Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_184/2025 vom 22. Mai 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGE 6B_184/2025 vom 22. Mai 2025) betrifft die Beschwerde in Strafsachen von A.A.__ gegen die Anordnung einer Landesverweisung. Der Beschwerdeführer wendete sich einzig gegen die gegen ihn verhängte Landesverweisung mit der Begründung, diese sei unverhältnismässig und verstosse gegen Art. 8 Ziff. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

I. Sachverhalt und Vorinstanzen

A.A.__, ein nordmazedonischer Staatsangehöriger, wurde vorgeworfen, von 2018 bis Mitte 2020 insgesamt 862 Gramm Kokaingemisch (ca. 600 Gramm reines Kokain) verkauft zu haben, sowohl an Zwischenhändler als auch an Endabnehmer.

  • Kreisgericht Rheintal (30. November 2022): Verurteilung wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 28 Monaten (davon 10 Monate vollziehbar). Zudem wurde A.A.__ für sieben Jahre des Landes verwiesen und die Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem (SIS) angeordnet.
  • Kantonsgericht St. Gallen (28. November 2024): Bestätigte den erstinstanzlichen Schuldspruch wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das BetmG. Es reduzierte den vollziehbaren Teil der Freiheitsstrafe auf 6 Monate (bei einer Gesamtstrafe von 28 Monaten), unter Anrechnung der Untersuchungshaft. Das Kantonsgericht bestätigte ebenfalls die Landesverweisung für sieben Jahre und die SIS-Ausschreibung. Es stellte zudem eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest, was jedoch für die Argumentation zur Landesverweisung nicht relevant ist.

II. Rechtlicher Rahmen der Landesverweisung

Das Bundesgericht legte ausführlich den rechtlichen Rahmen für die obligatorische Landesverweisung und die Härtefallklausel dar:

  • Obligatorische Landesverweisung (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB): Für Ausländer, die wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das BetmG (Art. 19 Abs. 2 BetmG) verurteilt wurden, ist eine Landesverweisung von 5 bis 15 Jahren zwingend. Da der Beschwerdeführer wegen eines Verbrechens nach Art. 19 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 19 Abs. 2 lit. a BetmG schuldig gesprochen wurde, sind die Voraussetzungen hierfür grundsätzlich erfüllt.
  • Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn kumulativ zwei Bedingungen erfüllt sind:
    1. Die Landesverweisung würde für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken.
    2. Die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung überwiegen die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht. Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV) und ist restriktiv anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.3.1).
  • Kriterien zur Härtefallprüfung: Massgebend sind Kriterien aus Art. 31 Abs. 1 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) und Art. 58a des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG), namentlich der Grad der Integration (persönlich und wirtschaftlich, Beachtung der öffentlichen Sicherheit, Sprachkompetenzen, Teilnahme am Wirtschaftsleben), familiäre Bindungen in der Schweiz/Heimat, Aufenthaltsdauer, Gesundheitszustand und Resozialisierungschancen (BGE 144 IV 332 E. 3.3.2).
  • Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens): Ein schwerer persönlicher Härtefall wird bei einem Eingriff von gewisser Tragweite in dieses Recht angenommen (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1).
    • Privatleben (Art. 8 Ziff. 1 EMRK): Kann beansprucht werden, wenn besonders intensive soziale und berufliche Verbindungen zur Schweiz bestehen. Eine lange Aufenthaltsdauer allein führt nicht schematisch zu einer Verwurzelung; es ist eine Einzelfallprüfung nötig (BGE 146 IV 105 E. 3.4.1 f.).
    • Familienleben (Art. 8 EMRK / Art. 13 BV): Betroffen, wenn eine Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt. Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie (Ehegatten mit minderjährigen Kindern; BGE 144 I 266 E. 3.3).
  • Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK: Wenn ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht wird, entscheidet die Interessenabwägung. Dabei sind die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die daraus resultierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose massgebend (Urteile 6B_502/2024 E. 3.3.1). Die Interessenabwägung muss sich an der Verhältnismässigkeitsprüfung des EGMR orientieren (Art. 8 Ziff. 2 EMRK).
    • EGMR-Kriterien: Art und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, seit der Tat verstrichene Zeit und Verhalten des Betroffenen, Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- und Heimatstaat (Urteile EGMR E.V. gegen Schweiz vom 18. Mai 2021). Für das Familienleben zusätzlich: Staatsangehörigkeit der Familienmitglieder, Dauer der Ehe, allfällige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat, Alter der Kinder, Schwierigkeiten des Ehegatten im Heimatland (Urteile EGMR Z. gegen Schweiz vom 22. Dezember 2020).
  • "Zweijahresregel": Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr erfordert ausserordentliche Umstände, damit das private Interesse am Verbleib in der Schweiz das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung überwiegt. Dies gilt selbst bei Ehe mit Schweizer Staatsbürgern und gemeinsamen Kindern (Urteile 6B_527/2024 E. 6.1.8).

III. Argumentation der Vorinstanz

Die Vorinstanz bejahte einen schweren persönlichen Härtefall des Beschwerdeführers knapp, begründet durch seine lange Aufenthaltsdauer von über 37 Jahren und seine familiäre Verwurzelung in der Schweiz. Anschliessend nahm sie eine umfassende Interessenabwägung vor:

  • Private Interessen des Beschwerdeführers (relativiert):

    • Strafmass: Die Freiheitsstrafe von 28 Monaten löst die "Zweijahresregel" aus, wonach ausserordentliche Umstände für ein Überwiegen der privaten Interessen notwendig wären. Solche Umstände sah die Vorinstanz als nicht gegeben an.
    • Aufenthaltsdauer und Integration: Obwohl der Beschwerdeführer seit 37 Jahren in der Schweiz lebt, relativierte die Vorinstanz sein Bleibeinteresse, da er den grössten Teil seiner prägenden Kindes- und Jugendjahre in Nordmazedonien verbracht und dort die Grundschule besucht hatte. Auch eine Anlehre in der Schweiz hatte er nicht abgeschlossen.
    • Wirtschaftliche Verhältnisse: Trotz mehrheitlicher Erwerbstätigkeit gelang es ihm nicht, nachhaltig wirtschaftlich Fuss zu fassen. Sein Einkommen reichte oft nicht aus, er hatte 2018 Privatkonkurs angemeldet und war von längeren Arbeitsunfähigkeitsphasen betroffen. Die bestehenden Schulden und Verfahrenskosten (über Fr. 60'000 zuzüglich Fr. 7'000 Ersatzforderung) würden in absehbarer Zeit nicht bereinigt sein, zumal er eine Freiheitsstrafe zu verbüssen hatte.
    • Familiäre Situation: Die Ehefrau des Beschwerdeführers ist ebenfalls nordmazedonische Staatsbürgerin. Die beiden erwachsenen Kinder gehören nicht mehr zur "Kernfamilie" im Sinne von Art. 13 BV bzw. Art. 8 EMRK; die Beziehung könne mittels moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden.
    • Krankheit der Ehefrau: Die Ehefrau leidet an einer schweren Depression. Die Vorinstanz anerkannte zwar den Wunsch des Beschwerdeführers, sie selbst zu pflegen, verneinte jedoch, dass dies ausschliesslich durch ihn und in der Schweiz gewährleistet werden könne. Die Ehefrau verfüge über ein familiäres Beziehungsnetz in der Schweiz, das die Betreuung übernehmen könne. Ihre Weigerung, mit ihm auszureisen, zeige, dass sie nicht zwingend auf seine Betreuung angewiesen sei. Zudem gebe es in Nordmazedonien Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen und allenfalls einen Anspruch auf IV-Rente aufgrund eines Sozialversicherungsabkommens. Der Beschwerdeführer habe das Familienleben durch seine Straftaten mutwillig aufs Spiel gesetzt.
  • Öffentliche Interessen an der Landesverweisung (beträchtlich):

    • Schwere der Tat: Verkauf von 600 Gramm reinem Kokain, was den Grenzwert für eine qualifizierte Widerhandlung (18 Gramm) um mehr als das Dreissigfache überschritt und eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellt.
    • Einschlägige Vorstrafe: Der Beschwerdeführer war bereits einmal wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 24 Monaten unbedingter Freiheitsstrafe verurteilt worden. Obwohl diese Vorstrafe aus dem Strafregister gelöscht wurde, ist sie im Rahmen der Interessenabwägung relevant.
    • Rückfallgefahr: Die erneute schwerwiegende Delinquenz im Betäubungsmittelbereich, obwohl ihm die nachteiligen Auswirkungen auf sein Aufenthaltsrecht aufgrund der ersten Verurteilung (bei der bereits eine Landesverweisung erwogen wurde) bewusst gewesen sein mussten, spricht für ein ausgeprägtes öffentliches Interesse. Angesichts seiner aktuellen Schuldenlast, die schon beim ersten Mal Anlass für den Drogenhandel war, musste von einer nicht unerheblichen Rückfallgefahr ausgegangen werden.
  • Gesamtwürdigung der Vorinstanz: Die Vorinstanz schätzte ein, dass vom Beschwerdeführer eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Eine Rückkehr nach Nordmazedonien sei ihm zumutbar, da er dort aufgewachsen sei, die Sprache und Kultur beherrsche und familiäre Kontakte sowie Immobilien besitze. Die Integrationsaussichten dort seien nicht schlechter als in der Schweiz. Das öffentliche Interesse überwiege die privaten Interessen.

IV. Argumentation des Bundesgerichts

Das Bundesgericht bestätigte die umfassende und nachvollziehbare Abwägung der Vorinstanz und wies die Beschwerde ab:

  • Aufenthaltsdauer: Das Bundesgericht anerkannte, dass die Vorinstanz die lange Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers von 37 Jahren berücksichtigt und aufgrund dieser einen schweren persönlichen Härtefall bejaht hatte. Es hielt jedoch fest, dass eine lange Aufenthaltsdauer kein absolutes Wegweisungshindernis darstellt. Es wies den Verweis des Beschwerdeführers auf die EGMR-Empfehlung, wonach ab 20 Jahren keine Landesverweisung mehr ausgesprochen werden sollte, zurück. Das Bundesgericht lehnt eine schematische Anwendung der Aufenthaltsdauer ab (BGE 146 IV 105 E. 3.4.4). Der vorliegende Fall unterscheide sich zudem massgeblich vom vom Beschwerdeführer zitierten EGMR-Urteil P.J. und R.J. gegen Schweiz, da A.A.__ einschlägig vorbestraft sei, keine kleinen Kinder habe und zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
  • Krankheit der Ehefrau: Das Bundesgericht rügte, dass der Beschwerdeführer von Umständen ausgehe, die von der Vorinstanz nicht festgestellt wurden (z.B. absolute Unabdingbarkeit seiner Pflege). Er habe nicht dargelegt, inwiefern die Feststellungen der Vorinstanz willkürlich seien, dass die Ehefrau auch ohne ihn in der Schweiz verbleiben könne, da familiäre oder Spitex-Dienste die Betreuung leisten könnten und in Nordmazedonien adäquate Behandlungsmöglichkeiten bestünden. Die Vorinstanz habe zu Recht festgestellt, dass die Krankheit der Ehefrau angesichts der "Zweijahresregel" keinen solchen ausserordentlichen Umstand darstelle, der die Landesverweisung ausschliessen würde.
  • Reue und Rückfallgefahr: Das Bundesgericht bestätigte, dass die Vorinstanz die Reue und die Bemühungen um Schuldensanierung des Beschwerdeführers berücksichtigt hatte. Jedoch sei die erhebliche Verschuldung, gepaart mit der einschlägigen schweren Vorstrafe und dem Umstand, dass Schulden bereits ursprünglich zum Einstieg in den Drogenhandel führten, ein nicht zu beanstandendes, relevantes Rückfallrisiko. Die Tatsache, dass er trotz stabiler Umstände und einer bereits erwogenen Landesverweisung erneut und schwerwiegend rückfällig geworden sei, bekräftige die Annahme einer gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

V. Entscheid

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass keine ausserordentlichen Umstände vorliegen, aufgrund derer auf eine Landesverweisung zu verzichten wäre. Die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung überwiegen die entgegenstehenden privaten Interessen des Beschwerdeführers. Die Landesverweisung erweist sich als bundes- und völkerrechtskonform. Die Beschwerde wurde abgewiesen.

VI. Kurzfassung der wesentlichen Punkte

  • Straftat: Qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Verkauf von 600g reinem Kokain).
  • Strafmass: Freiheitsstrafe von 28 Monaten, davon 6 Monate vollziehbar.
  • Landesverweisung: Obligatorisch (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB) für 7 Jahre.
  • Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Ein schwerer persönlicher Härtefall wurde vom Kantonsgericht knapp bejaht (lange Aufenthaltsdauer von 37 Jahren, familiäre Verwurzelung).
  • Interessenabwägung: Die privaten Interessen des Beschwerdeführers wurden durch seine Herkunft (nicht in CH aufgewachsen), schwache wirtschaftliche Integration (Schulden, Konkurs), die Tatsache, dass seine Kinder erwachsen und somit nicht Teil der "Kernfamilie" sind, sowie die Zumutbarkeit von alternativen Betreuungs- und Behandlungsmöglichkeiten für seine kranke Ehefrau relativiert.
  • Öffentliches Interesse: Überwog aufgrund der hohen Strafe ("Zweijahresregel"), der extremen Schwere der Tat (grosse Drogenmenge), einer einschlägigen schweren Vorstrafe und einer weiterhin relevanten Rückfallgefahr.
  • Fazit des Bundesgerichts: Die Landesverweisung ist verhältnismässig und rechtmässig, da die öffentlichen Interessen an der Sicherheit und Ordnung die privaten Interessen des Beschwerdeführers überwiegen.