Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_113/2025 vom 11. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgerichtsurteil 6B_113/2025 vom 11. Juni 2025 der I. strafrechtlichen Abteilung

Gegenstand: Versuchte vorsätzliche Tötung; Notwehr; unrichtige Sachverhaltsfeststellung

Parteien: * Beschwerdeführer: A._ * Beschwerdegegner: B._ * Weitere Beteiligte: Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis

Ausgangslage: Das Kantonsgericht Wallis (Vorinstanz) bestätigte mit Urteil vom 19. Dezember 2024 den Schuldspruch des Beschwerdeführers wegen versuchter vorsätzlicher Tötung (neben weiteren Delikten) und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 48 Monaten. Der Beschwerdeführer focht diesen Entscheid mit Beschwerde in Strafsachen vor Bundesgericht an und beantragte im Wesentlichen seinen Freispruch vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung gestützt auf Notwehr sowie eine Entlassung aus der Haft.

Rügen des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer machte im Wesentlichen geltend, die Vorinstanz habe den Sachverhalt willkürlich festgestellt und den Grundsatz "in dubio pro reo" verletzt. Zudem habe eine Notwehrsituation vorgelegen, welche sein Handeln rechtfertige oder zumindest entschuldige (Verletzung von Art. 15 und Art. 16 StGB).

Begründung des Bundesgerichts:

  1. Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Erwägung 1):

    • Das Bundesgericht prüft die Sachverhaltsfeststellung nur auf offensichtliche Unrichtigkeit (Willkür) oder Rechtsverletzung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Willkür liegt vor, wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist. Der Grundsatz "in dubio pro reo" wird vor Bundesgericht primär als Willkürverbot (Art. 9 BV) verstanden, nicht als übergeordnetes Beweiswürdigungsprinzip. Als Beweislastregel bedeutet er, dass die Anklagebehörde die Schuld beweisen muss.
    • Die Vorinstanz stützte ihren Schuldspruch auf die Feststellung, dass der Beschwerdeführer während einer Auseinandersetzung ein Brotmesser ergriff und den Beschwerdegegner damit am Hals verletzte. Sie unterschied zwei Phasen: Die erste Phase, in der der Beschwerdegegner den Beschwerdeführer am Verlassen des Zimmers hinderte und tätlich wurde; und die zweite Phase, in der der Beschwerdeführer das Zimmer verliess, ein Messer ergriff und den Beschwerdegegner angriff. Die Vorinstanz wertete die Aussagen des Beschwerdegegners als glaubhaft (logisch, erlebnisbasiert, selbstbelastend) und sah diese durch objektive Beweismittel (Polizeidokumente, Gutachten) gestützt. Die Aussagen des Beschwerdeführers wurden demgegenüber als unklar, widersprüchlich und Schutzbehauptungen qualifiziert.
    • Das Bundesgericht prüfte die konkreten Rügen des Beschwerdeführers gegen die Sachverhaltsfeststellung:
      • Die Rüge, er habe sich nie auf den Flur begeben und dort kein Messer behändigt, wurde als appellatorisch zurückgewiesen. Die Vorinstanz habe die widersprüchlichen Aussagen gewürdigt und plausibel dargelegt, weshalb sie der Version des Beschwerdegegners folgte. Eine einzelne, aus dem Kontext gerissene Aussage des Beschwerdegegners reiche nicht für eine Willkürbegründung.
      • Die Rüge, seine Telefonanrufe bei der Polizei seien willkürlich nicht berücksichtigt worden, wurde ebenfalls verworfen. Die Vorinstanz habe die Anrufe zur Kenntnis genommen, sie aber im Gesamtzusammenhang nicht zugunsten des Beschwerdeführers gewertet. Die Behauptung, er hätte bei eigener Schuld nicht die Polizei gerufen, sei unbelegt und nicht geeignet, Willkür darzulegen.
      • Die Kritik am rechtsmedizinischen Gutachten (fehlende Fotos, Formulierung des Auftrags) wurde als unbegründet erachtet. Das Gutachten beschreibe die Verletzungen detailliert, Fotos hätten eingefordert werden können. Die Formulierung des Auftrags, welche die Sicht der Staatsanwaltschaft wiedergab, sei im Rahmen einer unabhängigen Begutachtung zulässig, da der Sachverständige auch andere Akten (Einvernahmen) kannte.
    • Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass der Beschwerdeführer weder eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung noch eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" nachweisen konnte. Die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz sind für das Bundesgericht bindend.
  2. Rechtliche Beurteilung - Notwehr (Erwägung 2):

    • Das Bundesgericht legt die Voraussetzungen der rechtfertigenden Notwehr (Art. 15 StGB) und der entschuldbaren Notwehr (Art. 16 StGB) dar. Eine Notwehrsituation liegt vor, wenn jemand ohne Recht angegriffen wird oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht ist. Die Abwehr muss verhältnismässig sein (Angemessenheit, Subsidiarität, Güterabwägung), insbesondere bei Einsatz gefährlicher Werkzeuge (BGE 136 IV 49). Bei Notwehrexzess mildert das Gericht die Strafe (Art. 16 Abs. 1 StGB). Bei entschuldbarem Notwehrexzess infolge entschuldbarer Aufregung/Bestürzung handelt der Täter nicht schuldhaft (Art. 16 Abs. 2 StGB), wobei bei lebensgefährlicher Abwehr eine schwere psychische Beeinträchtigung (Todesangst, Furcht vor schweren Verletzungen) erforderlich ist (BGE 102 IV 1).
    • Notwehrlage: Die Vorinstanz ging davon aus, dass die Notwehrlage mit dem Ende der ersten Phase (als der Beschwerdegegner den Beschwerdeführer festhielt und dessen Sachen aus dem Zimmer warf) beendet war. Das Bundesgericht korrigiert dies entscheidend: Der Beschwerdegegner befand sich unberechtigt im Zimmer des Beschwerdeführers. Dies stellte einen Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB) dar, welcher ein Dauerdelikt ist. Der rechtswidrige Zustand (Verletzung des Hausrechts) dauerte an, solange der Beschwerdegegner im Zimmer verblieb. Das Hausrecht ist ein notwehrfähiges Rechtsgut (BGE 102 IV 1). Auch wenn der Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, hätte der Angriff auf sein Hausrecht fortbestanden. Folglich lag auch in der zweiten Phase der Auseinandersetzung eine Notwehrsituation im Sinne von Art. 15 StGB vor.
    • Notwehrexzess: Obwohl eine Notwehrlage bestand, war die Abwehrhandlung des Beschwerdeführers nicht angemessen im Sinne von Art. 15 StGB. Er ergriff ein 26 cm langes Brotmesser und griff den unbewaffneten Beschwerdegegner gezielt im Halsbereich an, wobei er ihm potenziell lebensgefährliche Verletzungen zufügte. Diese Abwehr war gemessen an der Schwere des Angriffs (Verletzung des Hausrechts, tätliche Auseinandersetzung in der ersten Phase) und den betroffenen Rechtsgütern (Hausrecht des Beschwerdeführers vs. Leben und körperliche Integrität des Beschwerdegegners) offensichtlich unverhältnismässig. Der Beschwerdeführer hätte mildere Mittel wählen können (z.B. das Messer nur drohend einsetzen, sich zurückziehen oder fliehen, was nach Feststellung der Vorinstanz möglich war, auch wenn es die Notwehrlage als solche nicht aufhob). Die Abwehr mit dem Messer stellte somit einen Notwehrexzess im Sinne von Art. 16 Abs. 1 StGB dar.
    • Entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB): Das Bundesgericht prüfte, ob der Notwehrexzess entschuldbar war. Hierfür müsste eine entschuldbare Aufregung oder Bestürzung infolge des Angriffs vorliegen, die es dem Beschwerdeführer unmöglich machte, besonnen zu reagieren. Bei einer Abwehr, die den Tod des Angreifers in Kauf nimmt, ist der Massstab streng. Es wird verlangt, dass der Abwehrende sich in Todesangst befand oder schwere Verletzungen befürchtete. Da der Beschwerdegegner unbewaffnet war und der Beschwerdeführer ihn mit einem Messer am Hals angriff (erhebliche Gefährdung), hätte eine aussergewöhnlich starke Aufregung oder Bestürzung vorliegen müssen. Eine solche war laut Bundesgericht, sofern überhaupt vorhanden, nicht derart schwerwiegend, dass sie den Grad des Exzesses entschuldbar machte. Art. 16 Abs. 2 StGB wurde verneint.
    • Konsequenz für das Urteil: Die Vorinstanz hat Bundesrecht verletzt, indem sie das Vorliegen einer Notwehrlage in der zweiten Phase der Auseinandersetzung verneinte. Zwar ist das Handeln des Beschwerdeführers weiterhin als Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 1 StGB) und nicht als gerechtfertigte Notwehr (Art. 15 StGB) zu qualifizieren, da die Abwehrhandlung unverhältnismässig war. Jedoch ist Art. 16 Abs. 1 StGB ein Strafmilderungsgrund, der von der Vorinstanz bei der Strafzumessung hätte berücksichtigt werden müssen. Dies hat die Vorinstanz aufgrund ihrer fehlerhaften Annahme, es habe keine Notwehrlage bestanden, nicht getan.
  3. Haftentlassung und Entschädigung (Erwägung 3):

    • Die Anträge auf Haftentlassung und Entschädigung für Überhaft wurden vom Beschwerdeführer ausschliesslich mit dem beantragten Freispruch begründet. Da der Schuldspruch wegen versuchter vorsätzlicher Tötung bestehen bleibt (wenn auch unter Anwendbarkeit eines Strafmilderungsgrundes), werden diese Anträge gegenstandslos bzw. unbegründet.

Entscheid des Bundesgerichts:

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Kantonsgerichts Wallis wird hinsichtlich der ausgesprochenen Strafe aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Entscheidung (insbesondere zur neuen Strafzumessung unter Berücksichtigung des Strafmilderungsgrundes von Art. 16 Abs. 1 StGB) an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen (insbesondere bezüglich des Schuldspruchs der versuchten vorsätzlichen Tötung) wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte.

Die Kosten- und Entschädigungsfolgen spiegeln den teilweisen Erfolg der Beschwerde wider.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Das Bundesgericht hält die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner mit einem Messer angriff, für nicht willkürlich.
  • Entgegen der Vorinstanz bejaht das Bundesgericht das Vorliegen einer Notwehrlage auch in der zweiten Phase der Auseinandersetzung, da der unrechtmässige Aufenthalt des Beschwerdegegners im Zimmer (Hausfriedensbruch) einen fortwährenden Angriff auf das Hausrecht des Beschwerdeführers darstellte.
  • Die Messerattacke war jedoch eine offensichtlich unverhältnismässige Abwehr dieses Angriffs und stellt somit einen Notwehrexzess im Sinne von Art. 16 Abs. 1 StGB dar.
  • Ein entschuldbarer Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 2 StGB) wurde verneint, da die Voraussetzungen für eine Entschuldigung einer potenziell tödlichen Abwehr nicht erfüllt waren.
  • Der Schuldspruch wegen versuchter vorsätzlicher Tötung bleibt bestehen, jedoch muss die Vorinstanz bei der Strafzumessung den Strafmilderungsgrund des Notwehrexzesses (Art. 16 Abs. 1 StGB) berücksichtigen.
  • Das Urteil wird daher nur im Punkt der Strafhöhe aufgehoben und zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurückgewiesen.

Dieses Urteil verdeutlicht die feine juristische Unterscheidung zwischen Notwehrlage, gerechtfertigter Notwehr, strafmilderndem Notwehrexzess und straflosem (entschuldbarem) Notwehrexzess sowie die Bedeutung der korrekten rechtlichen Qualifikation eines Sachverhalts für die Strafzumessung, auch wenn der zugrundeliegende Schuldspruch bestehen bleibt. Es bestätigt, dass ein Dauerdelikt wie Hausfriedensbruch eine Notwehrlage begründen kann, die Abwehrhandlung aber stets verhältnismässig bleiben muss, selbst wenn die Flucht eine theoretische Alternative wäre, die aber das angegriffene Rechtsgut nicht schützen würde.