Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_283/2024 vom 27. Juni 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_283/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 27. Juni 2025:

Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_283/2024 vom 27. Juni 2025

Betreff: Invalidenversicherung (Invalidenrente)

Parteien: * Beschwerdeführer: Amt für Invalidenversicherung des Kantons Genf * Beschwerdegegnerin: A.__ (vertreten durch Rechtsanwalt)

Vorinstanz: Cour de justice de la République et canton de Genève, Chambre des assurances sociales

Gegenstand des Streits: Anspruch der Beschwerdegegnerin auf eine ganze oder halbe Invalidenrente der Invalidenversicherung (IV) ab dem 1. August 2017, insbesondere die Beweiswürdigung der medizinischen Gutachten zur Feststellung des Invaliditätsgrads.

Sachverhalt (Kurzfassung): Die 1968 geborene Beschwerdegegnerin arbeitete zuletzt als medizinische Sekretärin. Seit November 2015 war sie arbeitsunfähig (zunächst 100 %, später therapeutische Wiederaufnahmeversuche). Im Februar 2017 stellte sie einen IV-Leistungsantrag aufgrund eines Erschöpfungssyndroms (Burnout). Nach diversen Abklärungen und Behandlungen (Psychotherapie, psychosomatische Reha, gescheiterte berufliche Massnahmen) holte das Amt für Invalidenversicherung (IV-Stelle) verschiedene medizinische Meinungen ein. Ein psychiatrisches Gutachten von Dr. D. (Juni 2019) diagnostizierte rezidivierende depressive Störungen und Panikstörungen und attestierte eine Arbeitsfähigkeit von 50 % seit 2016. Ein SMR-internistisches Gutachten von Dr. E. (Juli 2020) diagnostizierte ein polyalgisches Syndrom (kompatibel mit Ehlers-Danlos-Syndrom/Hypermobilitätssyndrom oder Fibromyalgie) und attestierte eine Arbeitsfähigkeit von 70 % seit November 2015. Basierend auf diesen Abklärungen (und einer Haushaltsabklärung) sprach die IV-Stelle der Beschwerdegegnerin mit Verfügung vom 23. Februar 2021 unter Anwendung der gemischten Methode (teils angestammte, teils neue Tätigkeit) eine halbe Invalidenrente ab dem 1. August 2017 zu.

Vorinstanzliches Verfahren: Die Beschwerdegegnerin focht diese Verfügung vor der Cour de justice Genf an. Sie reichte neue medizinische Berichte ein (Berichte nach Klinikaufenthalt, Stellungnahmen behandelnder Psychiater). Die Vorinstanz holte daraufhin ein neues interdisziplinäres Gutachten ein. Der Rheumatologe Dr. I. (Januar 2023) diagnostizierte ein chronisches Schmerzsyndrom. Der Psychiater Dr. J. (Juli 2023) diagnostizierte tiefgreifende Entwicklungsstörungen (insbesondere Asperger-Syndrom), eine generalisierte Angststörung und eine rezidivierende depressive Störung (derzeit in Remission). Dr. J. schätzte die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit seit 2015 auf 0 % ein und schlug die Integration in eine geschützte Werkstatt vor (beginnend mit 20-30 %). Die IV-Stelle und die Beschwerdegegnerin nahmen zu den Gutachten Stellung. Die Cour de justice Genf hiess die Beschwerde gut, hob die IV-Verfügung auf und sprach der Beschwerdegegnerin eine ganze Invalidenrente ab dem 1. August 2017 zu.

Bundesgerichtliche Beurteilung:

  1. Anwendbares Recht und Grundsätze:

    • Das Bundesgericht erinnert an die gesetzlichen Bestimmungen zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 IVG) und deren Bemessung (Art. 16 ATSG, Art. 28a IVG), die sich nach dem Grad der Erwerbsunfähigkeit richtet.
    • Hervorgehoben wird die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Beweiskraft medizinischer Berichte und Gutachten (ATF 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3), wonach externen Gutachten, die von unabhängigen Experten erstellt wurden, in der Regel volle Beweiskraft zuzuerkennen ist, sofern sie schlüssig, widerspruchsfrei und ausreichend begründet sind.
    • Das Gericht verweist explizit auf seine geänderte Praxis zur Beurteilung von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, insbesondere somatoformen Schmerzstörungen (ATF 141 V 281) und anderen psychischen Leiden (ATF 143 V 409 und 418; 145 V 215). Dieses Schema hat die frühere Überwindbarkeitsvermutung abgelöst. Die Beurteilung der Invalidität erfolgt nun im Rahmen einer Gesamtbetrachtung anhand eines Katalogs von Indikatoren. Wichtig sind dabei die funktionellen Einschränkungen, die vorhandenen Ressourcen der versicherten Person sowie die Resistenz der Störung gegenüber einer fachgerecht durchgeführten Behandlung.
  2. Rügen der IV-Stelle (Beschwerdeführerin):

    • Die IV-Stelle rügt eine willkürliche Beweiswürdigung durch die Vorinstanz.
    • Sie beanstandet, dass dem psychiatrischen Gutachten von Dr. J. volle Beweiskraft zuerkannt wurde.
    • Die Kritikpunkte an diesem Gutachten sind:
      • Das diagnostizierte Autismus-Spektrum-Syndrom sei nicht ausreichend verständlich begründet.
      • Der Gutachter habe die massgebenden Indikatoren für die Arbeitsfähigkeit nicht berücksichtigt.
      • Insbesondere sei die Diagnose bei einer 56-jährigen Person mit lebenslang (anscheinend) signifikant unbeeinträchtigter sozialer und beruflicher Funktionsfähigkeit, bei der kein behandelnder Arzt je ein Autismus-Syndrom erwähnt habe, nicht allein auf das Testergebnis des AQ-10 gestützt werden dürfen. Klinische Befunde (Status), Anamnese, medizinische Vorgeschichte und die eigentlichen diagnostischen Kriterien seien nicht ausreichend herangezogen worden.
      • Die Anamnese im Gutachten lege nahe, dass soziale Einschränkungen hauptsächlich auf die Angststörung zurückzuführen seien.
      • Andere Aspekte (Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis etc.) seien als unauffällig berichtet worden.
      • Die blosse Erwähnung "theoretischer Krisen" ohne Motivation oder Beschreibung sei ungenügend.
      • Die rückwirkenden Schlussfolgerungen des Gutachters für die Zeit ab 2015 hätten nicht übernommen werden dürfen.
  3. Würdigung durch das Bundesgericht:

    • Das Bundesgericht gibt der IV-Stelle im Wesentlichen Recht.
    • Es hält fest, dass der Diagnose allein – selbst wenn sie fundiert wäre (was offengelassen wird) – keine vollständige Arbeitsunfähigkeit in jeder Tätigkeit begründen kann. Entscheidend sind die daraus resultierenden funktionellen Einschränkungen. Diese müssen mit den Anforderungen des Arbeitslebens verglichen und anhand eines normativen, strukturierten Rasters (insbesondere des Indikatorenkatalogs gemäss ATF 141 V 281 ff.) in eine allfällige Einschränkung der Arbeitsfähigkeit übersetzt werden.
    • Die blosse Feststellung der Vorinstanz, das psychiatrische Gutachten erfülle die notwendigen "réquisits", sei detailliert und überzeugend, genügt nicht und ist in ihrem Ergebnis willkürlich.
    • Kritik am psychiatrischen Gutachten von Dr. J.:

      • Der Gutachter hat sich nicht zur Ausprägung und Schwere der für die Diagnosen relevanten Symptome (insbesondere der tiefgreifenden Entwicklungsstörung und der generalisierten Angststörung) geäussert.
      • Er hat sich wesentlich auf die subjektive Wahrnehmung der Beschwerdegegnerin bezüglich ihrer Arbeitsfähigkeit gestützt, anstatt objektiv das Zumutbare mittels einer fundierten funktionellen Beurteilung gemäss ATF 141 V 281 zu ermitteln.
      • Angesichts des 30-jährigen Berufslebens der Versicherten, zuletzt als Sekretärin im Spitalbereich (Psychiatrie), hat der Gutachter unzureichende Elemente geliefert, um die Schwere der Gesundheitsbeeinträchtigung anhand ätiologischer und pathogenetischer Faktoren als Massstab dafür zu beurteilen, ob sie die Beschwerdegegnerin ihrer Ressourcen beraubt.
      • Eine vertiefte Diskussion des "sozialen Kontexts" der Beschwerdegegnerin fehlt im Gutachten. Das Gericht stimmt der IV-Stelle zu, dass die Anamnese darauf hindeutet, dass soziale Interaktionen hauptsächlich wegen der Angststörung eingeschränkt waren.
      • Obwohl der Gutachter die generalisierte Angststörung nach psychometrischen Tests als "leicht" einstufte und psychologische Vulnerabilitäten bezüglich Emotionen und Dynamik keine Arbeitsunfähigkeit begründeten, hat er das Aktivitätsniveau der Beschwerdegegnerin vor und nach 2015 nicht diskutiert. Er hat somit das Aktivitätsniveau im gewohnten Umfeld nicht mit der konkret geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit verglichen.
      • Fazit: Das psychiatrische Gutachten liefert offensichtlich nicht die notwendigen klinischen und dokumentarischen Elemente, um die Schwere der Gesundheitsschädigung und das Ausmass der dadurch bedingten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit objektiv zu beurteilen.
    • Konsequenz: Da die Schlussfolgerungen des Gutachtens im Widerspruch zur beobachtbaren beruflichen Realität der Beschwerdegegnerin über mehr als 30 Jahre stehen, hat der Gutachter keine detaillierten und überzeugenden Elemente dargelegt, die seine Schlussfolgerungen nachvollziehbar oder nachvollziehbar machen würden.

    • Die Frage, ob die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung (insb. Asperger-Syndrom) nach den Regeln der Kunst gestellt wurde, kann offenbleiben, da die Beurteilung der funktionellen Konsequenzen unabhängig davon mangelhaft ist.
  4. Schlussfolgerung des Gerichts:

    • Da eine medizinische Begutachtung fehlt, welche den Anforderungen (insb. gemäss ATF 141 V 281) vollumfänglich genügt und eine Beurteilung des Anspruchs auf eine über eine halbe Rente hinausgehende Rente ermöglicht, muss die Sache zur weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückgewiesen werden (Art. 107 Abs. 2 BGG).
    • Die Vorinstanz hat die notwendigen medizinischen Abklärungsmassnahmen zu treffen (Einholung eines neuen psychiatrischen Gutachtens, das die Problematik des Autismus-Spektrum-Syndroms ab nuovo prüft und nach einer interdisziplinären Diskussion mit dem Rheumatologen Stellung nimmt) und anschliessend neu zu entscheiden.
  5. Kosten: Die unterliegende Beschwerdegegnerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Streitpunkt: Höhe der IV-Rente (ganz vs. halb), basierend auf der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit infolge psychischer und rheumatischer/polyalgischer Leiden.
  • Zentrale Frage: War die vorinstanzliche Würdigung des psychiatrischen Gutachtens, das eine vollständige Arbeitsunfähigkeit infolge u.a. eines Asperger-Syndroms attestierte, rechtskonform?
  • Anwendbare Prinzipien: Das Bundesgericht wendet seine Rechtsprechung zur Beurteilung psychischer Leiden an (ATF 141 V 281 ff.), die auf der objektiven Feststellung funktioneller Einschränkungen anhand eines Indikatorenkatalogs und einer Gesamtbetrachtung (Ressourcen, Behandlungsresistenz) basiert, nicht primär auf der Diagnose allein.
  • Mangel des vorinstanzlichen Urteils: Die Vorinstanz hat dem psychiatrischen Gutachten zu Unrecht und willkürlich volle Beweiskraft zuerkannt.
  • Mängel des Gutachtens: Das psychiatrische Gutachten ist mangelhaft, weil es die Schwere der Symptome unzureichend beurteilt, sich zu stark auf die subjektive Empfindung der Arbeitsfähigkeit stützt, eine objektive funktionelle Beurteilung nach den bundesgerichtlichen Kriterien vermissen lässt, das langjährige Berufsleben der Versicherten und ihren sozialen Kontext nicht ausreichend berücksichtigt und keine Analyse des Aktivitätsniveaus vor und nach der Erkrankung vornimmt. Es fehlt an einer ausreichenden klinischen und dokumentarischen Basis für eine objektive Beurteilung.
  • Entscheid des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hebt das Urteil der Vorinstanz auf. Die Sache wird zur Einholung eines neuen, den bundesgerichtlichen Anforderungen genügenden medizinischen (psychiatrischen, evtl. interdisziplinären) Gutachtens und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.