Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_125/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts:
Urteil des Bundesgerichts 9C_125/2025 vom 20. Juni 2025
Parteien:
* Beschwerdeführerin: A.__ Sàrl (Restaurantbetrieb)
* Intimierter: Office fédéral de la douane et de la sécurité des frontières (OFDF)
Gegenstand:
Nacherhebung von Zollabgaben und Einfuhr-Mehrwertsteuer (MWST) für die Steuerperioden 2018-2019. Die Beschwerdeführerin wurde zur Zahlung von CHF 60'337.70 (Zölle, Einfuhr-MWST, Verzugszinsen) herangezogen.
Vorinstanz:
Bundesverwaltungsgericht (BVGer), Urteil vom 16. Januar 2025.
Sachverhalt (Kurzform):
Bei Kontrollen im Januar 2019 wurden in einem Fahrzeug, das von D._ gefahren wurde, nicht deklarierte Fleischwaren festgestellt. D._ war bei E._ Sàrl angestellt, die Fleischwaren an die Beschwerdeführerin verkaufte. Eine administrative Strafuntersuchung wurde eingeleitet, bei der Rechnungen von E._ Sàrl an die Beschwerdeführerin gefunden wurden. Gestützt darauf erliess die Zollverwaltung einen Nacherhebungsentscheid, der die Beschwerdeführerin, D._ und E._ Sàrl solidarisch für die Nachforderung haftbar erklärte. Die Beschwerdeführerin focht diesen Entscheid erfolglos vor dem BVGer an.
Rechtlicher Rahmen der Nacherhebung (Art. 12 VStrR, Art. 70 ZG, Art. 51 MWSTG):
Das Bundesgericht legt zunächst die massgebenden Bestimmungen dar:
1. Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR: Ermöglicht die Nacherhebung von Beiträgen (inkl. Zinsen), die infolge einer Verletzung der Bundesverwaltungsgesetzgebung zu Unrecht nicht erhoben wurden. Dies gilt auch dann, wenn keine bestimmte Person strafbar ist.
2. Art. 12 Abs. 2 VStrR: Schuldner der Nacherhebung ist, wer den rechtswidrigen Vorteil erzielt hat, namentlich wer zur Bezahlung des Beitrags verpflichtet war oder die Vergütung erhalten hat. Gemäss konstanter Rechtsprechung setzt die Nacherhebung kein Verschulden oder Strafverfahren voraus. Es genügt eine objektive Verletzung der Verwaltungsgesetzgebung. Ein rechtswidriger Vorteil liegt bereits vor, wenn das Nichtbezahlen der Abgabe zu einer Vermögensmehrung oder Passivenverminderung führt (BGE 110 Ib 306 E. 2c; Urteil 9C_497/2023 E. 3.1, 9C_278/2023 E. 4.2). Unwissenheit über die Gesetzesverletzung ist irrelevant.
3. Art. 70 Abs. 2 ZG: Definiert den Zollschuldner. Dies ist u.a. (lit. a) die Person, welche die Ware über die Zollgrenze führt oder führen lässt, (lit. b) die Person, die zur Anmeldung verpflichtet ist oder deren Beauftragter, und (lit. c) die Person, auf deren Rechnung die Ware eingeführt oder ausgeführt wird.
4. Art. 51 Abs. 1 MWSTG: Wer nach Art. 70 Abs. 2 und 3 ZG Zollschuldner ist, ist auch Steuerschuldner für die Einfuhrsteuer.
5. Solidarhaftung: Die in Art. 70 Abs. 2 ZG genannten Personen haften solidarisch für die geschuldete Zollabgabe. Die Haftung bleibt auch bestehen, wenn sie nicht persönlich vom Verstoss profitiert haben (Urteil 9C_187/2023 E. 3.2).
6. Begriff des "Veranlassers" (Art. 70 Abs. 2 lit. a ZG): Obwohl die neue Gesetzgebung nicht mehr ausdrücklich vom "Mandanten" spricht wie das alte Zollgesetz, entspricht der Begriff der Person, die "Güter in das Zollgebiet verbringen lässt", materiell der unter dem alten Recht entwickelten weiten Definition des Mandanten (BGE 135 IV 217 E. 2.1; Urteil 9C_497/2023 E. 3.2). Veranlasser ist, wer einen Dritten beizieht, um Güter über die Grenze zu bringen. Dies ist nicht nur die Partei eines Transportvertrags im zivilrechtlichen Sinn, sondern generell die Person, die die Einfuhr tatsächlich provoziert oder veranlasst hat (Urteil 9C_497/2023 E. 3.3). Liegt keine vorherige Bestellung vor, so gilt als Mandant/Veranlasser, wer eine "generelle Bereitschaft" zur Annahme der Ware gezeigt hat, da er dadurch die Einfuhr provoziert (Urteil 9C_497/2023 E. 3.3).
Begründung des Bundesgerichts im Einzelnen:
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Rechtliches Gehör und Akteneinsicht (Consid. 3):
- Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung ihres Rechts auf Akteneinsicht (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 26 VwVG) bezüglich Akten aus "Drittverfahren", die nicht ihr Dossier betrafen. Sie wollte wissen, wie andere Kunden oder Lieferanten behandelt wurden und ob es relevante Informationen zum Vorgehen von E.__ Sàrl gab.
- Das BVGer hatte der Beschwerdeführerin Einsicht in die sie betreffenden Akten sowie die Einvernahmeprotokolle der beteiligten Personen (D._, G._, F.__) gewährt, jedoch Akten, die ausschliesslich andere Personen oder Gesellschaften betrafen (z.B. deren Buchhaltung), als irrelevant und schützenswert zurückgehalten.
- Das Bundesgericht bestätigte die Ansicht des BVGer. Akteneinsicht in Dossiers Dritter setzt ein schutzwürdiges Interesse voraus, das gegen öffentliche und private Interessen abzuwägen ist. Für die Geltendmachung der Waffengleichheit oder des Gleichbehandlungsgrundsatzes bedarf es konkreter Anhaltspunkte für eine Ungleichbehandlung oder dafür, dass die Akten Dritter zur Beweisführung im vorliegenden Verfahren verwendet wurden.
- Die Beschwerdeführerin legte solche konkreten Anhaltspunkte nicht dar. Ihre Argumentation basierte auf Vermutungen (z.B. "man kann nicht ausschliessen, dass es ihr günstige Elemente gäbe"). Ein schutzwürdiges Interesse wurde nicht substanziiert. Die Rüge wurde als unbegründet abgewiesen.
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Bestimmung des Importeurs und des "Veranlassers" (Consid. 7.1 - 7.2):
- Die Beschwerdeführerin bestritt, dass E._ Sàrl die Importeurin war, und behauptete, D._ habe als unabhängiger Importeur gehandelt. Sie bestritt zudem, selbst als "Veranlasserin" im Sinne von Art. 70 Abs. 2 lit. a ZG qualifiziert zu werden, da sie keine importierte Ware habe beziehen wollen.
- Das Bundesgericht folgte dem BVGer: Aufgrund der im Verfahren erhobenen Lohnabrechnungen und Arbeitsverträge war D._ als Hilfsperson von E._ Sàrl anzusehen. Das BVGer hat nicht willkürlich festgestellt, dass E.__ Sàrl die Importeurin und Vertragspartnerin der Beschwerdeführerin war.
- Weiter stellte das Bundesgericht fest, dass die Beschwerdeführerin gemäss ihrer eigenen, im Untersuchungsbericht dokumentierten Aussage durch ihren Geschäftsführer wusste oder hätte wissen müssen, dass das Fleisch aus Frankreich stammte (Erwähnung der Marke H.__, Hinweis auf Zollverzögerung bei einer Lieferung).
- Gestützt auf die Rechtsprechung genügt es für die Qualifikation als Zollschuldner (Veranlasser), dass die Person wusste oder wissen musste, dass die Ware aus dem Ausland stammte (Urteile 9C_497/2023 E. 6; 2A.608/2004 E. 4). Diese Kenntnis bzw. Kenntnisbarkeit begründet die erforderliche "generelle Bereitschaft" zur Annahme importierter Ware und das Provozieren der Einfuhr im weiten Sinne des Gesetzes und der Rechtsprechung (Consid. 4.3 und 7.2).
- Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin keine Importware "gewünscht" habe oder dass Lieferwagen in der Schweiz immatrikuliert waren etc., ist unerheblich. Die Anwendung von Art. 70 Abs. 2 ZG durch das BVGer war korrekt.
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Rechtswidriger Vorteil (Consid. 7.3):
- Die Beschwerdeführerin bestritt, einen rechtswidrigen Vorteil erzielt zu haben, und rügte, das BVGer habe keine Vergleichsanalyse zum Nachweis durchgeführt, dass der geringere Preis auf der Nichtbezahlung der Abgaben beruhte.
- Das Bundesgericht hielt fest, dass gemäss Rechtsprechung das Nichtbezahlen der Zollabgaben und der Einfuhr-MWST selbst bereits einen rechtswidrigen Vorteil im Sinne von Art. 12 Abs. 2 VStrR darstellt, unabhängig vom tatsächlich bezahlten Preis für die Ware (vgl. Urteil 9C_497/2023 E. 6). Eine Preisanalyse war daher nicht erforderlich und die Rüge unbegründet.
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Gutglaube, Schuld und persönliche Situation (Consid. 7.4.1):
- Die Beschwerdeführerin machte geltend, sie sei "Opfer" und nicht "Akteur" des Schmuggels gewesen, habe sich immer korrekt verhalten und sei gutgläubig gewesen (Verletzung von Art. 5 Abs. 3 BV). Ihr Verhalten sei im Vergleich zu dem des Dritten (E.__ Sàrl) unwesentlich.
- Das Bundesgericht wiederholte, dass für die Nacherhebung nach Art. 12 VStrR kein Verschulden erforderlich ist (Consid. 4.1). Die Rolle, der Grad des Verschuldens oder die persönliche Situation des Abgabepflichtigen sind irrelevant (Urteil 9C_197/2023 E. 4.4.2). Diese Aspekte mögen allenfalls im Rahmen eines Strafverfahrens eine Rolle spielen, nicht aber bei der Nacherhebung der objektiv geschuldeten Abgaben. Die Rüge wurde abgewiesen.
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Tragfähigkeit (Art. 127 Abs. 2 BV) (Consid. 7.4.2):
- Die Beschwerdeführerin argumentierte, die Nachforderung sei für sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation übermässig belastend und unverhältnismässig.
- Das Bundesgericht stellte fest, dass das Prinzip der Tragfähigkeit (Art. 127 Abs. 2 BV) bei Zollabgaben nur sehr beschränkt zur Anwendung kommt (Verweis auf Kommentare zu Art. 133 BV). Zudem sehen die relevanten Gesetze (ZG, MWSTG) keine Berücksichtigung der finanziellen Situation des Schuldners bei der Berechnung der Zollabgabe vor. Es handelt sich nicht um ein vom Gesetzgeber vorgesehenes Kriterium. Die Rüge wurde als unbegründet erachtet.
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Solidarhaftung (Consid. 7.5):
- Die Beschwerdeführerin rügte eine "rigide" Anwendung des Solidaritätsprinzips. Ihr Verhalten sei so wenig schwerwiegend und in einem solchen Missverhältnis zum Verhalten des Dritten (E.__ Sàrl), dass es stossend sei, sie für den gesamten Schaden haftbar zu machen. Sie berief sich auf BGE 112 II 138 (Konkurrenz verschiedener Schadenursachen bei Verschuldenshaftung).
- Das Bundesgericht wies darauf hin, dass der Gesetzgeber die Solidarhaftung nach Art. 70 Abs. 2 ZG nur in den spezifischen Fällen von Art. 70 Abs. 4 und 4bis ZG beschränken wollte. Ausserhalb dieser Ausnahmen haften alle in Abs. 2 genannten Personen solidarisch für den gesamten Betrag (Urteil 9C_278/2023 E. 5.2).
- Die von der Beschwerdeführerin zitierte Rechtsprechung (BGE 112 II 138) betrifft die Verschuldenshaftung im Haftpflichtrecht (Art. 41 OR), wo das Verhalten eines Dritten unter Umständen den Kausalzusammenhang unterbrechen oder das Verschulden mindern kann. Diese Rechtsprechung ist auf Art. 70 ZG nicht anwendbar, da die Nacherhebung kein Verschulden voraussetzt (Consid. 4.1) und die Solidarhaftung nicht auf einer Kausalhaftung basiert. Die Rüge wurde abgewiesen (Bestätigung der Praxis aus Urteil 9C_278/2023 E. 5.2).
Entscheid:
Die Beschwerde wurde vollumfänglich abgewiesen.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht bestätigte die Nacherhebung von Zollabgaben und Einfuhr-MWST gegen die Beschwerdeführerin. Es hielt fest, dass die Beschwerdeführerin als "Veranlasserin" der Einfuhr im weiten Sinne des Zollgesetzes qualifiziert ist, da sie wusste oder wissen musste, dass die Waren aus dem Ausland stammten. Die Nichtbezahlung der Abgaben stellt an sich einen rechtswidrigen Vorteil im Sinne des Verwaltungsstrafrechts dar. Für die Nacherhebung ist kein Verschulden erforderlich, und die persönliche Situation oder der Grad des Gutglaubens sind irrelevant. Das Prinzip der Tragfähigkeit findet bei Zollabgaben nur sehr beschränkt Anwendung. Die gesetzlich vorgesehene Solidarhaftung aller Zollschuldner (inkl. des Veranlassers) wurde korrekt angewendet und kann nicht durch Grundsätze der Verschuldenshaftung eingeschränkt werden. Die Rügen der Beschwerdeführerin, einschliesslich der verweigerten Akteneinsicht in Drittdossiers mangels schutzwürdigen Interesses, wurden abgewiesen.