Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_901/2024 vom 14. Mai 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_901/2024 des schweizerischen Bundesgerichts vom 14. Mai 2025:

Gericht und Verfahrensbeteiligte:

  • Gericht: Schweizerisches Bundesgericht, I. Strafrechtliche Abteilung
  • Präsidium: Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari
  • Beschwerdeführerin: Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
  • Beschwerdegegner: A.__ (vertreten durch Rechtsanwalt Roland Graf)
  • Gegenstand: Landesverweisung und deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS)
  • Angefochtenes Urteil: Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 19. August 2024 (SB240063-O/U/cwo)

Sachverhalt:

Der Beschwerdegegner, ein pakistanischer Staatsangehöriger mit Niederlassungsbewilligung C, wurde vom Bezirksgericht Zürich am 20. November 2023 wegen mehrfachen unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung (Art. 148a Abs. 1 StGB) zu einer bedingten Geldstrafe von 100 Tagessätzen verurteilt. Das Bezirksgericht ordnete zudem eine obligatorische Landesverweisung für 5 Jahre an und die Ausschreibung im SIS.

Dem Schuldspruch lag zugrunde, dass der Beschwerdegegner in den Monaten August bis Dezember 2019 gegenüber der Arbeitslosenkasse B.__ wahrheitswidrig angab, arbeitslos zu sein und keine Erwerbstätigkeit auszuüben. Tatsächlich erzielte er in dieser Zeit einen monatlichen Bruttolohn von Fr. 4'000.--. Er bezog dadurch unrechtmässig Taggelder in Höhe von insgesamt Fr. 12'230.20.

Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte auf Berufung des Beschwerdegegners den Schuldspruch, reduzierte die Geldstrafe auf 90 Tagessätze, sah jedoch von der Anordnung einer Landesverweisung ab.

Rechtsfrage im Zentrum:

Die zentrale Rechtsfrage vor Bundesgericht war, ob die Vorinstanz (Obergericht) die Voraussetzungen für das Absehen von einer obligatorischen Landesverweisung gemäss der Härtefallklausel nach Art. 66a Abs. 2 StGB zu Recht bejaht hat.

Argumentation der Beschwerdeführerin (Oberstaatsanwaltschaft):

Die Oberstaatsanwaltschaft rügte eine unrichtige Anwendung von Art. 66a Abs. 1 lit. e und Abs. 2 StGB. Sie vertrat die Auffassung, dass beim Beschwerdegegner kein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vorliege. Sie begründete dies damit, dass dessen soziale Integration in der Schweiz als unterdurchschnittlich und die berufliche als höchstens normal einzustufen sei. Reintegrationsaussichten im Heimatland Pakistan seien vorhanden und besser als die Integrationsaussichten in der Schweiz. Der Beschwerdegegner verfüge weder in der Schweiz noch in Pakistan über ein enges Familien- oder Freundesnetz. Die lange Aufenthaltsdauer, das relativ leichte Verschulden und das niedrige Strafmass könnten für sich allein keinen Härtefall begründen. Das Delikt sei zudem kein banaler "Fehltritt", sondern eine Schädigung des Sozialversicherungssystems.

Selbst wenn ein schwerer persönlicher Härtefall angenommen würde, würden die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung (gegen den Staat gerichtete Deliktsart, zwei Vorstrafen, geringes privates Interesse am Verbleib) die privaten Interessen des Beschwerdegegners überwiegen.

Argumentation der Vorinstanz (Obergericht):

Das Obergericht bejahte einen schweren persönlichen Härtefall. Es stellte auf die lange Aufenthaltsdauer von rund 28 Jahren (seit 1996) ab, wodurch der Beschwerdegegner den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbracht habe. Zwar sei seine Integration in sozialer und beruflicher Hinsicht ("unterdurchschnittlich bis normal") aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse, eines hauptsächlich aus Landsleuten bestehenden sozialen Umfelds und trotz mehrheitlicher Erwerbstätigkeit und teils verbesserter ökonomischer Aussichten nicht optimal. Entscheidend sei jedoch, dass dem Beschwerdegegner ein persönliches Beziehungsnetz in seinem Heimatland fehle, welches er einzig bis zum Tod seiner Mutter einmal jährlich besucht habe. Eine Rückkehr nach Pakistan sei ihm in persönlicher Hinsicht schwer zuzumuten; auch die berufliche Wiedereingliederung wäre schwierig.

Das Obergericht wertete den unrechtmässigen Bezug von Sozialleistungen über fünf Monate in Höhe von Fr. 12'230.20 als "Fehltritt", der nicht allzu schwer wiege. Die beiden nicht einschlägigen Vorstrafen lägen längere Zeit zurück. Es ging von keiner Rückfallgefahr aus, da der Beschwerdegegner Rückzahlungen geleistet und Wiedergutmachungswillen gezeigt habe. Daher überwiege das geringe öffentliche Interesse an einer Landesverweisung die gewichtigen privaten Interessen des Beschwerdegegners.

Massgebende rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:

Das Bundesgericht prüfte die Anwendung von Art. 66a StGB und Art. 8 EMRK. Es hält fest, dass Art. 66a Abs. 1 lit. e StGB für das vorliegende Delikt eine obligatorische Landesverweisung vorsieht. Von dieser kann nur ausnahmsweise abgesehen werden, wenn kumulativ ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen nicht überwiegen (Art. 66a Abs. 2 StGB). Die Härtefallklausel ist restriktiv anzuwenden und dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV, Art. 8 EMRK). Bei der Härtefallprüfung sind namentlich die Integrationskriterien nach Art. 58a AIG zu berücksichtigen (Grad der Integration, familiäre Bindungen, Aufenthaltsdauer, Gesundheitszustand, Resozialisierungschancen). Für Ausländer, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind, gelten besondere Überlegungen (Art. 66a Abs. 2 Satz 2 StGB), was hier aber nicht zutrifft. Ein schwerer persönlicher Härtefall liegt bei einem Eingriff von gewisser Tragweite in Art. 8 EMRK vor.

Das Bundesgericht ging zunächst auf die vom Beschwerdegegner im Bundesgerichtsverfahren eingereichten neuen Belege und Vorbringen ein und erklärte diese gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG für unbeachtlich.

Kritik des Bundesgerichts an der Begründung der Vorinstanz:

  1. Beurteilung des Härtefalls (E. 5.2): Das Bundesgericht schloss sich der Vorinstanz darin an, die soziale und berufliche Integration des Beschwerdegegners in der Schweiz als "unterdurchschnittlich bis normal" zu werten, insbesondere angesichts mangelnder Sprachkenntnisse und eines sozialen Umfelds, das hauptsächlich aus Landsleuten besteht (E. 5.2.1). Es kritisierte jedoch die Gewichtung des fehlenden Beziehungsnetzes in Pakistan durch die Vorinstanz als entscheidend für die Annahme einer schweren persönlichen Härte (E. 5.2.2). Das Bundesgericht argumentierte, der Beschwerdegegner habe seine prägenden Kindheits- und Jugendjahre (bis 23) in Pakistan verbracht, sei mit Land, Leuten und Sprache vertraut und habe bis vor Kurzem regelmässig Kontakt zu Verwandten gehabt und das Land besucht. Eine Reintegration sei ihm möglich und zumutbar, auch wenn sie nicht einfach sei. Seine in der Schweiz erworbenen Berufserfahrungen, insbesondere in Hotellerie/Gastronomie, seien auch im Heimatland nützlich. Ein allenfalls günstigeres Fortkommen in der Schweiz begründe kein schützenswertes Interesse am Verbleib. Die Tatsache, dass sein soziales Netz in der Schweiz hauptsächlich aus Landsleuten bestehe, erleichtere im Gegenteil die Reintegration in Pakistan.
  2. Beurteilung des Tatverschuldens und des öffentlichen Interesses (E. 5.3.1): Das Bundesgericht widersprach entschieden der Einordnung des Delikts durch das Obergericht als lediglich "nicht allzu schwer" oder als "Fehltritt" (E. 5.3.1.1, 5.3.1.3). Es verwies auf die eigenen Begründungen des Obergerichts zur Strafzumessung (E. 5.3.1.2), wo dieses von einer "nicht mehr geringen kriminellen Energie", "egoistischen" und "niedrigen" Motiven, "niederträchtigem" Verhalten (da es Personen in echter Not schädige) und einem Gesamtverschulden, das "nicht mehr leicht" wiege, sprach. Die vom Obergericht festgesetzte Einsatzstrafe von 120 Tagessätzen zeige ebenfalls, dass das Verschulden erheblich sei. Die Tat stelle einen nicht unerheblichen Eingriff in das öffentliche Interesse am Erhalt und der zweckkonformen Verwendung staatlicher Gelder sowie der Aufrechterhaltung der Funktionalität des Sozialsystems dar (E. 5.3.1.3).
  3. Beurteilung der Rückfallgefahr (E. 5.3.1.4): Das Bundesgericht kritisierte die Annahme der Vorinstanz, es bestehe keine Rückfallgefahr. Es wies auf die zwei nicht unerheblichen Vorstrafen (2016 und 2018 wegen SVG-Delikten, die zweite während laufender Probezeit begangen) innerhalb kurzer Zeit hin, die zusammen mit der aktuellen Tat (2019) auf einen insgesamt ungenügenden Respekt vor der Rechtsordnung hindeuteten. Die Aussagen des Beschwerdegegners im Berufungsverfahren deuteten darauf hin, dass ihn die Vorstrafen nicht nachhaltig beeindruckt hätten und er sie verharmlose. Seine Uneinsichtigkeit in das vorliegende Delikt stelle sein künftiges Wohlverhalten ernsthaft in Frage. Wohlverhalten seit der Tat und (teilweise) Rückzahlung seien zwar positiv zu werten, erfolgten aber im laufenden Strafverfahren unter dem Eindruck der drohenden Landesverweisung. Eine relevante Rückfallgefahr sei entgegen der Vorinstanz gegeben.
  4. Interessenabwägung (E. 5.3.2): Das Bundesgericht folgerte, dass angesichts der nicht unerheblichen Schwere der Anlasstat, der manifesten Gefährlichkeit des Beschwerdegegners für das hiesige Sozialsystem und der gegebenen Rückfallgefahr ein erhebliches öffentliches Interesse an der Landesverweisung bestehe (E. 5.3.1.5, 5.3.2). Dieses öffentliche Interesse stehe dem privaten Interesse des Beschwerdegegners gegenüber, das sich weitestgehend auf seine lange Aufenthaltsdauer gründe. Die Integration sei ansonsten unterdurchschnittlich, eine Reintegration im Heimatland möglich und zumutbar. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Gesamtwürdigung der Umstände das von ihm ausgehende Risiko für die soziale Sicherheit und damit das öffentliche Interesse an seiner Landesverweisung nicht aufwiege. Das öffentliche Interesse überwiege das private Interesse. Die Interessenabwägung der Vorinstanz sei damit unrichtig ausgefallen und verletze Bundesrecht.

Entscheid des Bundesgerichts:

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft gut. Es hob das Urteil des Obergerichts auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Die Vorinstanz hat nun eine Landesverweisung anzuordnen und deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) zu prüfen.

Das Bundesgericht auferlegte dem unterliegenden Beschwerdegegner grundsätzlich die Gerichtskosten, verzichtete aber aufgrund der bewilligten unentgeltlichen Rechtspflege darauf. Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wurde eine Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse zugesprochen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft gutgeheissen und das Urteil des Zürcher Obergerichts aufgehoben, welches von einer obligatorischen Landesverweisung eines pakistanischen Staatsangehörigen wegen unrechtmässigen Bezugs von Sozialleistungen (Art. 148a Abs. 1 StGB) abgesehen hatte. Das Bundesgericht kritisierte die Vorinstanz dafür, dass sie zu Unrecht einen schweren persönlichen Härtefall bejaht bzw. die Interessenabwägung falsch vorgenommen hatte. Es stellte fest, dass die Reintegration des Beschwerdegegners in Pakistan trotz fehlenden engen Familiennetzes möglich und zumutbar sei und dass seine Integration in der Schweiz (abgesehen von der Aufenthaltsdauer) unterdurchschnittlich sei. Zudem wertete das Bundesgericht das Delikt und das Verschulden als erheblich, wies auf die vorhandene Rückfallgefahr (auch aufgrund früherer Delikte) hin und bejahte ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Landesverweisung zum Schutz des Sozialsystems. Dieses öffentliche Interesse überwiege die privaten Interessen des Beschwerdegegners. Das Obergericht muss den Beschwerdegegner nun des Landes verweisen.