Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_797/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 10. Juni 2025:
Bundesgerichtsurteil 6B_797/2024 vom 10. Juni 2025
Gegenstand: Versuchter Mord, Gefährdung des Lebens, Versuch der Nötigung
Gericht: Schweizerisches Bundesgericht, 1. Strafrechtliche Abteilung
Parteien:
* A._ (Beschwerdeführer, Verurteilter)
* Ministère public central du canton de Vaud (Staatsanwaltschaft)
* B.B._ und C.B.__ (Beschwerdegegner 1 und 2, Geschädigte)
Vorinstanz: Cour d'appel pénale du Tribunal cantonal vaudois (Kantonales Berufungsgericht Waadt)
Entscheid der Vorinstanz:
Das kantonale Berufungsgericht wies die Berufung des Beschwerdeführers ab. Es bestätigte die erstinstanzliche Verurteilung wegen versuchten Mordes, Gefährdung des Lebens, Widerhandlungen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz. Es hiess die Berufung der Staatsanwaltschaft teilweise gut und verurteilte den Beschwerdeführer zusätzlich wegen Versuchs der Nötigung. Es ordnete eine ambulante Behandlung an.
Sachverhalt (gemäss vorinstanzlichen Feststellungen):
Der Sachverhalt wurde von der Vorinstanz in drei Phasen unterteilt:
1. Phase 1 (Erster Schuss): Am 6. August 2022, nachdem die Geschädigten auf bedrohliche Sprachnachrichten des Beschwerdeführers reagiert und sich zu dessen Haus begeben hatten, kam B.B._ auf die Terrasse des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer ergriff eine Pistole, lief auf B.B._ zu, der daraufhin wegrannte. Der Beschwerdeführer folgte auf die Terrasse, richtete die Waffe auf den fliehenden B.B._ und schoss.
2. Phase 2 (Drohungen mit Pistole): Die Geschädigten flohen die Treppe hinunter Richtung Garage. Der Beschwerdeführer folgte ihnen mit der Waffe in der Hand, richtete sie auf sie, drohte sie zu töten und sagte, es sei ihm egal ins Gefängnis zu gehen. Er gestikulierte mit der Waffe, senkte sie, bewegte sich unzusammenhängend und äusserte Inkohärenzen. B.B._ stellte sich schützend vor seinen Vater und versuchte den Beschwerdeführer zu beruhigen, was diesen weiter erzürnte.
3. Phase 3 (Drohungen mit Langwaffe): Nachdem die Geschädigten in ihr Auto gestiegen waren, kam der Beschwerdeführer erneut hervor, diesmal mit einem Grosskalibergewehr. Er drohte ihnen durch das Fenster, richtete den Lauf auf sie und befahl ihnen zu verschwinden.
Zusätzlich stellte die Vorinstanz fest:
* Der Beschwerdeführer besass diverse Waffen illegal (Phase Waffengesetz).
* Er konsumierte gelegentlich Kokain (Phase Betäubungsmittelgesetz).
* Ein psychiatrisches Gutachten attestierte volle Schuldfähigkeit, hohes Rückfallrisiko und empfahl ambulante Behandlung.
Beschwerde an das Bundesgericht:
Der Beschwerdeführer beantragte im Wesentlichen Freispruch von versuchtem Mord, Gefährdung des Lebens und versuchter Nötigung, Verurteilung nur wegen Waffen- und Betäubungsmittelvergehen, eine deutlich geringere Freiheitsstrafe, Verzicht auf ambulante Behandlung und Genugtuung/Entschädigung.
Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:
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Prinzip der Anklage (Art. 9 StPO):
- Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung des Anklageprinzips, da die Anklageschrift (Ziff. 3 und 4) unklar sei, insbesondere fehle bei der versuchten Nötigung das angestrebte Verhalten und es sei unklar, welche Fakten welchen Delikten zugeordnet seien.
- Das Bundesgericht erläuterte das Anklageprinzip: Die Anklageschrift muss die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten, Ort, Zeit, Tathergang und die rechtliche Würdigung präzise beschreiben. Sie dient der Abgrenzung des Prozessgegenstands und der Information des Beschuldigten (Art. 325 StPO, Art. 29 Abs. 2, 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK). Das Gericht ist an den Sachverhalt gebunden, nicht aber an die rechtliche Würdigung (Art. 350 Abs. 1 StPO). Eine implizite Darstellung von Deliktselementen ist zulässig, wenn die Verteidigung möglich bleibt.
- Zum ersten Vorwurf (versuchte Nötigung): Das Gericht stellte fest, dass die Anklageschrift die Drohnachrichten (Ziff. 3) wörtlich wiedergibt. Die Drohungen ("Du schuldest mir 120'000 Franken. Du gibst sie mir, hörst du nie wieder von mir. Sonst, du hast keine Ahnung, wir landen alle im Gefängnis... ", "du wirst mir 120'000 Franken in den nächsten zwei Wochen geben, sonst wird es dir schlecht ergehen") enthalten das angestrebte Nötigungsverhalten (Zahlung von 120'000 Fr. oder Kommen) implizit, aber klar. Der Beschwerdeführer konnte die Tragweite seiner Drohungen und das angestrebte Verhalten erkennen.
- Zum zweiten Vorwurf (Zuordnung Fakten/Delikte in Ziff. 4): Das Gericht befand, dass die chronologische Darstellung in Ziff. 4 es dem Beschwerdeführer ermöglichte zu verstehen, dass das Ziehen und Abfeuern einer Waffe auf versuchten Mord/Gefährdung des Lebens und die verbalen Drohungen auf Drohungen/Nötigung bezogen sind. Zudem habe die Staatsanwaltschaft in erster Instanz klar gemacht, dass der dritte Absatz von Ziff. 4 die Nötigung betreffe (Verweis auf erstinstanzliches Urteil S. 58).
- Fazit Anklageprinzip: Die Anklageschrift war hinreichend bestimmt. Die Rügen sind unbegründet.
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Versuchter Mord (Phase 1):
- Der Beschwerdeführer bestritt, mit Tötungsabsicht auf B.B.__ geschossen zu haben. Er behauptete, in den Boden geschossen zu haben. Er rügte eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung, insbesondere die Missachtung des Ballistikgutachtens, von Verteidigungsplänen/-fotos und widersprüchlicher Aussagen der Geschädigten.
- Das Bundesgericht wiederholte die Grundsätze zur Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 1/2 LTF, Art. 9 BV, in dubio pro reo als Beweiswürdigungsregel: nur bei ernsthaften, unüberwindlichen Zweifeln). Es prüft nur Willkür, d.h. wenn die Feststellung offensichtlich unhaltbar ist. Aussagen von Opfern sind Beweismittel, die frei gewürdigt werden (Ausnahme Glaubwürdigkeitsgutachten). "Aussage gegen Aussage" führt nicht automatisch zu Freispruch.
- Die Vorinstanz stützte sich für die Annahme des Schusses auf B.B.__ auf dessen Aussagen, ein Schreiben des Beschwerdeführers an seine Mutter und den Fundort der Kugel. Sie würdigte die Aussagen des Beschwerdeführers als nicht glaubwürdig.
- Das Bundesgericht stellte fest: Es wurde nur ein Schuss abgegeben und eine Kugel 15 cm tief im Boden bei einem blauen Krug gefunden (gemäss erstinstanzlichem Urteil und Ballistikgutachten P. 115).
- Ballistikgutachten (P. 115): Stützt die Hypothese, dass die gefundene Kugel aus der Waffe des Beschwerdeführers stammt. Kann die Flugbahn nicht bestimmen. Stellt keinen Widerspruch zwischen Fundort der Kugel und der Aussage des Beschwerdeführers, in den Boden geschossen zu haben, fest.
- Aussage des Ballistikexperten: Verneinte, dass die Kugel an diesem Ort landen könnte, wenn horizontal auf die Treppe geschossen worden wäre.
- Kritik des Bundesgerichts an der Vorinstanz: Die Vorinstanz folgerte, die Kugel sei "zwischen der Glastür der Terrasse und der Treppe" gefunden worden und dies stütze die Hypothese des versuchten Mordes (Schuss auf Flüchtenden). Diese Schlussfolgerung ist nach Ansicht des Bundesgerichts offensichtlich unhaltbar (manifestement insoutenable) und beruht auf einer willkürlichen Sachverhaltsfeststellung. Der Fundort der Kugel widerspricht gerade nicht der Darstellung des Beschwerdeführers, in den Boden geschossen zu haben, sondern ist gemäss Gutachten damit vereinbar.
- Aussagen der Geschädigten: B.B._ hörte den Schuss, sah nicht genau, wohin geschossen wurde, aber dass die Waffe auf ihn gerichtet war (widersprüchlich zu "sah nicht genau"). C.B._ hörte den Schuss, sah ihn nicht, war sich aber "sicher, dass [der Beschwerdeführer] auf seinen Sohn schoss". Ihre Aussagen enthielten Widersprüche, insbesondere zum genauen Standort von C.B.__ (oben auf der Treppe, unten auf der Treppe, auf der 2./3. Stufe) und was er von dort sehen konnte.
- Szene und Sichtbarkeit: Die Pläne (P. 135) zeigen eine Treppe mit 8 Stufen und 2.2 m Höhenunterschied sowie dichte Vegetation. Fotos (P. 122) reichen nicht aus, um die Situation zu verstehen. Die Stellung von C.B._ ist entscheidend, um zu beurteilen, was er sehen konnte. Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz zu C.B._'s Position und Sichtbarkeit war unzureichend (insuffisante).
- Schreiben an Mutter: Belegt zwar die Absicht, auf die Geschädigten zu schiessen (gemäss Interpretation), muss aber im Gesamtkontext der Schriften des Beschwerdeführers (Neigung zur Übertreibung) gewürdigt werden. Es nennt keine Flugbahn.
- Fazit versuchter Mord: Angesichts des Ballistikgutachtens, der widersprüchlichen Aussagen der Geschädigten und der unzureichenden Klärung der Sichtverhältnisse konnte die Vorinstanz nicht willkürfrei darauf schliessen, dass der Beschwerdeführer auf B.B.__ schoss. Die Verurteilung wegen versuchten Mordes ist aufzuheben.
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Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB a.F.) (Phase 2):
- Der Beschwerdeführer bestritt, die Geschädigten in Phase 2 mit der Pistole in unmittelbare Lebensgefahr gebracht zu haben. Er behauptete, es gebe keine Beweise, dass die Waffe nach dem ersten Schuss noch geladen, eine Patrone im Lauf oder die Waffe entsichert gewesen sei und dass sich unvorhergesehen ein Schuss hätte lösen können.
- Das Bundesgericht erläuterte Art. 129 StGB a.F.: Erforderlich sind konkrete, unmittelbare Lebensgefahr, Kenntnis dieser Gefahr und Skrupellosigkeit. Konkrete Gefahr bedeutet eine gewisse Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit der Verletzung. Unmittelbar bedeutet ein direkter Zusammenhang zwischen Verhalten und Gefahr. Bei Schusswaffen z.B. Schuss in unmittelbarer Nähe einer Person, die unvorhergesehen in die Flugbahn geraten könnte, oder Querschlägergefahr. Vorsatz bezüglich der Gefahr, aber keine Absicht (auch nicht Eventualvorsatz) bezüglich der Realisierung des Risikos (sonst Tötungsdelikt). Skrupellosigkeit bei eklatanter Missachtung der Menschlichkeit, geringfügigen Motiven, krasser Unverhältnismässigkeit.
- Die Vorinstanz stützte die Verurteilung auf die Aussagen der Geschädigten und befand, die ungesicherte Waffe mit Patrone im Lauf, die Nähe, die Nervosität und ständigen Bewegungen des Beschwerdeführers hätten eine konkrete Gefahr geschaffen.
- Kritik des Bundesgerichts an der Vorinstanz: Es fehle an einer nachvollziehbaren Begründung, wie die Vorinstanz zur Annahme gelangte, dass die Waffe entsichert und eine Patrone im Lauf war. Die Geschädigten sahen nicht, ob der Finger am Abzug war. Der Beschwerdeführer gab zwar an, das Magazin eingeführt zu haben. Der Ballistikexperte sagte, die Waffe erlaube mehrere Schüsse nacheinander, sofern das Magazin mehrere Patronen enthielt – dies ist nicht festgestellt. Zur Sicherung konnte sich der Experte nicht erinnern und sagte, er müsste die Waffe erneut sehen.
- Fazit Gefährdung des Lebens: Die Vorinstanz hat ihre Schlussfolgerung, dass die Waffe entsichert war und eine Patrone im Lauf hatte, nicht hinreichend begründet (Verletzung Art. 112 BGG). Ohne diese Feststellung ist die Annahme einer konkreten, unmittelbaren Lebensgefahr in Phase 2 nicht nachvollziehbar. Die Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens ist aufzuheben.
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Strafzumessung: Hinfällig aufgrund der Aufhebung der Schuldsprüche für die Hauptdelikte.
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Ambulante Behandlung, Genugtuung, Entschädigung (Art. 433 StPO): Diese Punkte wurden vom Beschwerdeführer in der Beschwerde nicht substantiiert gerügt und wurden vom Bundesgericht nicht geprüft (Art. 42 Abs. 2 LTF).
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Gesamtentscheid: Das Bundesgericht gibt der Beschwerde teilweise statt. Das Urteil der Vorinstanz wird hinsichtlich der Schuldsprüche wegen versuchten Mordes (Phase 1) und Gefährdung des Lebens (Phase 2) aufgehoben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Beschwerde wird im Übrigen abgewiesen (was bedeutet, dass die Verurteilung wegen versuchter Nötigung sowie der Widerhandlungen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz bestehen bleibt, da die dagegen gerichteten Rügen abgewiesen oder nicht geprüft wurden). Die Kosten werden nach dem Ausgang des Verfahrens verteilt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht hat das Urteil des Kantonsgerichts Waadt teilweise aufgehoben und zur Neubeurteilung zurückgewiesen, insbesondere bezüglich der Verurteilungen wegen versuchten Mordes und Gefährdung des Lebens.
- Anklageprinzip: Die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der Unklarheit der Anklageschrift, insbesondere bei der versuchten Nötigung und der Zuordnung von Fakten zu Delikten, wurde vom Bundesgericht abgewiesen. Die Anklageschrift wurde als hinreichend bestimmt erachtet.
- Versuchter Mord (Phase 1): Das Gericht hob den Schuldspruch auf. Es befand, die vorinstanzliche Feststellung, der Beschwerdeführer habe auf den Geschädigten geschossen, sei willkürlich. Dies basierte auf einer fehlerhaften Würdigung des Ballistikgutachtens (welches den Fundort der Kugel als vereinbar mit einem Schuss in den Boden sah) und unzureichenden Abklärungen bezüglich der Sichtverhältnisse und der Glaubwürdigkeit der Aussagen der Geschädigten zum Schussablauf.
- Gefährdung des Lebens (Phase 2): Auch dieser Schuldspruch wurde aufgehoben. Das Gericht rügte, dass die Vorinstanz nicht nachvollziehbar begründet habe, weshalb die Waffe nach dem ersten Schuss als entsichert und mit einer Patrone im Lauf galt. Diese Feststellungen seien aber entscheidend für die Annahme einer konkreten, unmittelbaren Lebensgefahr. Die Begründung der Vorinstanz sei hierzu unzureichend.
- Rückweisung: Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese die Schuldsprüche für versuchten Mord und Gefährdung des Lebens unter Berücksichtigung der rechtlichen Vorgaben neu beurteilt.
Die Schuldsprüche wegen versuchter Nötigung sowie der Widerhandlungen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz blieben von der Aufhebung unberührt, da die dagegen erhobenen Rügen abgewiesen oder nicht geprüft wurden.