Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_629/2024 vom 5. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das Bundesgericht hatte im vorliegenden Fall über die Beschwerde eines türkischen Staatsangehörigen gegen den Widerruf seiner Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA und die anschliessende Wegweisung aus der Schweiz zu befinden. Der Beschwerdeführer berief sich auf einen Bleibeanspruch sowohl gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen (FZA) als auch auf das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG).

A. Sachverhalt und Verfahrensgang

Der 1984 geborene Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste 2016 in die Schweiz ein und heiratete eine in der Schweiz niedergelassene EU-Bürgerin. Gestützt darauf erhielt er 2018 eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA, die regelmässig verlängert wurde. Im Mai 2021 trennten sich die Ehegatten und leben seit Juni 2021 in getrennten Haushalten.

Bereits im März 2021 wurde sein Antrag auf eine Niederlassungsbewilligung aufgrund einer Verschuldung von CHF 279'322.86 abgelehnt. Im August 2021 wurde ihm vom Migrationsamt geraten, sich um eine Arbeitsstelle und die Schuldenrückzahlung zu bemühen. Trotz dieser Hinweise stieg seine Schuldenlast bis Januar 2024 um weitere CHF 94'774.25 auf insgesamt CHF 374'097.11 an. Zudem wurde im Februar 2019 über ihn der Konkurs eröffnet.

Das kantonale Migrationsamt widerrief im April 2024 die Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA wegen Trennung, verweigerte eine Bewilligung für Drittstaatsangehörige und wies ihn weg. Das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn bestätigte diesen Entscheid im November 2024. Der Beschwerdeführer legte daraufhin Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein, woraufhin die aufschiebende Wirkung erteilt wurde.

B. Massgebende Rechtsgrundlagen und Prüfungsraster

Das Bundesgericht prüfte die Beschwerde primär auf der Grundlage von zwei potenziellen Anspruchsgrundlagen:

  1. Abgeleiteter Anspruch aus dem Freizügigkeitsabkommen (FZA): Art. 7 lit. d FZA i.V.m. Art. 3 Anhang I FZA gewähren Ehegatten von EU/EFTA-Bürgern grundsätzlich einen abgeleiteten Aufenthaltsanspruch. Dieser Anspruch steht jedoch unter dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs. Ist der Wille zur ehelichen Gemeinschaft nicht (mehr) gegeben und dient das formelle Eheband lediglich dazu, ausländerrechtliche Vorschriften zu umgehen, fällt der Anspruch dahin. Der Widerruf oder die Nichtverlängerung der Bewilligung erfolgt in einem solchen Fall gestützt auf Art. 23 Abs. 1 der Verordnung über den freien Personenverkehr (VFP) in Verbindung mit Art. 62 Abs. 1 lit. d des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) wegen Nichteinhaltens einer Bedingung.

  2. Nachehelicher Anspruch nach schweizerischem Recht (AIG): Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG gewährt Ehegatten nach Auflösung der Ehe oder der Familiengemeinschaft einen selbständigen Aufenthaltsanspruch, wenn die Ehegemeinschaft mindestens drei Jahre bestanden hat und die Integrationskriterien nach Art. 58a AIG erfüllt sind. Da Art. 50 AIG günstiger als das FZA ist, findet er gemäss Art. 2 Abs. 2 AIG Anwendung.

Die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz sind für das Bundesgericht grundsätzlich bindend (Art. 105 Abs. 1 BGG) und werden nur überprüft, wenn sie offensichtlich unrichtig oder willkürlich sind (Art. 97 Abs. 1 BGG).

C. Begründung des Bundesgerichts im Einzelnen

Das Bundesgericht wies die Beschwerde aus folgenden Gründen ab:

1. Zum Anspruch aus dem Freizügigkeitsabkommen (FZA):

  • Fehlende gewollte Ehegemeinschaft (Rechtsmissbrauch): Der Beschwerdeführer argumentierte, seine Ehe sei nicht geschieden und es habe eine Annäherung stattgefunden. Die Vorinstanz stellte jedoch fest, dass die Ehegatten sich im Mai 2021 getrennt hatten und die Ehefrau kurz nach der Trennung erklärte, sich keine gemeinsame Zukunft mehr vorstellen zu können. Beide hätten damals eine Scheidung geplant. Die Behauptung einer Wiederannäherung sei erst im Januar 2024 aufgekommen, wobei die Ehefrau das Migrationsamt lediglich über eine freundschaftliche Verbindung informierte. Ein undatiertes Schreiben der Ehefrau, das eine Annäherung postuliere, sei erst nach dem abschlägigen Entscheid des Migrationsamts im April 2024 eingereicht worden.
  • Beweiswürdigung der Vorinstanz: Die Vorinstanz beurteilte die behauptete Annäherung als widersprüchlich und unglaubwürdig. Sie qualifizierte sie als "reine Schutzbehauptung" angesichts der unmittelbar drohenden Wegweisung und des Fehlens substanzieller Belege wie aktueller Fotos oder Nachrichten. Das Bundesgericht bestätigte diese Beweiswürdigung und hielt fest, die Einwände des Beschwerdeführers liefen auf eine unzulässige appellatorische Sachverhaltskritik hinaus.
  • Schlussfolgerung FZA: Da die Ehegemeinschaft nicht mehr gewollt war und nicht mehr bestand, lag ein rechtsmissbräuchliches Festhalten an einer inhaltsleer gewordenen formellen Ehe vor. Folglich bestand kein Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA, und der Widerruf war völker- und bundesrechtskonform.

2. Zum nachehelichen Anspruch nach AIG (Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG):

  • Integrationskriterien und mutwillige Verschuldung: Während die mindestens dreijährige Ehegemeinschaft unbestritten war, verneinte die Vorinstanz das Vorliegen der Integrationskriterien nach Art. 58a AIG. Sie begründete dies mit der nachhaltigen und vorwerfbaren mutwilligen Verschuldung des Beschwerdeführers, welche auch eine Nichtbeachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemäss Art. 58a Abs. 1 lit. a AIG darstelle.
  • Definition der Mutwilligkeit: Das Bundesgericht präzisierte, dass mutwilliges Verhalten im Sinne von Art. 77a Abs. 1 lit. b der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) vorliegt, wenn eine Person aus Absicht, Böswilligkeit, Liederlichkeit oder Leichtfertigkeit ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommt.
  • Beurteilung der Verschuldung:
    • Höhe und Art der Schulden: Die Schuldenlast von über CHF 374'000.– ist erheblich und betrifft mehrheitlich Forderungen der öffentlichen Hand (Steuern, Versicherungen, Gerichtskassen).
    • Vorgeschichte und Verhalten: Obwohl anfängliche Schulden aus verlustreichen selbständigen Erwerbstätigkeiten stammen mögen, war der entscheidende Punkt die fortgesetzte und vermeidbare Schuldenanhäufung. Zwischen März 2021 (Ablehnung Niederlassungsbewilligung) und Januar 2024 stieg die Schuld von bereits hohen CHF 279'322.86 um weitere CHF 94'774.25, obwohl der Beschwerdeführer seit Juli 2021 als Angestellter arbeitete und einer Lohnpfändung unterlag.
    • Unzureichende Sanierungsbemühungen: Der Beschwerdeführer unternahm erst ernsthafte Sanierungsbemühungen, nachdem ihm das rechtliche Gehör zur beabsichtigten Wegweisung gewährt wurde. Abzahlungsvereinbarungen mit Steuerverwaltungen und privaten Gläubigern wurden mehrfach nicht fristgerecht oder gar nicht eingehalten.
    • Wiederaufnahme der Selbständigkeit: Ein Schlüsselmoment für die Annahme der Mutwilligkeit war, dass der Beschwerdeführer im Mai 2023 seine feste Anstellung als Koch aufgab, um erneut eine selbständige Tätigkeit im Gastgewerbe aufzunehmen. Dies geschah, obwohl ihm die ausländerrechtlichen Konsequenzen seiner Verschuldung seit 2021 bewusst sein mussten (Ablehnung der Niederlassungsbewilligung und expliziter Rat zur Schuldensanierung). Das Bundesgericht sah darin eine "Gleichgültigkeit gegenüber seinen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Verpflichtungen".
  • Formelle Verwarnung: Eine formelle Verwarnung nach Art. 96 Abs. 2 AIG war nicht zwingend erforderlich, da der Beschwerdeführer bereits auf die möglichen Folgen hingewiesen wurde und eine nennenswerte Wirkung einer weiteren Verwarnung angesichts seines Verhaltens nicht absehbar war.
  • Schlussfolgerung AIG: Die Integrationskriterien, insbesondere die wirtschaftliche Integration und die Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wurden aufgrund der mutwilligen und anhaltenden Verschuldung nicht erfüllt. Daher bestand auch kein Anspruch auf eine nacheheliche Aufenthaltsbewilligung nach Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG.

D. Kurz-Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigte den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung und die Wegweisung des Beschwerdeführers. 1. FZA-Anspruch verneint: Der abgeleitete Anspruch aus dem Freizügigkeitsabkommen entfiel, da das Bundesgericht eine rechtsmissbräuchliche Geltendmachung annahm. Die Vorinstanz hatte willkürfrei festgestellt, dass keine gewollte eheliche Gemeinschaft mehr bestand und die behauptete Annäherung als Schutzbehauptung zu werten war. 2. AIG-Anspruch verneint: Ein nachehelicher Aufenthaltsanspruch nach AIG scheiterte an den nicht erfüllten Integrationskriterien. Die massive und anhaltende Verschuldung, die auch nach Hinweisen und trotz Lohnpfändung weiter anwuchs und durch eine erneute, riskante Selbständigkeit verschlimmert wurde, wurde als mutwillig qualifiziert. Dies zeigte eine Gleichgültigkeit gegenüber finanziellen und öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts, welches den Widerruf der Bewilligung und die Wegweisung bestätigte, wurde somit vom Bundesgericht vollumfänglich als bundes- und völkerrechtskonform befunden.