Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1340/2023 vom 23. Juni 2025

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Absolut. Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des bereitgestellten Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_1340/2023, 6B_1341/2023 vom 23. Juni 2025) in deutscher Sprache:

Bundesgerichtliches Urteil vom 23. Juni 2025 (6B_1340/2023, 6B_1341/2023)

Parteien: * Beschwerdeführer: A._ und B._ * Beschwerdegegner: Ministero pubblico del Cantone Ticino

Gegenstand: Verstoss gegen das Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen (ELG)

Vorinstanz: Corte di appello e di revisione penale des Kantons Tessin (CARP)

I. Prozessgeschichte und Vorinstanzliche Entscheidungen:

  1. Erste Instanz (Giudice della Pretura penale): Verurteilte B._ und A._ wegen Verstosses gegen das ELG für den Zeitraum 2013 bis 31. Juli 2015. B._ wurde zusätzlich wegen Betrugs verurteilt. Es wurden bedingte Freiheitsstrafen ausgesprochen (70 Tage für B._, 40 Tage für A.__, Probezeit 2 Jahre).
  2. Zweite Instanz (CARP): Hiess die Appelle der Verurteilten teilweise gut. B.__ wurde vom Betrugsvorwurf freigesprochen. Die Verurteilung wegen Verstosses gegen das ELG wurde bestätigt, jedoch auf den Zeitraum vom 1. Dezember 2013 bis 31. Juli 2015 beschränkt (Freispruch für die Zeit davor). Die Strafen wurden in bedingte Geldstrafen umgewandelt (jeweils 15 Tagessätze zu Fr. 30.--, Probezeit 2 Jahre).

II. Beschwerde an das Bundesgericht:

Beide Beschwerdeführer erhoben separate Beschwerden in Strafsachen mit identischer Begründung. Sie beantragten im Hauptantrag ihren vollständigen Freispruch, die Übernahme der Verfahrenskosten und ihrer Rechtsanwaltskosten durch den Kanton sowie eine Genugtuung (Schmerzensgeld) von Fr. 10'000.--. Eventualiter beantragten sie die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Rückweisung der Sache an die CARP zur neuen Entscheidung sowie ebenfalls eine Genugtuung.

III. Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Zusammenlegung der Verfahren: Die beiden Verfahren (6B_1340/2023 und 6B_1341/2023) wurden aufgrund des identischen Gegenstands und der gleichen Begründung zur gemeinsamen Beurteilung vereinigt (Erw. 1).
  2. Zulässigkeit der Beschwerdeanträge:
    • Die Beschwerdeanträge auf Genugtuung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO wurden als unzulässig erachtet (Erw. 2.2). Für A._ waren sie neu, da er sie vor der CARP nicht gestellt hatte. Für B._ waren sie ebenfalls unzulässig, da die CARP ihre Genugtuungsforderung mit zwei unabhängigen Begründungen abgewiesen hatte (Verurteilung und fehlender Kausalzusammenhang zwischen Verfahren und psychischem Zustand), von denen die Beschwerdeführerin nur die Verurteilung rügte, die alternative Begründung jedoch nicht substanziiert anfocht.
  3. Verjährung (Rüge des Erfolgsdelikts):
    • Die Beschwerdeführer machten unter Berufung auf BGE 131 IV 83 geltend, der Tatbestand des Art. 31 Abs. 1 lit. d ELG sei ein Erfolgsdelikt und kein Dauerdelikt. Entsprechend seien alle Handlungen vor September 2014 (unter Zugrundelegung der 7-jährigen Verjährungsfrist gemäss Art. 97 Abs. 1 lit. d StGB) verjährt.
    • Das Bundesgericht hielt fest, dass diese Frage keiner Prüfung bedarf, da – wie in den folgenden Erwägungen dargelegt wird – die Feststellung des Sachverhalts bezüglich des Zeitraums vor Juni 2015 ohnehin willkürlich sei und somit ein Freispruch für diesen Zeitraum erfolge (Erw. 3). Damit wurde die Verjährungsfrage hinfällig.
  4. Feststellung des Sachverhalts bezüglich des Zusammenlebens:
    • Die Beschwerdeführer bestritten, vor dem 1. August 2015 wieder zusammengelebt zu haben. Sie rügten die Sachverhaltsfeststellung der CARP (Zusammenleben ab 1. Dezember 2013) als willkürlich und verstossend gegen in dubio pro reo (Erw. 4.1).
    • Anwendbare Grundsätze: Das Bundesgericht erinnerte an den Grundsatz in dubio pro reo als Ausfluss der Unschuldsvermutung. Dieser bedeutet, dass der Strafrichter im Zweifel an der Schuld des Angeklagten von einer für ihn ungünstigeren Sachverhaltsversion absehen muss. Bloß theoretische Zweifel genügen nicht. Willkür bei der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Feststellung offensichtlich unhaltbar ist, im Widerspruch zur tatsächlichen Situation steht, auf einem offensichtlichen Versehen beruht oder die Beweise falsch gewichtet wurden. Im Rahmen der bundesgerichtlichen Überprüfung fällt in dubio pro reo bezüglich der Beweiswürdigung mit dem Willkürverbot zusammen (Erw. 4.2).
    • Beurteilung durch das Bundesgericht:
      • Zeitraum ab 1. Juni 2015: Das Bundesgericht stellte fest, dass das Zusammenleben ab dem 1. Juni 2015 nicht zu beanstanden sei, da der Beschwerdeführer selbst angegeben hatte, ab diesem Zeitpunkt die Wohnung in Y.__ mit seiner Ex-Frau geteilt zu haben (Erw. 4.3).
      • Zeitraum davor (Dezember 2013 - Mai 2015 in X.__): Die CARP stützte die Annahme des Zusammenlebens in diesem Zeitraum auf verschiedene Indizien (häufige gemeinsame Zeit, gemeinsame Nutzung von Telefonanschlüssen, Autos, Postfächern) sowie insbesondere auf die Aussage der Verwalterin der Liegenschaft in X.__ und Fotos der Polizei. Die Verwalterin hatte ausgesagt, dass die Wohnung des Beschwerdeführers bei der Rückgabe Ende Januar 2015 so aussah, als sei sie nie benutzt worden (unbenutztes Bett, unbenutzte Seife, dreieckig gefaltetes Toilettenpapier). Fotos sollten dies bestätigen (keine persönlichen Gegenstände in seiner Wohnung, benutztes Bett und zwei Zahnbürsten in ihrer Wohnung) (Erw. 4.4).
      • Das Bundesgericht befand diese Beweiswürdigung als unhaltbar und willkürlich (Erw. 4.5). Die Aussage der Verwalterin, dass die Wohnung des Beschwerdeführers bei der Rückgabe unbenutzt erschien, beweise nicht, dass er nie darin gewohnt hat. Die Erklärung der Beschwerdeführerin, dass sie dem Beschwerdeführer eigene Hygieneartikel zur Verfügung gestellt habe, sei von der CARP ohne plausible Begründung als unglaubwürdig abgetan worden. Die Fotos der Wohnung des Beschwerdeführers bei der Rückgabe zeigen naturgemäß keine persönlichen Gegenstände. Die Fotos der Wohnung der Beschwerdeführerin (benutztes Bett, zwei Zahnbürsten) seien vereinbar mit den Aussagen der Beschwerdeführer, wonach sie die Wohnung nur für wenige Tage gemeinsam genutzt hätten (vom 27. Januar 2015 bis 1. Februar 2015), bevor sie nach Y.__ zog. Die CARP habe Schlüsse aus den Beweisen gezogen, ohne die Erklärungen der Beschwerdeführer angemessen zu berücksichtigen.
      • Schlussfolgerung: Die objektive Würdigung der Beweismittel lasse erhebliche und unüberwindliche Zweifel an einem effektiven Zusammenleben der Beschwerdeführer bereits ab Dezember 2013 bestehen. Die Sachverhaltsfeststellung der CARP sei willkürlich und verstoße gegen in dubio pro reo.
    • Folge für den Schuldspruch: Da das Zusammenleben, welches die Grundlage für den Vorwurf des Verstosses gegen das ELG bildet, für den Zeitraum vor dem 1. Juni 2015 nicht bewiesen sei, seien die Beschwerdeführer für diesen Zeitraum freizusprechen (Erw. 4.5).
  5. Feststellung des Betrags der zu Unrecht bezogenen Leistungen:
    • Die Beschwerdeführer rügten auch Willkür bezüglich der Höhe der zu Unrecht bezogenen EL, die die CARP gestützt auf Rückforderungsentscheide der Ausgleichskasse festgelegt habe. Sie machten geltend, diese Entscheide seien entgegen der Annahme der CARP nicht rechtskräftig gewesen.
    • Das Bundesgericht bestätigte, dass die Feststellung der CARP, die Entscheide der Ausgleichskasse seien in Rechtskraft erwachsen, aktenwidrig und somit willkürlich sei (Erw. 5). Da die Dauer des Zusammenlebens ohnehin neu zu beurteilen sei, müsse die CARP bei der Strafzumessung auch den Betrag der zu Unrecht bezogenen Leistungen neu festlegen.
  6. Nulla poena sine lege certa und Mitteilungspflicht:
    • Die Beschwerdeführer machten geltend, die Normen über die Mitteilungspflicht im EL-Recht seien für einen Durchschnittsbürger nicht klar verständlich, was ihre Pflichten und die Konsequenzen eines Verstosses betreffe (nulla poena sine lege certa). Die Behörde habe sie nicht ausreichend informiert. Die CARP habe daher zu Unrecht angenommen, sie hätten die Bedeutung der Mitteilung der Wiederaufnahme des Zusammenlebens gekannt und die ELG bewusst verletzt (Erw. 6).
    • Anwendbare Grundsätze: Das Bundesgericht erläuterte das Bestimmtheitsgebot im Strafrecht (nulla poena sine lege certa), das verlangt, dass Straftatbestände hinreichend präzise formuliert sind, um dem Bürger eine Verhaltensanpassung zu ermöglichen. Absolutes Bestimmtheitsgebot sei aber nicht gefordert; unbestimmte Begriffe seien zulässig, deren Auslegung der Praxis obliege (Erw. 6.1). Auch Blankettstrafnormen seien zulässig, wenn sie durch andere Normen konkretisiert werden.
    • Anwendung auf den Fall: Das Bundesgericht prüfte die Normen: Art. 31 Abs. 1 lit. d ELG (Strafnorm), Art. 31 Abs. 1 ATSG (grundlegende Mitteilungspflicht bei wichtigen Änderungen), Art. 24 ELV-AHV/IV (Mitteilungspflicht bei EL). EL werden anhand der anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen berechnet (Art. 9, 10 ELG). Die Miete ist eine anerkannte Ausgabe. Beim Zusammenleben mit ausgeschlossenen Personen (wie hier nach der Trennung) ist die Miete aufzuteilen (Art. 16c ELV). Das Zusammenleben stelle somit eine wichtige Änderung der materiellen Verhältnisse dar, die die EL-Berechnung beeinflusst (Erw. 6.2, 6.3).
    • Beurteilung der Klarheit: Das Bundesgericht befand Art. 31 Abs. 1 lit. d ELG in Verbindung mit Art. 31 ATSG und Art. 24 ELV als hinreichend klar und präzise. Die Formulierung des Art. 24 ELV sei zwar allgemein, aber für den Durchschnittsbürger verständlich: Ein Zusammenleben oder das Teilen einer Wohnung mit anderen Personen impliziert eine Veränderung der materiellen Verhältnisse und damit der Ausgaben (Erw. 6.3).
    • Subjektives Element (Vorsatz): Die Rüge bezog sich implizit auf einen möglichen Rechtsirrtum. Das Bundesgericht stellte fest, dass die CARP willkürfrei festgestellt hatte, dass die Beschwerdeführer die Bedeutung der Mitteilung der Wiederaufnahme des Zusammenlebens nicht ignorieren konnten. Die EL-Verfügungen enthielten ausdrückliche Hinweise auf die Mitteilungspflicht bei persönlichen oder wirtschaftlichen Änderungen und die möglichen rechtlichen Konsequenzen. Es komme nicht darauf an, ob die Strafnormen genannt wurden, sondern ob die Beschwerdeführer die Pflicht und die Existenz von Strafkonsequenzen kannten. Die Feststellung der CARP, dass die Beschwerdeführer vorsätzlich handelten, sei nicht willkürlich und somit für das Bundesgericht bindend (Art. 105 Abs. 1 LTF). Das subjektive Element sei erfüllt (Erw. 6.4).
  7. Strafzumessung:
    • Die Rüge bezüglich der Strafzumessung bedürfe keiner Prüfung, da der teilweise Freispruch (für den Zeitraum vor 1. Juni 2015) eine Neufestsetzung der Strafe durch die CARP erforderlich mache (Erw. 7).

IV. Ergebnis:

Das Bundesgericht hiess die Beschwerden im Umfang ihrer Zulässigkeit teilweise gut.

  • Die Beschwerdeführer werden vom Vorwurf des Verstosses gegen das ELG freigesprochen für den Zeitraum vor dem 1. Juni 2015.
  • Die Verurteilung für den Zeitraum nach dem 1. Juni 2015 wird bestätigt.
  • Das Urteil der CARP wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung über die Strafe und die Kosten an die CARP zurückgewiesen.
  • Die Anträge auf Genugtuung waren unzulässig und wurden abgewiesen.
  • Die Anträge auf unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wurden gutgeheissen, da die Beschwerdeführer teilweise obsiegten und die Voraussetzungen erfüllt sind.

V. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Das Bundesgericht hob den Schuldspruch wegen Verstosses gegen das ELG für den Zeitraum vor dem 1. Juni 2015 auf, da die Feststellung des Zusammenlebens durch die Vorinstanz für diesen Zeitraum willkürlich war und gegen in dubio pro reo verstieß. Die Beweise (Zustand der Wohnung, Fotos) waren auch mit der Darstellung der Beschwerdeführer vereinbar, dass kein dauerhaftes Zusammenleben vor diesem Datum bestand.
  • Der Schuldspruch wird für den Zeitraum ab dem 1. Juni 2015 aufrechterhalten, da das Zusammenleben ab diesem Zeitpunkt als erstellt galt.
  • Die Rüge, die Mitteilungspflichten seien nicht hinreichend klar (nulla poena sine lege certa), wurde vom Bundesgericht abgewiesen. Die gesetzlichen und untergesetzlichen Bestimmungen (ELG, ATSG, ELV) wurden als ausreichend bestimmt angesehen, um die Mitteilungspflicht bei wichtigen Änderungen, einschliesslich der Aufnahme eines Zusammenlebens, für den Bürger erkennbar zu machen.
  • Das Vorliegen des Vorsatzes (Wissen um die Pflicht und die Konsequenzen) wurde von der Vorinstanz willkürfrei festgestellt und vom Bundesgericht bestätigt.
  • Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese eine neue Strafzumessung vornimmt, basierend auf dem nunmehr kürzeren Zeitraum der verurteilten Tat (ab 1. Juni 2015 statt ab 1. Dezember 2013), und neu über die Kosten des Verfahrens entscheidet.