Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_13/2025 vom 20. Juni 2025

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Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (8C_13/2025 vom 20. Juni 2025) befasst sich detailliert mit der interkantonalen Zuständigkeitsfrage im Bereich der Sozialhilfe, insbesondere hinsichtlich des Unterstützungswohnsitzes von minderjährigen Kindern bei Fremdplatzierung.

1. Sachverhalt und Streitgegenstand

Die Beschwerdeführerin, die Stadt Chur, stellte die Sozialhilfeleistungen für die minderjährigen Beschwerdegegner A.A._ (geb. 2017) und B.A._ (geb. 2019) per 1. Juli 2024 ein. Sie begründete dies mit einem Wechsel des Unterstützungswohnsitzes der Kinder von Chur (Kanton Graubünden) nach W.__ (Kanton Zürich). Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hiess die dagegen erhobene Beschwerde gut und verpflichtete die Stadt Chur zur Weiterführung der Leistungen, solange der "perpetuierte Unterstützungswohnsitz" in Chur fortbestehe. Die Stadt Chur zog das Urteil daraufhin vor Bundesgericht.

Streitgegenstand vor Bundesgericht war ausschliesslich die Frage, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Stadt Chur zur weiteren Erbringung von Sozialhilfeleistungen verpflichtete. Der von der Stadt Chur gestellte Antrag, eine "zuständige Gemeinde im Kanton Zürich" zur Übernahme der Leistungen zu verpflichten, wurde vom Bundesgericht als ausserhalb des Anfechtungs- und Streitgegenstandes liegend und somit nicht zulässig erachtet (unter Verweis auf BGE 125 V 413 E. 1b). Die Kernfrage des Verfahrens drehte sich somit um den Unterstützungswohnsitz der beiden minderjährigen Kinder.

2. Rechtliche Grundlagen des Unterstützungswohnsitzes

Das Bundesgericht legte zunächst die massgebenden Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (Zuständigkeitsgesetz, ZUG; SR 851.1) dar: * Art. 115 BV: Der Wohnkanton ist grundsätzlich für die Unterstützung Bedürftiger zuständig. Der Bund regelt Ausnahmen und Zuständigkeiten. * Art. 4 Abs. 1 ZUG: Der Unterstützungswohnsitz ist dort, wo sich eine Person mit der Absicht des dauernden Verbleibens aufhält. Er muss nicht zwingend dem zivilrechtlichen Wohnsitz entsprechen. * Art. 9 Abs. 1 ZUG: Der bisherige Unterstützungswohnsitz geht mit dem Wegzug verloren. * Art. 5 ZUG und Art. 9 Abs. 3 ZUG: Der Aufenthalt in einem Heim, Spital oder einer ähnlichen Einrichtung sowie die behördliche Unterbringung einer volljährigen Person in Familienpflege begründen keinen Unterstützungswohnsitz und beenden auch keinen bestehenden. Diese Regelung dient dem Schutz der Standortkantone und soll Anreize zur kantonsexternen Unterbringung Bedürftiger verringern (BGE 138 V 23 E. 3.1.3). * Art. 7 ZUG (Spezialregelung für Minderjährige): * Abs. 1: Das minderjährige Kind teilt den Unterstützungswohnsitz der Eltern, unabhängig von seinem Aufenthaltsort. * Abs. 2: Haben die Eltern keinen gemeinsamen zivilrechtlichen Wohnsitz, hat es einen eigenständigen Unterstützungswohnsitz am Wohnsitz des Elternteils, bei dem es überwiegend wohnt. * Abs. 3 lit. c: Das Kind hat einen eigenen Unterstützungswohnsitz am letzten Unterstützungswohnsitz nach Abs. 1 und 2, wenn es dauernd nicht bei den Eltern oder einem Elternteil wohnt. Diese Bestimmung erfasst freiwillige und behördliche Fremdplatzierungen ohne Entzug der elterlichen Sorge. * Interpretation von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG: Als "letzter Unterstützungswohnsitz" gilt der Ort, an dem das Kind unmittelbar vor der Fremdplatzierung gemeinsam mit den Eltern oder einem Elternteil gelebt bzw. Wohnsitz gehabt hat (BGE 150 V 297 E. 3.3; Urteil 8C_195/2024 vom 30. Januar 2025 E. 4.3). Dieser Unterstützungswohnsitz bleibt für die gesamte Dauer der Fremdplatzierung bestehen, auch wenn die Eltern den Wohnsitz wechseln (sog. Perpetuierung). Ziel der Revision von 1992 war es, jeder unmündigen Person rasch und eindeutig einen Unterstützungswohnsitz zuzuweisen, der bei dauerhaft Fremdplatzierten im Interesse der Heimstandorte nicht am Aufenthaltsort sein soll (BGE 149 V 240 E. 5.2.3.1). * Definition der "Dauerhaftigkeit" des Fremdaufenthaltes: * Vorübergehend sind Aufenthalte von kurzer Dauer oder mit engem Kontakt zu den Eltern und Absicht der Rückkehr (z.B. Ferien, Spital, Ausbildung). * Dauerhaft ist ein Aufenthalt, wenn sich die Eltern nicht ernsthaft um die Kinder kümmern, die elterliche Sorge nicht wahrnehmen und die Fremdplatzierung auf unbestimmte Zeit oder für mehr als sechs Monate erfolgt. Kindesschutzmassnahmen sprechen tendenziell für Dauerhaftigkeit, therapeutische oder abklärende Massnahmen dagegen (BGE 143 V 451 E. 8.4.3; Urteil 8C_151/2024 vom 26. November 2024 E. 3.2.5). * Massgebender Zeitpunkt ist der Beginn der Fremdplatzierung und die Absicht zu diesem Zeitpunkt, nicht die tatsächliche Dauer (BGE 149 V 240 E. 5.2).

3. Analyse des Unterstützungswohnsitzes der Mutter (C.A.__)

Die Vorinstanz stellte fest, dass C.A._ ab 1. April 2016 in V._ (heute Teil der Stadt Chur) wohnte und somit dort ihren Unterstützungswohnsitz hatte. Dies wurde von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Der Eintritt von C.A._ und ihrer Tochter in die Familieneinheit der stationären Sozialtherapie D._ (Kanton Zürich) am 20. Februar 2018 wurde vom Bundesgericht in Übereinstimmung mit der Vorinstanz als Heimaufenthalt im Sinne von Art. 5 und Art. 9 Abs. 3 ZUG qualifiziert. Dies bedeutet, dass der Heimaufenthalt weder einen neuen Unterstützungswohnsitz begründete noch den bisherigen in Chur beendete. Der Unterstützungswohnsitz der Mutter blieb somit bis zu ihrer polizeilichen Anmeldung in W.__ (Kanton Zürich) Anfang Februar 2020 in Chur bestehen.

Das Bundesgericht wies die Argumentation der Stadt Chur zurück, die Mutter hätte ihren Unterstützungswohnsitz bereits Ende 2019/Anfang 2020 aufgegeben. Die Vorinstanz stellte fest, dass die Mutter nach dem Verlassen des D._ am 30. Dezember 2019 beabsichtigt hatte, innerhalb von zwei Wochen zurückzukehren und sogar einem Klinikaufenthalt sowie einer Rückkehr in den D._ zugestimmt hatte, bevor sie die Klinik vorzeitig verliess und telefonisch mitteilte, die Therapie nicht fortsetzen zu wollen. Die blosse Wohnungssuche oder Besuchszwecke reichen nicht aus, um einen Unterstützungswohnsitz zu beenden; vielmehr wird körperliche Anwesenheit und die Absicht des dauernden Verbleibens vorausgesetzt (Art. 4 Abs. 1 ZUG). Die Vermutung der Wohnsitzbegründung erst mit der polizeilichen Anmeldung konnte von der Stadt Chur nicht widerlegt werden.

4. Analyse des Unterstützungswohnsitzes der Kinder (A.A._ und B.A._)

Der zentrale Punkt der Auseinandersetzung war der Zeitpunkt, ab dem von einer "dauerhaften" Trennung der Kinder von ihrer Mutter im Sinne von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG auszugehen ist. * Vorinstanzliche Auffassung: Die Mutter habe die Betreuung ihrer Kinder und die elterliche Sorge faktisch bereits mit dem definitiven Therapieabbruch am 20. Januar 2020 nicht mehr wahrgenommen. Dies sei der Zeitpunkt der dauerhaften Trennung. Zu diesem Zeitpunkt lag der Unterstützungswohnsitz der Mutter noch im Kanton Graubünden (Chur). Der spätere Zeitpunkt der Fremdplatzierung der Kinder am 10. Februar 2020 sei nicht massgebend. * Argument der Stadt Chur: Die Beziehung der Mutter zu den Kindern sei wechselhaft gewesen; es sei nicht ausgeschlossen gewesen, dass die Mutter nach dem Vorfall vom 19./20. Januar 2020 doch noch zur Therapie zurückkehre. Eine dauerhafte Trennung sei erst mit der auf unbestimmte Zeit angeordneten Fremdplatzierung der Kinder am 10. Februar 2020 anzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Unterstützungswohnsitz der Mutter bereits in W.__ (Kanton Zürich) befunden. Die Annahme der Vorinstanz sei willkürlich. * Beurteilung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht schloss sich der Vorinstanz an. Es befand, dass die Feststellung der Vorinstanz, die Mutter habe die Betreuung und elterliche Sorge mit dem Therapieabbruch am 20. Januar 2020 faktisch nicht mehr wahrgenommen, nicht willkürlich sei. Im Gegensatz zu früheren Krisen, bei denen eine Rückkehr in die Therapie vereinbart und auch eingehalten wurde, erfolgte am 19./20. Januar 2020 ein definitiver Therapieabbruch ohne Aussicht auf Rückkehr. Unter diesen Umständen könne nicht mehr von einem bloss vorübergehenden Fremdaufenthalt der Kinder gesprochen werden. Die tatsächliche Unterbringung der Kinder am 10. Februar 2020 sei für die Begründung des eigenen Unterstützungswohnsitzes nicht entscheidend; es wäre nicht sinnvoll, diese vom Zeitpunkt der Auffindung einer geeigneten Institution abhängig zu machen (Urteil 8C_151/2024 vom 26. November 2024 E. 6.5.1).

Folglich bekräftigte das Bundesgericht, dass die Beschwerdegegner unmittelbar vor der dauerhaften Trennung von ihrer Mutter einen eigenen Unterstützungswohnsitz nach Art. 7 Abs. 3 lit. c i.V.m. Art. 7 Abs. 2 ZUG in Chur im Kanton Graubünden begründet hatten. Dieser Unterstützungswohnsitz perpetuiert sich für die gesamte Dauer der Fremdplatzierung, unabhängig vom späteren Wohnsitzwechsel der Mutter.

5. Schlussfolgerung

Das Bundesgericht bestätigte das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden. Der Unterstützungswohnsitz der Mutter blieb bis Anfang Februar 2020 in Chur. Die dauerhafte Trennung der Kinder von der Mutter im Sinne von Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG erfolgte bereits am 20. Januar 2020, als die Mutter die Therapie definitiv abbrach und die Betreuung faktisch aufgab. Zu diesem Zeitpunkt war der Unterstützungswohnsitz der Mutter noch in Chur. Der so begründete eigene Unterstützungswohnsitz der Kinder in Chur perpetuiert sich für die Dauer ihrer Fremdplatzierung. Die Stadt Chur bleibt daher für die Sozialhilfeleistungen zuständig.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Unterstützungswohnsitz der Mutter: Der Aufenthalt in einer Therapiestation (D._) beendete den ursprünglichen Unterstützungswohnsitz der Mutter in Chur nicht (Art. 5, Art. 9 Abs. 3 ZUG). Ihr Unterstützungswohnsitz blieb bis zur polizeilichen Anmeldung in W._ (Kanton Zürich) Anfang Februar 2020 in Chur.
  • Unterstützungswohnsitz der Kinder: Minderjährige Kinder, die dauerhaft nicht bei den Eltern wohnen (Fremdplatzierung), begründen einen eigenen Unterstützungswohnsitz am letzten Unterstützungswohnsitz ihrer Eltern vor dieser Trennung (Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG).
  • Zeitpunkt der "dauerhaften Trennung": Dieser erfolgte bereits am 20. Januar 2020, als die Mutter ihre Therapie definitiv abbrach und die faktische Betreuung der Kinder einstellte, nicht erst mit der eigentlichen Fremdplatzierung am 10. Februar 2020.
  • Perpetuierung: Da der Unterstützungswohnsitz der Mutter zum Zeitpunkt der dauerhaften Trennung (20. Januar 2020) noch in Chur lag, begründeten die Kinder dort ihren eigenen Unterstützungswohnsitz. Dieser bleibt für die gesamte Dauer der Fremdplatzierung in Chur bestehen, unabhängig vom späteren Wohnsitzwechsel der Mutter.
  • Zuständigkeit: Die Stadt Chur bleibt somit für die Sozialhilfeleistungen der Kinder zuständig.