Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_61/2025 vom 17. Juni 2025

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Gerne, hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_61/2025 des schweizerischen Bundesgerichts vom 17. Juni 2025.

Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_61/2025 vom 17. Juni 2025

Gegenstand: Invalidenversicherung (IV), Hilflosenentschädigung (HE), Intensivpflegezuschlag (IPZ) für Minderjährige.

Parteien: * Beschwerdeführer: Invalidenversicherungsstelle des Kantons Genf (IV-Stelle) * Beschwerdegegnerin: A.__, vertreten durch ihre Eltern und PROCAP

Sachverhalt: A.__, geboren 2015, leidet an Trisomie 21 und erheblichen Sehstörungen. Sie bezog bereits verschiedene IV-Leistungen. Im November 2022 beantragte sie über ihre Eltern eine Hilflosenentschädigung (HE). Nach einer Hausabklärung sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Entscheidung vom 20. April 2023 eine Hilflosenentschädigung leichten Grades ab dem 1. November 2021 zu.

Gegen diese Entscheidung erhob A.__ Beschwerde vor dem Kantonsgericht Genf (Cour de justice). Das Kantonsgericht hiess die Beschwerde am 17. Dezember 2024 gut, hob die Entscheidung der IV-Stelle auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die IV-Stelle zurück. Das Kantonsgericht stellte fest, dass die Versicherte ab dem 1. März 2023 Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung schweren Grades sowie auf einen Intensivpflegezuschlag (IPZ) habe, der einem täglichen Mehraufwand an Pflege von 6 Stunden (362 Minuten) entspreche.

Die IV-Stelle focht diesen Entscheid des Kantonsgerichts mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht an. Sie verlangte die Aufhebung des Urteils, "soweit es eine Hilflosenentschädigung schweren Grades ab März 2023 und einen zusätzlichen Zeitbedarf für Intensivpflege von 362 Minuten (6 Stunden 02) anerkennt". Im Kern beantragte die IV-Stelle, der tägliche Mehraufwand solle auf 327 Minuten (5 Stunden 27 Minuten) festgesetzt werden. Das Recht der Versicherten auf eine HE schweren Grades ab 1. März 2023 wurde von der IV-Stelle im Rahmen der Bundesgerichtsinstanz nicht mehr bestritten.

Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Zulässigkeit der Beschwerde (Erwägung 1): Das angefochtene kantonale Urteil ist ein Rückweisungsentscheid, der die Sache zur Neubeurteilung an die IV-Stelle zurückweist. Solche Zwischenentscheide sind gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG nur unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbar beim Bundesgericht anfechtbar. Vorliegend hat das Kantonsgericht jedoch definitiv über den Anspruch der Versicherten auf eine HE schweren Grades und insbesondere über den Betrag des Intensivpflegezuschlags (362 Minuten) entschieden. Diese verbindlichen Anweisungen würden die IV-Stelle verpflichten, eine Entscheidung zu erlassen, die sie als rechtswidrig erachtet, ohne diese später vor einer höheren Instanz anfechten zu können (vgl. ATF 144 V 280 E. 1.2). Dies stellt einen irreparable Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG dar. Daher ist auf die Beschwerde einzutreten.

  2. Anwendbares Recht und Prüfungsbefugnis (Erwägung 2): Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Bundesrecht gemäss Art. 95 ff. BGG und wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es stützt sich auf den Sachverhalt, wie er von der Vorinstanz festgestellt wurde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser wurde offensichtlich unrichtig oder unter Verletzung von Bundesrecht ermittelt (Art. 105 Abs. 2 BGG).

  3. Rechtlicher Rahmen des Intensivpflegezuschlags (Erwägung 3):

    • Streitig ist einzig der Betrag des Intensivpflegezuschlags, insbesondere der Umfang des notwendigen Mehraufwands in Minuten pro Tag (362 Minuten vs. 327 Minuten).
    • Rechtsgrundlagen sind Art. 42ter Abs. 3 IVG und Art. 39 Abs. 1 IVV. Ein IPZ wird einem Minderjährigen gewährt, der zusätzlich zur Hilflosenentschädigung einen Mehraufwand an Pflege benötigt, der den Schwellenwert von täglich 4 Stunden erreicht.
    • Die Höhe des IPZ bemisst sich nach dem täglichen Mehraufwand:
      • mindestens 8 Stunden: 100% des max. AHV-Rentenbetrags
      • mindestens 6 Stunden: 70% des max. AHV-Rentenbetrags
      • mindestens 4 Stunden: 40% des max. AHV-Rentenbetrags
    • Die Bemessung erfolgt zeitlich (Erwägung 3.3 i.V.m. 5), basierend auf einem Vergleich des Mehraufwands für Behandlung und Grundpflege im Verhältnis zu einem gesunden Kind gleichen Alters (Art. 39 Abs. 2 IVV).
    • Die in Art. 39 Abs. 2 IVV erwähnte Grundpflege bezieht sich auf die in Art. 7 Abs. 2 lit. c der Verordnung über die Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (KLV) genannten Tätigkeiten. Dazu gehören u.a. Unterstützung bei Körper- und Mundhygiene, An- und Ausziehen, Essen und Trinken.
  4. Massgebende Kriterien für Minderjährige und Verwaltungsweisungen (Erwägung 5): Die Hilflosigkeit bei Minderjährigen wird analog zu den Regeln für Erwachsene (Art. 9 ATSG, Art. 37 IVV) beurteilt. Dabei ist jedoch der Umstand zu berücksichtigen, dass auch gesunde Kleinkinder einen erheblichen Pflege- und Beaufsichtigungsbedarf haben (Art. 37 Abs. 4 IVV; ATF 137 V 424 E. 3.3.3.2). Nur der zusätzliche Mehraufwand aufgrund der Beeinträchtigung wird berücksichtigt. Zur Erleichterung der Beurteilung hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Richtlinien erlassen (Kreisschreiben über die Invalidität und Hilflosigkeit in der IV [CIIAI], ab 2022 Kreisschreiben über die Hilflosigkeit [CSI]). Diese Richtlinien geben Orientierungswerte für das Alter, ab dem gesunde Kinder keine regelmässige Hilfe mehr benötigen, sowie maximale Zeitwerte für die Hilfe bei den einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen (Anhänge). Verwaltungsweisungen sind für den Richter nicht bindend, aber zu berücksichtigen, sofern sie eine sachgerechte und einheitliche Rechtsanwendung ermöglichen. Von überzeugenden Richtlinien weicht das Gericht nicht ohne triftigen Grund ab (ATF 148 V 102 E. 4.2; 146 V 224 E. 4.4).

  5. Beurteilung des Mehraufwands für die Verrichtung "Toilettegang" (Erwägung 6):

    • Sachverhalt und kantonale Beurteilung: Die Beschwerdegegnerin trägt Windeln, hat Darmprobleme und ist für diese Verrichtung nicht selbstständig. Die Abklärerin stellte 6 Toilettengänge/Tag fest, die Mutter 12 Toilettengänge/Tag (wegen Durchfall/Verstopfung), oft mit starker Verschmutzung und Notwendigkeit des Waschens. Das Kantonsgericht folgte der Darstellung der Mutter (12 Gänge/Tag). Es berücksichtigte einen Mehraufwand von 100 Minuten: 40 Minuten Grundmehraufwand plus 60 Minuten für Windelwechsel bei jedem der 12 Gänge (12 x 5 Minuten = 60 Minuten). Es begründete dies mit dem Alter (8 Jahre), den häufigen Gängen, der Notwendigkeit des Waschens und der erheblichen Hilfe.
    • Argument der IV-Stelle: Die IV-Stelle machte geltend, der Mehraufwand für den "Toilettegang" betrage gemäss CSI/CIIAI total 70 Minuten (40 Minuten Grundmehraufwand plus 30 Minuten für Windelwechsel).
    • Analyse des Bundesgerichts: Gemäss Anhang 3 CSI und Anhang IV CIIAI ist für die Verrichtung "Toilettegang" (bis 10 Jahre) ein maximaler Zeitbedarf von 40 Minuten vorgesehen. Ein zusätzlicher Zeitbedarf von 5 Minuten ist bei häufigem Windelwechsel oder wiederholter Begleitung zur Toilette ab dem 7. Gang pro Tag pro Intervention zu berücksichtigen.
    • Das Kantonsgericht hat die zusätzlichen 5 Minuten pro Intervention für jeden der 12 Gänge berechnet (12 x 5 = 60 Min.), was bedeutet, dass es diese 5 Minuten bereits ab dem ersten Gang hinzugezählt hat. Dies widerspricht den Verwaltungsweisungen, die diese Addition erst ab dem 7. Gang vorsehen.
    • Das Bundesgericht hält fest, dass die Verwaltungsweisungen in diesem Punkt (Zurechnung der zusätzlichen 5 Min/Intervention erst ab dem 7. Gang) eine überzeugende Konkretisierung der gesetzlichen Bestimmungen darstellen und eine gleichmässige Rechtsanwendung gewährleisten. Vom Grundsatz, dass die ersten 6 Gänge im maximalen Zeitbedarf von 40 Minuten enthalten sind, kann nur mit triftigem Grund abgewichen werden. Ein solcher Grund wurde vom Kantonsgericht nicht dargelegt.
    • Die korrekte Berechnung des Mehraufwands für "Toilettegang" bei 12 Gängen pro Tag beträgt somit: 40 Minuten (für die ersten 6 Gänge, im Maximalwert enthalten) + (12 Gänge - 6 Gänge) * 5 Minuten/Gang (für die Gänge 7 bis 12) = 40 + 30 = 70 Minuten.
    • Das Kantonsgericht hat somit zu Unrecht 30 Minuten (6 Gänge x 5 Min.) zusätzlich berücksichtigt. Dieser fälschlich berücksichtigte Mehraufwand muss vom gesamten vom Kantonsgericht festgestellten Mehraufwand abgezogen werden: 362 Minuten (Total gemäss Kantonsgericht) - 30 Minuten (zu Unrecht für die ersten 6 Gänge berücksichtigt) = 332 Minuten.
    • Ein täglicher Mehraufwand von 332 Minuten (5 Stunden und 32 Minuten) liegt unter dem Schwellenwert von 6 Stunden, erreicht aber den Schwellenwert von 4 Stunden (240 Minuten).
    • Angesichts dieses Ergebnisses musste das Bundesgericht den Einwand der IV-Stelle bezüglich der Verrichtung "Essen" nicht mehr prüfen, da die Korrektur beim "Toilettegang" bereits dazu führte, dass der tägliche Mehraufwand unter 6 Stunden liegt.
  6. Entscheid und Folgen (Erwägung 6.3): Die Beschwerde der IV-Stelle ist begründet. Das Urteil des Kantonsgerichts ist in Bezug auf den Betrag des Intensivpflegezuschlags zu reformieren. Der tatsächliche tägliche Mehraufwand beträgt 332 Minuten. Dies entspricht einem Bedarf von mindestens 4 Stunden (gemäss der Staffelung in Art. 42ter Abs. 3 IVG). Daher hat die Versicherte Anspruch auf einen IPZ, der einem Bedarf von mindestens 4 Stunden entspricht, ab dem 1. März 2023.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Das Bundesgericht hatte über die Höhe des Intensivpflegezuschlags für eine Minderjährige mit Trisomie 21 zu entscheiden.
  • Streitig war der tägliche Mehraufwand an Pflege, insbesondere für die Verrichtung "Toilettegang".
  • Das Kantonsgericht hatte 362 Minuten (entspricht > 6 Stunden) anerkannt, basierend auf 12 täglichen Toilettengängen und einem zusätzlichen Zeitbedarf von 5 Minuten für jeden Gang.
  • Das Bundesgericht korrigierte diese Berechnung basierend auf den Verwaltungsweisungen (CSI/CIIAI), wonach der zusätzliche Zeitbedarf von 5 Minuten pro Intervention für Windelwechsel/Begleitung erst ab dem 7. Gang pro Tag berücksichtigt wird.
  • Der korrekte Mehraufwand für "Toilettegang" bei 12 Gängen beträgt somit 40 Minuten (für die ersten 6 Gänge) + 30 Minuten (für die Gänge 7-12) = 70 Minuten, nicht 100 Minuten.
  • Der gesamte tägliche Mehraufwand reduziert sich dadurch von 362 auf 332 Minuten (5 Stunden 32 Minuten).
  • Ein Mehraufwand von 332 Minuten liegt unter dem Schwellenwert von 6 Stunden, aber über dem Schwellenwert von 4 Stunden für den IPZ.
  • Folge: Das Bundesgericht reformiert das kantonale Urteil und stellt fest, dass die Versicherte Anspruch auf den Intensivpflegezuschlag hat, der einem Bedarf von mindestens 4 Stunden pro Tag entspricht, ab dem 1. März 2023.

Urteilsspruch: Die Beschwerde wird gutgeheissen. Ziffer 3 des Dispositivs des Urteils des Kantonsgerichts Genf vom 17. Dezember 2024 wird reformiert: Die Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung schweren Grades und auf einen Intensivpflegezuschlag von 4 Stunden ab dem 1. März 2023.