Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_960/2024 vom 8. Mai 2025

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Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer 6B_960/2024) vom 8. Mai 2025 befasst sich mit einer Beschwerde in Strafsachen gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich. Der Beschwerdeführer A._ wurde vom Obergericht wegen mehrfachen versuchten Raubes verurteilt, nachdem das Bezirksgericht Zürich ihn unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und versuchten einfachen Raubes verurteilt hatte. Die Beschwerde des A._ konzentriert sich auf die Vorwürfe des versuchten qualifizierten Raubes (Dossier 1) und des versuchten einfachen Raubes (Dossier 4).

Sachverhalt und Prozessgeschichte

Dem Beschwerdeführer wurden im Wesentlichen zwei Vorfälle zur Last gelegt:

  1. Dossier 4 (2. September 2017, Basel): A._ und B._ sollen versucht haben, eine Gruppe von drei Männern unter Drohung mit Messern auszurauben. Der Versuch scheiterte, als ein Opfer um Hilfe rief. Die Staatsanwaltschaft klagte dies als versuchten einfachen Raub an (Art. 140 Ziff. 1 StGB).

  2. Dossier 1 (24. Oktober 2020, Zürich): A._ und B._ sollen versucht haben, zwei Passanten (C._ und D._) auszurauben. Dabei soll A._ einen der Passanten (C._) ins Gesicht geschlagen und ihm anschliessend ein Messer in den Bauch gerammt haben, wodurch dieser lebensgefährliche Verletzungen erlitt. Die Staatsanwaltschaft klagte dieses Verhalten von A.__ als versuchte vorsätzliche Tötung und versuchten einfachen Raub an.

Das Bezirksgericht Zürich verurteilte A.__ unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und versuchten einfachen Raubes (Dossier 1) sowie versuchten einfachen Raubes (Dossier 4) zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 3 Monaten. Es ordnete zudem eine stationäre Massnahme gemäss Art. 59 StGB an.

A.__ erhob Berufung, beschränkt auf die Schuldsprüche betreffend Dossier 1 und 4, die Strafe und die Massnahme.

Das Obergericht Zürich sprach A.__ vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung (Dossier 1) frei. Stattdessen verurteilte es ihn für Dossier 1 wegen versuchten qualifizierten Raubes (Art. 140 Ziff. 3 StGB) und für Dossier 4 weiterhin wegen versuchten einfachen Raubes (Art. 140 Ziff. 1 StGB). Die Freiheitsstrafe wurde auf 5 Jahre und 4 Monate reduziert, und die stationäre Massnahme wurde bestätigt.

Gegen dieses obergerichtliche Urteil legte A.__ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag auf Freispruch von den Vorwürfen des versuchten qualifizierten Raubes (Dossier 1) und des versuchten einfachen Raubes (Dossier 4).

Massgebende Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hatte sich mit mehreren Rügen des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen:

  1. Verletzung des Verschlechterungsverbots (reformatio in peius, Art. 391 Abs. 2 StPO):

    • Argument des Beschwerdeführers: Er rügte, das Obergericht habe ihn im Berufungsverfahren für Dossier 1 von versuchtem einfachen Raub zu versuchtem qualifizierten Raub hochgestuft, obwohl nur er Berufung zu seinen Gunsten eingelegt hatte, was eine unzulässige "reformatio in peius" darstelle.
    • Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht verneinte eine Verletzung des Verschlechterungsverbots. Es wies darauf hin, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer im Zusammenhang mit Dossier 1 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und versuchten einfachen Raubes verurteilt hatte. Das Obergericht habe ihn hingegen vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung freigesprochen und ihn stattdessen "nur" wegen versuchten qualifizierten Raubes verurteilt. Da die vorsätzliche Tötung (Art. 111 StGB) mit einer Mindeststrafe von 5 Jahren bedroht ist, während der qualifizierte Raub (Art. 140 Ziff. 3 StGB) eine Mindeststrafe von 2 Jahren vorsieht, sei der Schuldspruch des Obergerichts im Vergleich zur erstinstanzlichen Verurteilung insgesamt milder und somit zum Vorteil des Beschwerdeführers ausgefallen. Eine unzulässige Verschlechterung liege daher nicht vor.
  2. Verletzung des Anklageprinzips und des rechtlichen Gehörs (Art. 9 Abs. 1, 325, 344 StPO):

    • Argument des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer machte geltend, die Verurteilung wegen versuchten qualifizierten Raubes (Dossier 1) verletze das Anklageprinzip, da die Staatsanwaltschaft nur versuchten einfachen Raub angeklagt habe. Zudem sei sein Gehörsanspruch verletzt worden, da ihn das Obergericht nicht darauf hingewiesen habe, dass es den Sachverhalt möglicherweise anders würdigen werde (Art. 344 StPO).
    • Begründung des Bundesgerichts:
      • Anklageprinzip: Das Bundesgericht betonte, dass das Gericht an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden ist (Art. 350 Abs. 1 StPO). Der Beschwerdeführer habe nicht geltend gemacht und es sei auch nicht ersichtlich, dass der Schuldspruch des qualifizierten Raubes über den angeklagten Sachverhalt hinausgegangen sei. Die in der Anklageschrift beschriebenen Fakten (Messerstich in den Bauch) liessen die Qualifikation als qualifizierter Raub zu. Eine Verletzung des Anklageprinzips lag somit nicht vor.
      • Rechtliches Gehör (Art. 344 StPO): Das Bundesgericht stellte fest, dass aus dem angefochtenen Entscheid oder dem Protokoll der Hauptverhandlung nicht hervorging, dass das Obergericht einen Würdigungsvorbehalt gemacht oder den Beschwerdeführer auf eine abweichende rechtliche Würdigung hingewiesen hätte. Es liess jedoch offen, ob darin eine Verletzung des Gehörsanspruchs lag, da dies vorliegend "offenkundig" keinen Einfluss auf das Verfahren gehabt hätte (sog. "prozessualer Leerlauf"). Das Gericht begründete dies damit, dass der Beschwerdeführer damit rechnen musste, dass der Sachverhalt als versuchter qualifizierter Raub beurteilt werden könnte, falls ein Tötungsdelikt verneint würde. Dies sei offensichtlich gewesen, da die Staatsanwaltschaft den Mittäter B.__ für denselben Vorfall bereits wegen versuchten qualifizierten Raubes angeklagt hatte. Da der Beschwerdeführer seine Täterschaft während des gesamten Verfahrens bestritten hatte, hätte eine Bekanntgabe der abweichenden rechtlichen Würdigung nichts an seiner Verteidigungsstrategie geändert. Auch der Einwand, er hätte seine Berufung zurückziehen können, wenn er gewarnt worden wäre, wurde verworfen, da ein solcher Rückzug angesichts der erstinstanzlichen Verurteilung wegen versuchter vorsätzlicher Tötung nicht vorteilhaft gewesen wäre. Das Bundesgericht verweist hier auf seine ständige Rechtsprechung, wonach eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht zur Aufhebung führt, wenn sie einem formalistischen Leerlauf gleichkäme (vgl. BGE 143 IV 380 E. 1.4.1).
  3. Verletzung des rechtlichen Gehörs bei der Beweiswürdigung (Mobilfunkdaten):

    • Argument des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer rügte, das Obergericht habe sich nicht ausreichend mit seinen Ausführungen zur mangelnden Zuverlässigkeit der rückwirkenden Teilnehmeridentifikation (Mobilfunkdaten) auseinandergesetzt, die seinen Standort zum Tatzeitpunkt nicht präzise bestimmen könnten (wegen grossen Zellenradien und Zeitabweichungen).
    • Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bekräftigte, dass eine Behörde nicht alle Parteivorbringen ausdrücklich widerlegen muss, sondern sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken kann. Das Obergericht habe die Mobilfunkdaten der Beschwerdeführer und B._ in Kombination mit weiteren Beweismitteln gewürdigt: Die Daten zeigten eine Anwesenheit "zumindest in der Nähe des Tatorts" und eine Bewegung in Richtung Langstrasse nach der Tat, was durch übereinstimmende Zeugenaussagen (E._ und F._) über die Fluchtrichtung der Täter gestützt wurde. Zudem seien DNA-Spuren des Beschwerdeführers und B._ an am Tatort gefundenen Dosen entdeckt worden, die auch von Zeugen beschrieben wurden. Schliesslich stand B._s Anwesenheit am Tatort aufgrund seiner rechtskräftigen Verurteilung fest, und da A._ selbst angab, die ganze Nacht mit B.__ unterwegs gewesen zu sein, sei kein Zweifel an A.__s Täterschaft geblieben. Die Begründung des Obergerichts sei somit ausreichend gewesen.
  4. Verletzung des Teilnahmerechts bei polizeilichen Einvernahmen (Art. 147 Abs. 1 StPO) und Unverwertbarkeit:

    • Argument des Beschwerdeführers: Die polizeilichen Befragungen der Opfer und Zeugen (C._, D._, E.__) im Oktober/November 2020 seien in Verletzung seines Teilnahmerechts erfolgt und daher unverwertbar, einschliesslich einer allfälligen Fernwirkung (Art. 147 Abs. 4 StPO).
    • Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht führte aus, dass ein Teilnahmerecht nach Art. 147 StPO eine Parteistellung voraussetzt. Da das Verfahren zum Zeitpunkt der betreffenden Einvernahmen (Okt/Nov 2020) noch "gegen Unbekannt" geführt wurde und der Beschwerdeführer erst mit der DNA-Auswertung vom 17. November 2020 als Tatverdächtiger identifiziert wurde, habe ihm zu diesem Zeitpunkt noch keine Parteistellung zugestanden. Folglich bestand auch kein Teilnahmerecht gemäss Art. 147 StPO. Mangels Unverwertbarkeit stelle sich auch die Frage einer Fernwirkung nicht. Eine Verletzung des Konfrontationsanspruchs nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK wurde vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht. Das Bundesgericht verwies hier auf seine Rechtsprechung, wonach die Parteistellung und damit das Teilnahmerecht erst nach Identifikation eines Tatverdächtigen entsteht (vgl. BGE 141 IV 220 E. 4.5).

Fazit des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden konnte, vollumfänglich ab. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wurde infolge Aussichtslosigkeit abgewiesen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Keine Verletzung des Verschlechterungsverbots: Die Verurteilung wegen versuchten qualifizierten Raubes anstelle von versuchter vorsätzlicher Tötung und versuchtem einfachen Raub war insgesamt milder und somit zum Vorteil des Beschwerdeführers.
  • Keine Verletzung des Anklageprinzips: Das Gericht ist an den Sachverhalt, nicht aber an die rechtliche Würdigung der Anklageschrift gebunden; die Fakten in der Anklage stützten den qualifizierten Raub.
  • Keine relevante Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 344 StPO): Obwohl eine formelle Warnung des Obergerichts möglicherweise fehlte, war der Beschwerdeführer aufgrund der Gesamtumstände (Anklage des Mittäters wegen qualifizierten Raubes) nicht überrascht und seine Verteidigungsstrategie wurde nicht beeinträchtigt (prozessualer Leerlauf).
  • Keine Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Beweiswürdigung: Das Obergericht hat die Mobilfunkdaten in Kombination mit weiteren Beweismitteln (DNA, Zeugenaussagen, eigene Angaben) ausreichend gewürdigt und begründet.
  • Keine Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen (Art. 147 StPO): Zum Zeitpunkt der fraglichen polizeilichen Einvernahmen hatte der Beschwerdeführer noch keine Parteistellung, da er noch nicht als Tatverdächtiger identifiziert war. Daher stand ihm das Teilnahmerecht nicht zu.