Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_308/2025 vom 11. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_308/2025)

Einleitung Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (I. strafrechtliche Abteilung) vom 11. Juni 2025 befasst sich mit einer Beschwerde in Strafsachen gegen einen Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 10. Februar 2025. Gegenstand der Beschwerde war ausschliesslich die angeordnete Landesverweisung des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer, ein spanischer Staatsangehöriger, wurde wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Angriffs verurteilt.

Sachverhalt (für die Beurteilung der Landesverweisung massgebend) Dem Beschwerdeführer A.__ wurde vorgeworfen, im Dezember 2021 als Sicherheitsmitarbeiter zusammen mit einem Kollegen einen unter Alkohol- und Drogeneinfluss stehenden Dritten tätlich angegriffen zu haben. Er habe achtmal gegen den Oberkörper-/Kopfbereich des bäuchlings auf dem Boden liegenden Opfers getreten und ihm dabei unter anderem eine dreifache offene Unterkieferfraktur zugefügt. Das Kreisgericht St. Gallen verurteilte ihn am 11. November 2022 wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Angriffs zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten sowie einer Landesverweisung von fünf Jahren. Das Kantonsgericht St. Gallen bestätigte dieses Urteil am 10. Februar 2025 vollumfänglich, wobei es eine Verletzung des Beschleunigungsgebots feststellte, die jedoch für die Landesverweisung keine Rolle spielte. Der Beschwerdeführer focht die Landesverweisung vor Bundesgericht an.

Hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers stellte die Vorinstanz fest, dass dieser 1975 in Deutschland geboren und mit etwa acht Jahren nach Serbien gezogen sei, wo er seine obligatorische Schulzeit und Ausbildungen absolvierte. Danach lebte er 16 Jahre in Spanien und reiste im Februar 2017 in die Schweiz ein, wo er seitdem rund acht Jahre wohnhaft ist. Er ist beruflich gut integriert (aktuell als Elektrotechniker, netto CHF 4'500 monatlich), hat keine Schulden oder Sozialhilfebezug. Er lebt allein in der Schweiz; seine Ex-Frau und seine 17-jährige Tochter leben in Madrid (für die er Unterhalt zahlt), weitere Verwandte in Spanien und Serbien. Neben seiner Muttersprache Serbisch spricht er Spanisch, jedoch nur gebrochen Deutsch. Seine soziale Integration beschränkt sich auf die Mitgliedschaft in einer Kirchgemeinde, Singen im Chor und Aushelfen in Altersheimen; er ist nicht aktiv im hiesigen Vereins- oder Gesellschaftsleben.

Rechtliche Grundlagen und deren Anwendung

  1. Obligatorische Landesverweisung nach Art. 66a Abs. 1 StGB: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB erfüllt sind, da der Beschwerdeführer wegen versuchter schwerer Körperverletzung (Art. 122 StGB) und Angriffs (Art. 134 StGB) verurteilt wurde. Diese Taten gehören zum Katalog der Delikte, die eine obligatorische Landesverweisung nach sich ziehen.

  2. Härtefallklausel gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB: Die zentrale Frage war, ob ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt, der es ausnahmsweise erlauben würde, von der Landesverweisung abzusehen. Das Gericht wies darauf hin, dass diese Klausel restriktiv anzuwenden ist und der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV) dient (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1). Zur Prüfung des Härtefalls wird auf den Kriterienkatalog der VZAE (Art. 31 Abs. 1) und des AIG (Art. 58a) verwiesen, der namentlich den Grad der Integration (Sprachkompetenzen, Teilnahme am Wirtschaftsleben, Respektierung der Werte, etc.), familiäre Bindungen, Aufenthaltsdauer, Gesundheitszustand und Resozialisierungschancen umfasst (BGE 144 IV 332 E. 3.3.2). Ein schwerer Härtefall wird angenommen, wenn ein Eingriff von einer gewissen Tragweite in das Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 13 BV und Art. 8 EMRK vorliegt. Eine besonders intensive soziale und berufliche Verbindung zur Schweiz, die über eine gewöhnliche Integration hinausgeht, ist hierfür erforderlich (BGE 146 IV 105 E. 3.4.3 f.).

    • Anwendung durch die Vorinstanz: Die Vorinstanz verneinte einen schweren persönlichen Härtefall. Sie begründete dies damit, dass der Beschwerdeführer seine prägenden Jahre nicht in der Schweiz verbracht habe (nur acht Jahre Aufenthalt, davor in Serbien und Spanien). Seine persönliche und soziale Integration sei bescheiden (gebrochenes Deutsch, keine über eine normale Integration hinausgehenden sozialen Bindungen). Eine Reintegration in Serbien oder Spanien sei aufgrund seiner Sprachkenntnisse und verwandtschaftlichen Beziehungen möglich. Obwohl die berufliche Integration in der Schweiz erfolgreich sei, verfüge er auch in Serbien und Spanien über langjährige Berufserfahrung in ähnlichen Bereichen. Weder seine finanzielle Situation noch gesundheitliche Gründe oder familiäre Verhältnisse sprächen für einen Härtefall. Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer primär finanzielle Gründe für seinen Verbleib anführe.
    • Überprüfung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht bestätigte die Einschätzung der Vorinstanz. Es wies die Rügen des Beschwerdeführers als "appellatorisch" zurück, da sie nicht darlegten, inwiefern die vorinstanzlichen Schlussfolgerungen willkürlich oder rechtsfehlerhaft seien. Die blosse Aufenthaltsdauer von acht Jahren genüge nicht für sich allein. Die Berücksichtigung der beruflichen Integration durch die Vorinstanz sei korrekt erfolgt, indem auch die Erfahrung im Ausland miteinbezogen wurde. Die Einschätzung der sozialen und sprachlichen Integration sei ebenfalls nicht zu beanstanden; die Fähigkeit, sich "über weite Strecken" auf Deutsch verständlich zu machen, sei nicht gleichbedeutend mit einer gelungenen sprachlichen Integration. Eine Kirchenmitgliedschaft oder Hilfstätigkeiten reichten nicht für eine "besonders intensive" Verbindung aus.
  3. Interessenabwägung (Verhältnismässigkeit): Auch wenn ein Härtefall bejaht würde, müsste in einer zweiten Stufe eine Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Landesverweisung und den privaten Interessen des Ausländers vorgenommen werden. Die Beurteilung der öffentlichen Interessen stützt sich massgeblich auf die Schuld, die Schwere der Tat, die Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose (Urteil 6B_1272/2023 vom 30. Oktober 2024 E. 5.8.1). Bei der Abwägung ist zu beachten, dass bei Delikten von besonderer Schwere bereits ein relativ geringes Rückfallrisiko genügen kann, um ein überwiegendes öffentliches Interesse zu bejahen.

    • Anwendung durch die Vorinstanz: Die Vorinstanz betonte die besondere Schwere der Taten des Beschwerdeführers (versuchte schwere Körperverletzung, Angriff), die sie in der Nähe einer versuchten eventualvorsätzlichen Tötung ansiedelte. Strafschärfend wurde die grosse Hemmungslosigkeit des Beschwerdeführers gewertet, der ohne Anlass und Motiv handgreiflich wurde und nur auf polizeiliche Intervention hin abliess. Es sei nur dem Zufall zu verdanken, dass das Opfer keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitt. Die Art und Weise der Deliktsbegehung (unnötiges Einmischen in einen Angriff, mehrfache Fusstritte gegen den wehrlosen am Boden liegenden Opfer) begründe ein nicht hinzunehmendes Rückfallrisiko, trotz Vorstrafenlosigkeit, Reue und Wohlverhalten seit der Tat. Die daraus resultierenden öffentlichen Interessen würden die als gering eingestuften privaten Interessen überwiegen.
    • Überprüfung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht bestätigte die Interessenabwägung der Vorinstanz. Es wies insbesondere darauf hin, dass die günstigere Prognose für die Gewährung des bedingten Strafvollzugs (Art. 42 Abs. 1 StGB) nicht mit der strengeren Prognose für die ausländerrechtliche Beurteilung der Landesverweisung gleichzusetzen ist. Im Ausländerrecht kann bei schweren Straftaten bereits ein geringes Rückfallrisiko für eine Landesverweisung genügen (BGE 140 I 145 E. 4.3). Die Vorinstanz habe nachvollziehbar dargelegt, weshalb sie von einem überwiegenden öffentlichen Interesse ausgeht, auch unter Berücksichtigung der intakten Resozialisierungschancen des Beschwerdeführers in Serbien und Spanien.
  4. Prüfung unter dem Freizügigkeitsabkommen (FZA): Da der Beschwerdeführer spanischer Staatsangehöriger ist, war zudem Art. 5 Abs. 1 Anhang I des FZA zu prüfen, wonach Rechte nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eingeschränkt werden dürfen. Die Landesverweisung ist primär eine sichernde strafrechtliche Massnahme. Ein geringes, aber tatsächlich vorhandenes Rückfallrisiko kann genügen, sofern dieses Risiko eine schwere Verletzung hoher Rechtsgüter betrifft (BGE 145 IV 364 E. 3.5.2).

    • Anwendung durch die Vorinstanz: Die Vorinstanz bejahte eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch die vom Beschwerdeführer begangenen, schwerwiegenden Straftaten. Angesichts der Schwere der Gefährdung genüge bereits ein geringfügiges Rückfallrisiko, was sie aufgrund ihrer früheren Ausführungen zur Interessenabwägung als gegeben erachtete.
    • Überprüfung durch das Bundesgericht: Die Rügen des Beschwerdeführers, die erneut auf den fehlenden direkten Vorsatz, die Provokation durch das Opfer, das kooperative Verhalten und die Reue abzielen, wurden als appellatorisch zurückgewiesen. Das Bundesgericht bestätigte, dass die Vorinstanz die konkrete Rückfallgefahr angesichts des Tatvorgehens trotz der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente nachvollziehbar begründet habe.

Entscheid des Bundesgerichts Das Bundesgericht wies die Beschwerde vollumfänglich ab, soweit darauf eingetreten werden konnte.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Tatbestandserfüllung: Die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung nach Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB (versuchte schwere Körperverletzung, Angriff) waren erfüllt.
  • Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Ein schwerer persönlicher Härtefall wurde verneint. Die achtjährige Aufenthaltsdauer in der Schweiz reichte zusammen mit dem Grad der Integration (gebrochenes Deutsch, bescheidene soziale Bindungen, obwohl beruflich gut integriert) nicht aus, um eine über eine gewöhnliche Integration hinausgehende intensive Verbindung zur Schweiz zu begründen. Die Reintegrationsmöglichkeiten in Serbien und Spanien wurden als intakt beurteilt.
  • Interessenabwägung und Rückfallrisiko: Die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung überwiegen die privaten Interessen des Beschwerdeführers. Die Schwere und Hemmungslosigkeit der Tat, die als nahe an einer versuchten eventualvorsätzlichen Tötung eingeschätzt wurde, begründen ein nicht hinzunehmendes Rückfallrisiko.
  • Prognoseunterschied: Die Bundesgericht verdeutlichte, dass die Prognose für die Gewährung des bedingten Strafvollzugs weniger streng ist als die für die ausländerrechtliche Landesverweisung. Bei schweren Straftaten kann im Ausländerrecht bereits ein geringes Rückfallrisiko genügen.
  • Freizügigkeitsabkommen (Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA): Die Landesverweisung ist auch unter dem FZA zulässig. Die schwerwiegende Verletzung hoher Rechtsgüter rechtfertigt die Einschränkung der Freizügigkeitsrechte, da eine hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit besteht.