstraining der IV scheiterten vorzeitig. Die IV-Stelle des Kantons Solothurn lehnte mit Verfügung vom 22. September 2022 weitere berufliche Massnahmen und einen Rentenanspruch ab. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn bestätigte diesen Entscheid mit Urteil vom 30. August 2024. Gegen dieses kantonale Urteil richtete sich die Beschwerde an das Bundesgericht.
2. Anwendbares Recht
Das Bundesgericht stellt fest, dass aufgrund der Anmeldung im Januar 2020 und des möglichen Anspruchsbeginns vor dem 31. Dezember 2021 die Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) und der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) in der bis zum 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung massgebend sind. Die per 1. Januar 2022 in Kraft getretene Revision (Weiterentwicklung der IV, WEIV) ist in dieser Übergangskonstellation nicht direkt anwendbar, wobei das Gericht jedoch die Grundsätze der WEIV (insbesondere zur wiederholten Prüfung von Eingliederungsmassnahmen bei jungen Versicherten) sinngemäss berücksichtigt.
3. Gerichtliche Überprüfung und Sachverhaltsgrundlage
Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG). Dabei legt es grundsätzlich den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG). Die Beweiswürdigung der Vorinstanz wird nur auf Willkür überprüft. Die Rechtsanwendung erfolgt von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG).
Die Vorinstanz stützte ihren Entscheid massgeblich auf ein bidisziplinäres (rheumatologisch-psychiatrisches) Administrativgutachten vom 28. Januar 2022. Gemäss diesem Gutachten leidet der Beschwerdeführer u.a. an einer nicht näher bezeichneten Angststörung sowie einer rezidivierenden depressiven Störung mit chronischem Verlauf, gegenwärtig leichtgradige Episode mit somatischem Syndrom. Eine chronische Schmerzstörung wurde lediglich verdachtsweise diagnostiziert. Die Sachverständigen schätzten die Arbeitsfähigkeit in leichten, rückenadaptierten Tätigkeiten auf 70 Prozent ein.
4. Rügen des Beschwerdeführers gegen den Beweiswert des Gutachtens
Der Beschwerdeführer rügte, das kantonale Gericht habe den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) und das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 42 ATSG) verletzt, indem es das bidisziplinäre Gutachten als beweiswertig anerkannt habe. Er bemängelte formelle und materielle Mängel.
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4.1 Fehlende Konsensbeurteilung: Der Beschwerdeführer kritisierte, das Gutachten enthalte keine echte interdisziplinäre Konsensbeurteilung. Die Sachverständigen hätten Textbausteine aus einer RAD-Stellungnahme übernommen und die psychiatrische Teilbeurteilung ohne nähere Begründung als Konsens übernommen.
Das Bundesgericht räumt ein, dass die interdisziplinäre Konsensbeurteilung nicht besonders ausführlich ausgefallen sei. Da aber der rheumatologische Gutachter keine Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit gestellt, sondern lediglich ein Belastungsprofil umrissen habe, sei die Übernahme des psychiatrischen Teilgutachtens als Konsens nachvollziehbar. Der Beweiswert des Gutachtens sei insoweit grundsätzlich gegeben.
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4.2 Mängel des psychiatrischen Teilgutachtens:
- Verzicht auf Zusatzdiagnostik: Der psychiatrische Gutachter habe auf Zusatzdiagnostik mit Verweis auf mögliches aggravierendes Verhalten verzichtet, ohne dies näher zu begründen, obwohl andere Ärzte ein konsistentes Aussageverhalten bestätigten. Das Bundesgericht hält fest, dass es primär Sache des Gutachters sei, den Umfang der Diagnostik zu bestimmen. Es lässt offen, ob hier ein Mangel vorliegt, da sich dies im Rahmen weiterer notwendiger Abklärungen (siehe dazu unten E. 4.3 ff.) klären werde, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen von Aggravation oder Schmerzfehlverarbeitung auf die Arbeitsfähigkeit.
- Fehlerhafte ICD-10-Klassifikation: Der Beschwerdeführer beanstandete eine Diskrepanz zwischen der vom Gutachter genannten Diagnose ("rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradige Episode mit somatischem Syndrom") und dem angegebenen ICD-10-Code F33.11, der für eine "mittelgradige Episode" stehe. Das Bundesgericht stellt fest, dass der genannte Code tatsächlich für eine mittelgradige Episode stehe, die Beschreibung im Gutachten jedoch einer leichten Episode (Code F33.01) entspreche. Dieser versehentlich unzutreffende Code allein stelle den Beweiswert der Expertise jedoch nicht ernsthaft in Frage, da keine Häufung solcher Fehler erkennbar sei.
- Widersprüchliche Befunde und fehlende Auseinandersetzung mit Vorakten: Der Beschwerdeführer machte geltend, die Feststellung einer "chronifizierten" depressiven Störung sei unvereinbar mit der Verneinung eines erheblichen Leidensdrucks. Ferner habe sich der Gutachter nicht genügend mit Vorakten (Berichte behandelnder Ärzte, Spitalbericht zur Schmerzstörung) auseinandergesetzt, die teils von anderen Diagnosen/Schweregraden ausgingen.
Das Bundesgericht hält fest, dass die Chronifizierung per se nichts über den Schweregrad aussage. Bezüglich der Schmerzstörung sei die Beschränkung auf eine Verdachtsdiagnose wenig schlüssig, zumal der Gutachter das Verhalten des Versicherten nicht im Hinblick auf dessen Krankheitsbedingtheit einordne, was nach der Rechtsprechung erforderlich wäre. Auch hier verweist das Bundesgericht auf die notwendigen zusätzlichen Abklärungen im Zusammenhang mit den gescheiterten Eingliederungsversuchen (siehe unten E. 4.3 ff.), die zu einem besseren Verständnis oder einer Neubewertung der gutachtlichen Ergebnisse beitragen würden.
5. Kernpunkt des Entscheids: Diskrepanz zwischen gutachtlicher Arbeitsfähigkeit und gescheiterten Eingliederungsversuchen
Das Bundesgericht identifiziert als zentrales Problem die augenscheinliche Gegensätzlichkeit zwischen der von den Gutachtern auf 70 Prozent eingeschätzten Arbeitsfähigkeit und dem klaren Scheitern aller bisherigen Eingliederungsbemühungen. Dies werfe entscheidende Rechtsfragen auf.
- 5.1 Analyse der gescheiterten Eingliederung: Das Gericht rekapituliert detailliert das Scheitern der arbeitsmarktlichen Massnahme der Arbeitslosenversicherung (wegen vieler gesundheitlich bedingter Absenzen, Ende 2019) und des IV-Belastungstrainings (Anfang 2021, wegen starker Schmerzen, Verschlechterung psychischer Zustand, Schwierigkeiten beim Gehen, Erschöpfung, fehlende Tagesstruktur).
- 5.2 Fehlende Würdigung im Gutachten: Das Bundesgericht kritisiert, dass das Gutachten die erfolglosen Eingliederungsbemühungen zwar erwähne, aber keine nachvollziehbare Stellungnahme dazu enthalte, inwiefern die auf 70 Prozent eingeschätzte Arbeitsfähigkeit mit dem tatsächlich vollständig ausgebliebenen Eingliederungserfolg vereinbar sei. Der Gutachter belasse es bei der Feststellung, eine solch hohe Einschränkung lasse sich in der Untersuchung nicht objektivieren, löse aber die offenkundige Diskrepanz zu den Ergebnissen der beruflichen Massnahmen nicht auf.
- 5.3 Aggravation vs. Krankheitsbedingte Verdeutlichungstendenz: Das Gericht präzisiert die Abgrenzung zwischen nicht-pathologischer Aggravation (die einen Anspruch ausschliessen könnte) und krankheitsbedingter Verdeutlichungstendenz (die Teil des Krankheitsbildes sein kann, insbesondere bei Schmerzstörungen). Die im Gutachten geschilderten Verhaltensweisen des Beschwerdeführers deuteten nicht mit genügender Klarheit darauf hin, dass das Scheitern überwiegend auf Aggravation oder fehlende Mitwirkung zurückzuführen sei. Der Sachverständige habe sich auch nicht mit Erklärungen des behandelnden Arztes auseinandergesetzt, wonach das Verhalten appellativ wirken könne. Die Vorinstanz habe daher nicht auf einer ausreichenden Entscheidungsgrundlage entschieden.
- 5.4 Beweiskraft der Arbeitsfähigkeitsschätzung: Das Bundesgericht weist auf seine Rechtsprechung hin (BGE 140 V 193), wonach bei offensichtlicher und erheblicher Diskrepanz zwischen ärztlicher Arbeitsfähigkeitsschätzung und der effektiven Leistung in einer beruflichen Abklärung (bei einwandfreiem Arbeitsverhalten) ernsthafte Zweifel an der ärztlichen Beurteilung entstehen können, die eine klärende medizinische Stellungnahme erfordern. Angesichts der Aktenlage gebe es keine Anhaltspunkte für unkooperatives Verhalten. Die wenig schlüssige Auseinandersetzung des Gutachters mit dem Schmerzsyndrom verstärke die Zweifel. Es sei daher fraglich, ob die Vorinstanz ohne Weiteres auf die gutachtliche Schätzung abstellen durfte.
- 5.5 Grundsatz "Eingliederung vor/statt Rente": Selbst wenn die gutachtliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit (70%) übernommen würde, verletze das angefochtene Urteil den Grundsatz der Eingliederung (Art. 8, 28 IVG).
- Invaliditäts- oder davon bedrohte Versicherte haben Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, wenn diese geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen, zu erhalten oder zu verbessern (Art. 8 Abs. 1 IVG).
- Der Rentenanspruch kann erst entstehen, wenn keine geeigneten Eingliederungsmassnahmen mehr infrage kommen (Art. 28 Abs. 1 lit. a IVG). Der neuere Art. 28 Abs. 1bis IVG (WEIV) hält dies explizit fest.
- Umgekehrt kann ein Rentenanspruch rückwirkend bestehen, wenn Abklärungsmassnahmen zeigen, dass keine Eingliederungsfähigkeit besteht. Die gescheiterten Versuche im vorliegenden Fall deuten darauf hin, dass fehlende Eingliederungsfähigkeit vorliegen könnte.
- Angesichts des Alters des Beschwerdeführers (geb. 1991) muss die berufliche Integration weiterverfolgt werden (Art. 8 Abs. 1bis lit. a IVG). Der neuere Art. 8 Abs. 1ter IVG (WEIV) sieht die Prüfung einer wiederholten Eingliederungsmassnahme bei Abbruch vor, unter Berücksichtigung von Alter, Entwicklungsstand etc. Dies gilt auch für den Beschwerdeführer.
- Häufig sind psychische Hindernisse der Grund für mangelnde Eingliederungsfähigkeit; hier müssen die Voraussetzungen durch eingliederungswirksame Therapie (Art. 25 KVG) geschaffen werden. Berufliche Massnahmen begleiten dann die Therapie.
- Eine attestierte Arbeitsfähigkeit (hier 70%) steht einer befristeten Rentenbegründung nicht entgegen, wenn sie bloss medizinisch-theoretischer Natur ist, d.h., wenn der Versicherte nicht ohne Weiteres fähig ist, diese Kapazität umzusetzen, sondern dafür auf eine spezifische, nicht aus eigener Initiative umsetzbare medizinische Behandlung angewiesen ist. In diesem Fall könnte vorläufig ein Rentenanspruch bestehen, bis der Weg für die Eingliederung frei ist.
- Auch unter präventiven Gesichtspunkten (drohende Invalidität gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG, auch wenn nicht unmittelbar drohend) verlangt der Vorrang der Eingliederung, dass allfällige weitere Massnahmen geprüft werden, um einer weiteren Invalidisierung vorzubeugen.
6. Fazit des Gerichts und Rückweisung
Zusammenfassend erachtet das Bundesgericht das Administrativgutachten als offenkundig mangelhaft, da es die Diskrepanz zwischen der attestierten Arbeitsfähigkeit und dem vollständigen Scheitern der Eingliederungsversuche nicht nachvollziehbar auflöst. Diese Sachverhaltslücke bedingt zusätzliche Erhebungen. Die Erkenntnisse aus den gescheiterten Eingliederungsmassnahmen stellen die Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsschätzung in Frage. Selbst wenn die Schätzung übernommen würde, erfordert der Grundsatz "Eingliederung vor/statt Rente" die Prüfung weiterer Integrationsschritte. Namentlich ist abzuklären, ob zunächst (gemeinsam mit Therapie) Eingliederungsfähigkeit hergestellt werden muss, um die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit umsetzbar zu machen. Auch präventive Aspekte verlangen eine Prüfung weiterer Massnahmen.
Das angefochtene Urteil beruht somit nicht auf einer ausreichenden Entscheidungsgrundlage und verletzt Bundesrecht.
Das Bundesgericht hebt das Urteil des Versicherungsgerichts und die Verfügung der IV-Stelle auf und weist die Sache zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung im Sinn der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.
7. Kostenfolgen
Die Rückweisung der Sache zu weiterer Abklärung gilt als vollständiges Obsiegen des Beschwerdeführers für die Frage der Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten zu tragen und den Beschwerdeführer zu entschädigen. Die Kosten und Parteientschädigung des vorangegangenen kantonalen Verfahrens sind von der Vorinstanz neu zu verlegen.
Wesentliche Punkte der Zusammenfassung:
- Das Bundesgericht hebt das kantonale Urteil und die Verfügung der IV-Stelle auf und weist die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurück.
- Zentraler Grund für die Aufhebung ist die mangelnde Vereinbarkeit der gutachtlich attestierten Arbeitsfähigkeit (70%) mit dem tatsächlichen, vollständigen Scheitern aller bisherigen Eingliederungsversuche.
- Das Gericht rügt, dass das Administrativgutachten diese Diskrepanz nicht nachvollziehbar auflöst und die Gründe für das Scheitern (Schmerzen, psychische Probleme) nicht schlüssig mit der attestierten Restarbeitsfähigkeit in Einklang bringt.
- Es wird betont, dass zwischen (krankheitsbedingter) Verdeutlichungstendenz und (anspruchsausschliessender) Aggravation unterschieden werden muss und das Gutachten hier unklar bleibt.
- Nach dem Grundsatz "Eingliederung vor Rente" sind weitere Eingliederungsmassnahmen zu prüfen, insbesondere angesichts des jungen Alters des Beschwerdeführers.
- Es ist abzuklären, ob die attestierte Arbeitsfähigkeit bloss medizinisch-theoretischer Natur ist und ob zur Herstellung der praktischen Eingliederungsfähigkeit zunächst therapiebegleitende Massnahmen erforderlich sind.
- Die Prüfung weiterer Massnahmen ist auch aus präventiven Gründen (Abwendung drohender Invalidität) geboten.
- Die fehlende Abklärung dieser Punkte stellt einen Mangel des rechtserheblichen Sachverhalts dar, der eine Rückweisung erfordert.