Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_212/2023 vom 27. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts, Aktenzeichen 7B_212/2023, 7B_227/2023 und 7B_547/2023 vom 27. Juni 2025, behandelt mehrere Beschwerden im Zusammenhang mit einem Befangenheitsentscheid gegen eine Staatsanwältin und den daraus resultierenden Folgen für die Verfahrenshandlungen. Das Bundesgericht hatte insbesondere zu beurteilen, welche Behörde für die Annullierung von Verfahrenshandlungen nach einem Befangenheitsentscheid zuständig ist, wenn das Verfahren bereits im Berufungsstadium ist.

I. Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft des Kantons Genf eröffnete im Februar 2013 ein Strafverfahren (P/2880/2013) gegen die drei Verwaltungsräte der Firma D._ SA, denen vorgeworfen wurde, Gelder von Kunden missbräuchlich zur Begleichung alter Schulden verwendet zu haben. Dieses Verfahren wurde Staatsanwältin C._ zugeteilt. Im Juni 2013 eröffnete C._ ein weiteres Verfahren (P/8972/2013) gegen A._ und B.__ wegen überhöhter Grundstücksverkaufspreise und Schwarzgeldzahlungen.

Am 6. März 2014 weitete Staatsanwältin C._ die Strafuntersuchung in P/2880/2013 auf A._ und B.__ aus und eröffnete gleichzeitig ein neues Verfahren (P/3980/2014) zur Anordnung einer Telefonüberwachung ihrer Anschlüsse. Das Zwangsmassnahmengericht (ZMG) Genf genehmigte diese Überwachung am 7. März 2014, präzisierte jedoch ausdrücklich, dass Gespräche zwischen den Beschuldigten und ihren Anwälten nicht verwendet, transkribiert oder aufgezeichnet werden dürften (Art. 271 Abs. 3 StPO). Trotzdem enthielten später gefundene DVDs aus dem Jahr 2014 Zusammenfassungen von Diskussionen zwischen den Beschuldigten und ihren Anwälten bzw. einem Notariat.

Im Dezember 2016 ordnete C._ eine erneute Überwachung des Anschlusses von B._ an. Das ZMG wies auch hier explizit auf den Schutz des Berufsgeheimnisses hin. Später, im Januar 2019, informierte C._ A._ und B._ über die Überwachung von 2014 und erklärte, dass die Staatsanwaltschaft die gesammelten Informationen nicht nutzen wolle. B._ verlangte daraufhin eine vollständige Kopie des Dossiers. Im Juli 2019 stellte die Brigade Financière der Staatsanwaltschaft eine USB-Stick und 6 DVDs zur Verfügung, welche die Ergebnisse der Abhörmassnahmen von 2014 enthielten, einschliesslich der geschützten Gespräche. C._ legte diese DVDs zum Verfahren P/3980/2014, ohne B._ eine Kopie zu übermitteln.

Im November 2020 wurden A._ und B._ im Verfahren P/2880/2013 an das Strafgericht Genf überwiesen. Das Strafgericht verurteilte sie im Oktober 2021. Dagegen legten beide Berufung ein. Im November 2022, während des Berufungsverfahrens, entdeckten die Beschuldigten die Existenz der Verfahren P/3980/2014 und P/10827/2019 (ein weiteres, von C._ eröffnetes Verfahren) und verlangten deren Herausgabe sowie die Abhörprotokolle. Daraufhin stellten A._ und B._ Befangenheitsgesuche gegen C._ (und weitere Staatsanwälte) sowie Gesuche um Annullierung aller Verfahrenshandlungen seit dem 6. März 2014.

Die Strafrekurskammer des Genfer Justizhofs erklärte C.__ in den Verfahren P/3980/2014 und P/2880/2013 für befangen, lehnte aber die Befangenheit anderer Staatsanwälte ab. Insbesondere lehnte sie auch das Gesuch um Annullierung der Verfahrenshandlungen nach Art. 60 Abs. 1 StPO ab, mit der Begründung, dass das Untersuchungsverfahren abgeschlossen und ein erstinstanzliches Urteil ergangen sei; die Sache befinde sich nun im Berufungsverfahren, wo die Verwertbarkeit von Beweismitteln geprüft werden könne.

II. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht trat den Beschwerden bei, soweit sie die Befangenheit weiterer Staatsanwälte und die Annullierung der Verfahrenshandlungen betreffen. Es vereinigte die Verfahren.

1. Zulässigkeit der Beschwerden (E. 2) Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerden der Rekurrenten bezüglich des Zeitpunkts, ab dem die Befangenheit von Staatsanwältin C._ hätte festgestellt werden sollen, unzulässig sind. Die Befangenheit wird stets für die Zukunft festgestellt, und die Folgen für vergangene Handlungen sind im Rahmen von Art. 60 Abs. 1 StPO zu prüfen. Da die Befangenheit von C._ bereits festgestellt wurde, fehle den Rekurrenten ein Rechtsschutzinteresse, das Datum der Befangenheit als solchen anzufechten. Hinsichtlich des Befangenheitsgesuchs gegen Staatsanwalt E.__ und andere wurde die Beschwerde als zulässig erachtet, da dies noch Folgen für allfällige Annullierungen von Akten haben könnte. Die Anfechtung der Ablehnung der Annullierung der Verfahrenshandlungen nach Art. 60 Abs. 1 StPO wurde ebenfalls als zulässig erachtet. Obwohl solche Entscheide normalerweise als Zwischenentscheide nur bei einem nicht wiedergutzumachenden Nachteil anfechtbar sind (Art. 93 Abs. 1 LTF), hat die Vorinstanz hier in Wirklichkeit nicht materiell über die Gesuche entschieden, sondern diese de facto als unzulässig oder irrelevant abgewiesen. Dies wurde als Nichteintretensentscheid gewertet, welcher unabhängig von einem irreparablen Nachteil anfechtbar ist. Zudem betrifft es eine Kompetenzfrage (welche Behörde zuständig ist), was die Anwendbarkeit von Art. 92 LTF begründet.

2. Befangenheit weiterer Staatsanwälte (E. 3) Der Rekurrent 2 rügte, die kantonale Instanz habe die Befangenheit von Staatsanwalt E._ und anderer Magistraten, die an den gerügten Handlungen beteiligt gewesen seien, zu Unrecht abgelehnt. Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden, es sei denn, diese seien willkürlich (Art. 105 Abs. 1 und 2 LTF). Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass kein anderes Mitglied der Staatsanwaltschaft an den der Staatsanwältin C._ zur Last gelegten Handlungen (insbesondere im Zusammenhang mit dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses) beteiligt war. Der Rekurrent 2 versäumte es, substanziiert darzulegen, inwiefern diese Feststellung willkürlich sei. Seine Ausführungen beschränkten sich auf appellatorische Kritik. Auch die Rüge, die Vorinstanz habe nicht ausreichend ermittelt (z.B. durch Einholung einer Stellungnahme von E.__), wurde vom Bundesgericht als unbegründet erachtet. Die antizipierte Beweiswürdigung der Vorinstanz, wonach weitere Beweise das Ergebnis nicht ändern würden, sei nicht willkürlich gewesen. Somit war der Entscheid, andere Staatsanwälte nicht als befangen zu erklären, bundesrechtskonform.

3. Annullierung von Verfahrenshandlungen nach Art. 60 Abs. 1 StPO (E. 4)

3.1. Tragweite von Art. 60 Abs. 1 StPO (E. 4.6) Gemäss Art. 60 Abs. 1 StPO sind Verfahrenshandlungen, an denen eine befangene Person mitgewirkt hat, auf Antrag einer Partei innert fünf Tagen nach Kenntnisnahme des Befangenheitsentscheids aufzuheben und zu wiederholen. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Vorinstanz zu Unrecht argumentierte, die Annullierung der Handlungen sei nicht mehr erforderlich, da die Verwertbarkeit der Beweismittel gemäss Art. 141 StPO im Berufungsverfahren angefochten werden könne. Art. 60 Abs. 1 StPO und Art. 141 StPO dienen unterschiedlichen Zwecken. Art. 60 Abs. 1 StPO statuiert das Prinzip der Annullierbarkeit von Verfahrensakten, nicht deren absolute Nichtigkeit. Die Vorinstanz durfte den Rekurrenten daher das rechtlich geschützte Interesse an der Beantragung der Annullierung der Verfahrenshandlungen nicht absprechen.

3.2. Kompetenz zur Annullierung von Verfahrenshandlungen im Berufungsverfahren (E. 4.7) Dies war der entscheidende Punkt des Urteils. Das Bundesgericht stellte fest, dass die kantonale Rekurskammer (die über die Befangenheit entschied) nicht zuständig war, über die Folgen der Befangenheit, insbesondere die Annullierung des erstinstanzlichen Urteils oder die Wiederholung von Beweisen, zu entscheiden.

  • Grundsätze: Die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils fällt in die ausschliessliche Zuständigkeit der Berufungsinstanz (Art. 398 Abs. 2 und 3 StPO, Art. 408 StPO, Art. 409 StPO). Die Berufungsinstanz hat eine volle Kognition in Tatsachen- und Rechtsfragen und kann ein neues Urteil fällen oder die Sache zur Neubeurteilung zurückweisen.
  • Wiederholung von Beweisen: Auch die Wiederholung von Beweisen liegt im Ermessen und in der Zuständigkeit der Berufungsinstanz. Das Berufungsverfahren stützt sich auf die bereits erhobenen Beweise (Art. 389 Abs. 1 StPO), kann aber notwendige ergänzende Beweise erheben (Art. 389 Abs. 3 StPO).
  • Prozessökonomie: Es ist prozessökonomisch sinnvoll, dass die Berufungsinstanz, sobald sie mit dem Fall befasst ist, über die Folgen eines Befangenheitsentscheids entscheidet. Sie hat das gesamte Dossier und die Relevanz der Beweismittel im Blick. Sie kann am besten beurteilen, welche Handlungen zu annullieren und welche Beweise gegebenenfalls zu wiederholen sind. Eine Aufteilung der Zuständigkeiten wäre ineffizient.
  • Doppelinstanzlichkeit: Die Garantie der Doppelinstanzlichkeit (Art. 32 Abs. 3 BV) wird nicht verletzt, da die Berufungsinstanz eine umfassende Überprüfung des Falles mit voller Kognition bietet und die Möglichkeit hat, die Sache an die erste Instanz zurückzuweisen, wenn dies zur Wahrung der Parteirechte (einschliesslich des Rechts auf Doppelinstanzlichkeit) erforderlich ist (Art. 409 StPO).

3.3. Fazit zur Kompetenz (E. 4.8) Die Strafrekurskammer war nicht zuständig, über die Gesuche um Annullierung von Verfahrenshandlungen der Rekurrenten zu befinden. Sie hätte diese Gesuche vielmehr an die zuständige Berufungsinstanz überweisen müssen, welche gemäss Art. 39 Abs. 1 StPO die Kompetenz zur Beurteilung dieser Fragen hatte.

III. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht heisst die Beschwerden der Rekurrenten A._ und B._ teilweise gut. Die Urteile der Strafrekurskammer des Genfer Justizhofs vom 15. März 2023 und 27. Juli 2023 werden aufgehoben, soweit sie die Gesuche um Annullierung der Verfahrenshandlungen (Art. 60 Abs. 1 StPO) betreffen. Die Sache wird zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz (Strafrekurskammer) zurückgewiesen, welche die Gesuche an die nun zuständige Berufungsinstanz weiterleiten muss.

IV. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  1. Befangenheit der Staatsanwältin C.__: Bestätigt aufgrund einer Häufung schwerer Pflichtverletzungen, insbesondere der Missachtung des Anwaltsgeheimnisses bei Telefonüberwachungen und der Nichtbeachtung gerichtlicher Anweisungen zum Schutz dieses Geheimnisses.
  2. Keine Befangenheit anderer Staatsanwälte: Die Rüge der Rekurrenten bezüglich der Beteiligung weiterer Staatsanwälte wurde abgewiesen, da die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz, wonach nur die befangene Staatsanwältin C.__ für die gerügten Handlungen verantwortlich war, nicht als willkürlich erachtet wurden.
  3. Annullierung von Verfahrenshandlungen (Art. 60 Abs. 1 StPO):
    • Die Möglichkeit, Verfahrenshandlungen einer befangenen Person nach Art. 60 Abs. 1 StPO annullieren zu lassen, kann nicht mit dem Argument verweigert werden, dass die Verwertbarkeit der Beweismittel ohnehin im Berufungsverfahren geprüft werden kann (Art. 141 StPO). Beide Bestimmungen haben unterschiedliche Anwendungsbereiche und Zwecke.
    • Kompetenz bei anhängigem Berufungsverfahren: Ist ein erstinstanzliches Urteil ergangen und ein Berufungsverfahren anhängig, so ist ausschliesslich die Berufungsinstanz für die Beurteilung der Folgen eines Befangenheitsentscheids zuständig. Dies umfasst die Frage, welche Verfahrenshandlungen zu annullieren sind, ob Beweise wiederholt werden müssen und ob das erstinstanzliche Urteil aufzuheben ist.
    • Begründung der Kompetenzverlagerung: Die Berufungsinstanz verfügt über die volle Kognition, das vollständige Dossier und kann die prozessökonomisch sinnvollsten Entscheidungen treffen, einschliesslich der Zurückweisung an die erste Instanz, wenn die Rechte der Parteien dies erfordern.
  4. Verfahrensgang: Die vorinstanzliche Rekurskammer hätte die Gesuche um Annullierung der Verfahrenshandlungen nicht ablehnen dürfen, sondern hätte sie an die zuständige Berufungsinstanz verweisen müssen.