Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_107/2024 vom 24. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_107/2024 des schweizerischen Bundesgerichts:

Parteien: * Beschwerdeführerin: A.__ (vertreten durch Advokat) * Beschwerdegegnerin: Gastrosocial Pensionskasse

Gegenstand: Berufliche Vorsorge (Beginn der Arbeitsunfähigkeit)

Vorinstanz: Kantonsgericht des Kantons Waadt, Cour des assurances sociales

Sachverhalt (verkürzt auf die relevanten Punkte): Die 1996 geborene Beschwerdeführerin war vom 1. April 2018 bis 31. Dezember 2019 zu 100 % bei B.__ SA angestellt und während dieser Zeit bei der Gastrosocial Pensionskasse versichert. Das Versicherungsverhältnis endete am 31. Januar 2020 (Art. 10 Abs. 3 BVG). Ab 12. August 2019 war sie arbeitsunfähig. Im Dezember 2019 stellte sie einen Antrag auf IV-Leistungen. Die IV holte diverse medizinische Berichte ein, die eine volle Arbeitsunfähigkeit ab August 2019 festhielten, zunächst wegen einer angst-depressiven Reaktion/Erschöpfungssyndrom, später wegen refraktärem Psoriasis-Rheuma. Die IV sprach eine ganze Rente ab 1. August 2020 zu. Die Pensionskasse lehnte Leistungen ab. Sie vertrat die Ansicht, der für die Invalidität ursächliche Beginn der Arbeitsunfähigkeit sei erst nach dem Ende des Versicherungsverhältnisses (31. Januar 2020) eingetreten. Ein beigezogener Rheumatologe bestätigte zwar eine 100%-ige Arbeitsunfähigkeit aus rheumatologischen Gründen ab 21. April 2020, erwähnte aber, dass die Symptomatologie älter sei.

Prozessgeschichte vor der Vorinstanz: Die Beschwerdeführerin reichte beim Kantonsgericht Waadt Klage gegen die Pensionskasse ein und beantragte eine BVG-Invalidenrente ab 11. August 2021. Das Kantonsgericht wies die Klage am 10. Januar 2024 ab.

Rechtliche Kernfrage: Der Streit betrifft den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der beruflichen Vorsorge (Art. 23 BVG). Entscheidend ist dabei, ob die Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur Invalidität geführt hat, während der Versicherungsdauer der Beschwerdeführerin bei der Gastrosocial Pensionskasse, d.h. zwischen dem 1. April 2018 und dem 31. Januar 2020, eingetreten ist (Art. 10 Abs. 3 BVG). Hierfür ist ein materieller und zeitlicher Konnex zwischen der Ursache der Arbeitsunfähigkeit und der Versicherungsdauer erforderlich (Verweis auf ATF 135 V 13 E. 2.6; 134 V 20 E. 3.2.1 und 5.3).

Massgebende rechtliche Grundsätze: * Nachweis funktioneller Einschränkung: Der genügende Nachweis einer unter dem Blickwinkel des BVG relevanten funktionellen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (ATF 134 V 20 E. 3.2.2) erfordert nicht zwingend eine medizinische Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit in "Echtzeit". Nachträgliche Überlegungen und spekulative Annahmen, wie eine retrospektiv nach vielen Jahren festgestellte medizintheoretische Arbeitsunfähigkeit, genügen jedoch nicht. * Auswirkungen auf Arbeitsverhältnis: Die Gesundheitsschädigung muss sich signifikant auf die Arbeitsverhältnisse ausgewirkt haben; die Verminderung der funktionellen Arbeitsfähigkeit muss sich unter arbeitsrechtlichem Blickwinkel manifestiert haben, insbesondere durch eine festgestellte Leistungsminderung, eine Arbeitgeberverwarnung oder eine Häufung gesundheitsbedingter Absenzen (Verweis auf BGer-Urteil 9C_556/2019 E. 4.3). * Beweismass in der Sozialversicherung: In der Sozialversicherung basiert der Richterentscheid grundsätzlich auf Sachverhalten, die – mangels zweifelsfreier Feststellung – als am wahrscheinlichsten erscheinen (überwiegende Wahrscheinlichkeit). Es genügt nicht, dass ein Sachverhalt nur als mögliche Hypothese betrachtet werden kann; die überwiegende Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass aus objektiver Sicht wichtige Gründe für die Richtigkeit einer Behauptung sprechen, ohne dass andere Möglichkeiten eine signifikante Bedeutung hätten oder vernünftigerweise in Betracht kämen. Es gibt keinen Grundsatz, dass der Richter im Zweifel zugunsten der versicherten Person entscheiden müsste (ATF 144 V 427 E. 3.2; 139 V 176 E. 5.3).

Argumente der Beschwerdeführerin im bundesgerichtlichen Verfahren: Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV). * Verletzung des rechtlichen Gehörs: Die Vorinstanz habe zu Unrecht abgelehnt, ihre behandelnde Psychiaterin und eine allgemeine Internistin zu befragen und ein multidisziplinäres Gutachten einzuholen. Dies sei notwendig gewesen, um die Wechselwirkung zwischen ihrer rheumatologischen Erkrankung und ihren psychischen Leiden im Jahr 2019 zu klären. Die Ärzte hätten Präzisierungen zur Chronizität und oft späten Diagnose der Spondylarthritis (SpA) liefern können. * Willkürliche Sachverhaltsfeststellung: Die Vorinstanz habe willkürlich angenommen, dass die in Echtzeit erstellten Berichte im Rahmen des IV-Gesuchs keine auf eine SpA hindeutenden Symptome enthielten, die eine Arbeitsunfähigkeit vor Ende Februar 2020 rechtfertigen könnten. Sie leide an einer chronischen, bereits Monate vor Februar 2020 symptomatischen Krankheit, die oft spät diagnostiziert werde. Sie habe ein SMS vom 16. Januar 2020 vorgelegt, das belege, dass sie bereits im Januar 2020 funktionelle Einschränkungen aufgrund des Psoriasis-Rheumas gehabt habe. Die Krankheit sei Ende 2019 offenbar geworden, die Arthralgien hätten zugenommen. Die Psychiaterin habe "körperliche Angst" (Nov 2019) sowie körperliche Anzeichen von Muskel-Skelett-Entzündungen festgestellt. Dies entkräfte die ursprüngliche Hypothese einer Somatisierung. Die Invalidität ab August 2019 könne sehr wohl ganz oder teilweise auf die erst im Mai 2020 diagnostizierte periphere SpA zurückzuführen sein.

Begründung des Bundesgerichts: 1. Rechtliches Gehör: Das Bundesgericht prüft die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs im Zusammenhang mit der Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung. Die Vorinstanz hat ihre Gründe für die Ablehnung der Beweisanträge dargelegt. Die Frage der Willkür bei der antizipierten Beweiswürdigung (Ablehnung der Befragung/Gutachten) wird im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung geprüft.

  1. Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung:
    • Das Gericht anerkennt, dass das Fehlen einer spezifischen Konsultation wegen rheumatischer Schmerzen während der Versicherungsdauer nicht automatisch auf deren Nichtexistenz oder eine fehlende Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit schliessen lässt. Chronische somatische Beschwerden, insbesondere im Zusammenhang mit psychischem Leiden, können von Patienten und Ärzten heruntergespielt oder fehldeutet werden.
    • Das Gericht betont jedoch, dass die Frage nicht lautet, ob eine SpA spät diagnostiziert wurde oder ob ein Zusammenhang zwischen SpA und einer früheren psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit besteht. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob sich eine funktionelle Verminderung der Arbeitsfähigkeit von mindestens 20 % aus rheumatologischen Gründen während des Versicherungsverhältnisses konkret manifestiert hat (Verweis auf ATF 144 V 58 E. 4.4). Es geht also nicht um die retrospektive Feststellung einer Diagnose, sondern um den Nachweis einer funktionalen Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit von mindestens 20 % im Zeitraum vom 1. April 2018 bis 31. Januar 2020.
    • Das Gericht würdigt die Beweismittel:
      • Der behandelnde Arzt (D.__) gab am 2. März 2020 an, die Patientin seit dem 19. August 2019 nicht mehr gesehen und keine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt zu haben. Das Bundesgericht ergänzt gestützt auf Art. 105 Abs. 2 LTF die Feststellung der Vorinstanz dahingehend, dass der Arzt die Patientin Anfang März 2020 empfing, aber ab 16. März 2020 alle nicht dringenden Termine wegen COVID-19 absagte. Daraus folgt, dass die Patientin zwischen August 2019 und März 2020 nicht wegen Gelenkschmerzen einen Arzt aufsuchte.
      • Die Angabe der Psychiaterin (C.__) vom 18. November 2019 über "körperliche Angst": Die Vorinstanz durfte ohne Willkür annehmen (und musste die Psychiaterin nicht vorher befragen), dass diese Angabe allein nicht genügt, um die Existenz rheumatischer Schmerzen zu bescheinigen, die in Echtzeit eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens 20 % rechtfertigen würden. Hätte dies vorgelegen, hätte die Psychiaterin spezifischere Details genannt oder eine Konsultation bei einem Spezialisten erwähnt. Zudem schrieb die Psychiaterin erst am 1. Februar 2021, dass die Beschwerdeführerin im April-Mai 2020 "invalidisierende periphere Arthralgien" zu zeigen begann, was gegen die Annahme spricht, dass die "körperliche Angst" bereits 2019 auf bedeutende rheumatische Beschwerden hinwies.
      • Nachträgliche ärztliche Aussagen (z.B. vom 23. Dezember 2021 und 28. November 2022), wonach es "mehr als wahrscheinlich" (über 90 %) sei, dass die periphere SpA bereits im August 2019 vorhanden war und die Beschwerdeführerin damals bereits über Handgelenkschmerzen klagte: Solche nachträglichen, auf Annahmen gestützten Überlegungen (Vergleich mit BGer-Urteil 9C_605/2023 E. 7.2) reichen nicht aus, um eine Verminderung der funktionellen Arbeitsfähigkeit von mindestens 20 % aus rheumatischen Gründen ab 2019 nachzuweisen. Die Gesundheitsschädigung muss sich in Echtzeit signifikant auf die Arbeitsfähigkeit ausgewirkt haben. Es fehlen im Dossier greifbare, in Echtzeit festgestellte Elemente.
      • Andere "Echtzeit"-Hinweise: Der Rheumatologe E._ gab am 21. April 2020 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit an und am 28. Januar 2022 bestätigte er, dass diese am 21. April 2020 begann, obwohl die Symptome schon früher vorhanden waren. Der behandelnde Arzt D._ notierte am 8. Februar 2022, dass die Beschwerdeführerin ihm am 11. März 2020 Schmerzen berichtete, die "seit einiger Zeit an den Händen" bestünden, "schlimmer auf der linken Seite als rechts und seit 2 Wochen schlimmer geworden" seien. Auch der Fallmanager der IV stellte am 3. März 2020 fest, dass sich "in letzter Zeit eine körperliche Problematik mit starken Schmerzen" manifestiert habe. Am 4. Juni 2020 präzisierte er, dass die Beschwerdeführerin kürzlich den Rheumatologen wegen einer Gesundheitsschädigung konsultiert habe, die zum Zeitpunkt des IV-Antrags (Dez. 2019) noch nicht bekannt war. Diese "Echtzeit"-Dokumente zeigen, dass sich der Gesundheitszustand im Februar 2020 verschlechtert hat, auch wenn Symptome bereits früher bestanden.
      • Das SMS vom 16. Januar 2020: Ein einzelner, medizinisch nicht untermauerter SMS-Austausch kann die objektive und dokumentierte Chronologie der medizinischen Fakten, die eine Verschlechterung im Februar 2020 belegen, nicht erschüttern.
    • Schlussfolgerung zur Beweislage: Die Vorinstanz durfte gestützt auf diese Elemente ohne Willkür annehmen, dass nicht im Grad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist, dass die zur Invalidität führende Arbeitsunfähigkeit vor Ende der Versicherungsdeckung bei der Pensionskasse (31. Januar 2020) eingetreten ist.
    • Antizipierte Beweiswürdigung: Mit der Ablehnung weiterer Beweismittel hat die Vorinstanz das rechtliche Gehör nicht verletzt, da die Beweismittel im Rahmen einer antizipierten Beweiswürdigung als nicht stichhaltig erachtet werden durften (Verweis auf ATF 145 I 167 E. 4.1).

Entscheid: Das Bundesgericht weist die Beschwerde als unbegründet ab. Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte: Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Versicherten gegen die Pensionskasse ab. Es bestätigt die Ansicht der Vorinstanz, dass kein Anspruch auf eine BVG-Invalidenrente besteht, da der für die Invalidität ursächliche Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit während der Versicherungsdauer (bis 31. Januar 2020) nachgewiesen wurde. Entscheidend ist nicht, wann eine zugrundeliegende Krankheit diagnostiziert wurde, sondern wann eine funktionelle Verminderung der Arbeitsfähigkeit von mindestens 20% aufgrund dieser Erkrankung in Echtzeit (während der Versicherungsdauer) objektiv nachweisbar wurde und sich signifikant auf das Arbeitsverhältnis auswirkte. Nachträgliche medizinische Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit einer früheren Symptomatik genügen hierfür nicht. Die vorliegenden medizinischen Unterlagen zeigten eine relevante Verschlechterung und erstmalige medizinische Dokumentation einer Funktionsbeeinträchtigung aus rheumatologischen Gründen erst ab Februar 2020, d.h. nach Ende der Versicherungsdeckung. Die Ablehnung weiterer Beweismittel durch die Vorinstanz war im Rahmen der zulässigen antizipierten Beweiswürdigung nicht willkürlich.