Zusammenfassung von BGer-Urteil 5A_456/2024 vom 12. Juni 2025

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Im vorliegenden Urteil 5A_456/2024 vom 12. Juni 2025 hatte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Erbverzichtsvertrag nach schweizerischem Recht gemäss Art. 288 Abs. 1 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) paulianisch anfechtbar ist.

Parteien und Gegenstand

Die Beschwerdeführerin, die Stadt Chur, verfügte über Pfändungsverlustscheine im Umfang von CHF 43'091.50 gegen C._. C._ hatte mit seiner Mutter D._ einen Erbverzichtsvertrag abgeschlossen, worin er zugunsten seiner beiden Kinder, der Beschwerdegegner A._ und B._, auf sämtliche erbrechtlichen Ansprüche im Nachlass seiner Mutter verzichtete. Nach dem Tod von D._ erbten A._ und B._ unter anderem eine Liegenschaft in Chur. Die Stadt Chur klagte daraufhin gestützt auf die paulianische Anfechtung (Art. 288 SchKG) gegen A._ und B._, um die Liegenschaft zur Deckung ihrer Forderung verwerten zu lassen. Das Regionalgericht gab der Klage statt, das Kantonsgericht von Graubünden hob dieses Urteil jedoch auf und wies die Klage ab. Gegen den Entscheid des Kantonsgerichts reichte die Stadt Chur Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht ein.

Die zentrale Rechtsfrage

Der Rechtsstreit drehte sich primär um die Frage, ob ein Erbverzichtsvertrag eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne von Art. 288 Abs. 1 SchKG darstellt. Art. 288 Abs. 1 SchKG, die sogenannte Absichtsanfechtung, ermöglicht die Anfechtung von Rechtshandlungen, welche der Schuldner innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Pfändung oder Konkurseröffnung in der dem anderen Teil erkennbaren Absicht vorgenommen hat, seine Gläubiger zu benachteiligen oder einzelne Gläubiger zum Nachteil anderer zu begünstigen.

Argumentation der Vorinstanz (Kantonsgericht)

Das Kantonsgericht Graubünden hatte entschieden, dass der Schuldner (C.__) mit dem Erbverzichtsvertrag weder in rechtlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht über sein Vermögen verfüge. Er veräussere keine Aktiven, sondern verzichte lediglich auf eine unpfändbare Anwartschaft. Der Erbverzichtsvertrag führe nicht zu einer Veränderung des pfändbaren schuldnerischen Vermögens. Damit liege kein gemäss Art. 285 Abs. 1 SchKG verpönter Entzug von Vermögenswerten vor, und der unentgeltliche Erbverzicht sei daher keine im Sinn von Art. 288 SchKG anfechtbare Rechtshandlung. Obwohl die Gläubiger im konkreten Fall besser gestellt wären, wenn der Erbverzichtsvertrag nicht unterzeichnet worden wäre, richte sich die Anfechtungsklage lediglich gegen Handlungen, mit denen sich der Schuldner des ihm bereits zustehenden Haftungssubstrats entäussere.

Rügen der Beschwerdeführerin (Stadt Chur)

Die Stadt Chur rügte vor Bundesgericht, das Kantonsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass es sich beim Erbverzicht nicht um eine anfechtbare Rechtshandlung handle. Sie argumentierte, die Absichtsanfechtung sei ein Auffangtatbestand, der sämtliche Rechtshandlungen umfasse, die direkt oder indirekt zu einer Schädigung der Gläubiger führen könnten. Der Erbverzicht sei zweifellos eine Rechtshandlung, die das Haftungssubstrat von C.__ vermindert oder auf null reduziert habe, was zu einem Schaden der Stadt Chur geführt habe. Massgeblich sei nicht, ob eine Vermögensverminderung bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses eingetreten sei, sondern die erkennbare Schädigungsabsicht des Schuldners. Zudem gebe es keinen Grund, die Ausschlagung einer Erbschaft und den Erbverzicht zu Lebzeiten unterschiedlich zu behandeln.

Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht bestätigte die Auffassung des Kantonsgerichts und wies die Beschwerde der Stadt Chur ab. Seine Argumentation stützte sich massgeblich auf folgende Punkte:

  1. Voraussetzungen der paulianischen Anfechtung (Art. 288 SchKG): Das Bundesgericht hielt fest, dass die Absichtsanfechtung in objektiver Hinsicht eine Gläubigerschädigung durch eine Rechtshandlung des Schuldners innerhalb der Verdachtsfrist und in subjektiver Hinsicht die Schädigungsabsicht des Schuldners sowie deren Erkennbarkeit für den Dritten voraussetzt.

  2. Referenz zu BGE 138 III 497: Das Bundesgericht verwies auf seinen früheren Entscheid BGE 138 III 497, wo es bereits festgehalten hatte, dass ein Erbverzicht weder eine Schenkung noch eine unentgeltliche Verfügung im Sinne von Art. 286 SchKG ist. Die Frage der Anfechtbarkeit nach Art. 288 SchKG konnte damals offenbleiben, da die Erkennbarkeit der Schädigungsabsicht nicht bewiesen war. Der vorliegende Fall bot dem Bundesgericht nun die Gelegenheit, die Frage des objektiven Tatbestandsmerkmals der Absichtsanfechtung zu klären.

  3. Objektives Tatbestandsmerkmal der Gläubigerschädigung: Das Bundesgericht präzisierte, dass die paulianische Anfechtung darauf abzielt, Vermögenswerte der Zwangsvollstreckung zuzuführen, die ihr durch eine Rechtshandlung entzogen worden sind (Art. 285 Abs. 1 SchKG). Eine Gläubigerschädigung im Sinne der paulianischen Anfechtung setzt eine Beeinträchtigung von Exekutionsrechten der Gläubiger voraus. Solche Rechte bestehen aber nur am verwertbaren Vermögen des Schuldners, das ihm bereits zusteht (Exekutionssubstrat).

  4. Verzicht auf den Erwerb neuen Vermögens: Das Bundesgericht betonte, dass durch den Verzicht des Schuldners auf den Erwerb neuen Vermögens die Gläubiger nicht in ihren Exekutionsrechten beeinträchtigt werden. Aus dem Anfechtungsrecht lasse sich keine allgemeine Pflicht des Schuldners gegenüber dem Gläubiger ableiten, sein Vermögen künftig zu vermehren und das Exekutionssubstrat zu vergrössern. Am Vermögen, das der Schuldner zu erwerben unterlassen hat, haben die Gläubiger nie Exekutionsrechte gehabt. Folglich gehen sie keiner Exekutionsrechte verlustig, die durch eine Anfechtungsklage wieder hergestellt werden könnten. Rechtshandlungen, mit denen der Schuldner auf den Erwerb neuen Vermögens verzichtet, sind daher nicht nach den Art. 285 ff. SchKG anfechtbar.

  5. Anwendung auf den Erbverzichtsvertrag (Art. 495 ff. ZGB): Mit einem Erbverzichtsvertrag verzichtet der Erbe nicht auf ihm bereits zustehendes Vermögen, sondern lediglich auf eine Anwartschaft. Da der Erblasser bis zum Todeszeitpunkt frei über sein Vermögen verfügen kann, können sich die Hoffnungen der Gläubiger auf zukünftiges Vollstreckungssubstrat jederzeit zerschlagen. Anwartschaften oder Rechte mit ungewisser Entstehung und von ungewissem Umfang, wozu insbesondere auch die Erbanwartschaft gehört, sind gemäss ständiger Rechtsprechung unpfändbar. Sie gehören somit nicht zum verwertbaren Vermögen des Schuldners zum Zeitpunkt des Verzichts. Dementsprechend ist der Verzicht auf eine Erbanwartschaft keine gemäss Art. 288 SchKG anfechtbare Handlung. Das Bundesgericht zitierte in diesem Zusammenhang die herrschende Lehre (Kriesi, Hangartner, Steinauer, Abbet), obwohl es abweichende Meinungen (Grundmann, Wolf/Stoppelhaar) zur Kenntnis nahm.

  6. Abgrenzung zu anderen Rechtshandlungen: Das Bundesgericht wies die Argumentation der Beschwerdeführerin zurück, die einen Vergleich mit der Schenkung oder dem Verzicht auf eine Forderung gezogen hatte. Es stellte klar, dass sowohl die Schenkung als auch der Verzicht auf eine Forderung bereits dem Schuldner zustehendes, verwertbares Vermögen zum Gegenstand haben, im Gegensatz zu einer blossen Erbanwartschaft. Auch der Vergleich mit der Ausschlagung einer Erbschaft ging ins Leere, da der zitierte BGE 139 V 505 eine Ausschlagung im Kontext von Ergänzungsleistungen zum Gegenstand hatte und nicht die paulianische Anfechtung.

Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Zusammenfassend fehlte es bei dem Erbverzicht gemäss Art. 495 ff. ZGB an der im Rahmen des objektiven Tatbestands von Art. 288 Abs. 1 SchKG erforderlichen Beeinträchtigung von Exekutionsrechten der Gläubiger. Da die objektiven Voraussetzungen der Anfechtungsklage nicht erfüllt waren, erachtete das Bundesgericht die Entscheidung des Kantonsgerichts als bundesrechtskonform und musste auf die Vorbringen zur Gläubigerschädigung und zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen (Schädigungsabsicht und Erkennbarkeit) nicht mehr eingehen. Die Beschwerde wurde abgewiesen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Keine paulianische Anfechtung eines Erbverzichtsvertrags: Das Bundesgericht hat entschieden, dass ein Erbverzichtsvertrag gemäss Art. 495 ff. ZGB nicht paulianisch anfechtbar ist.
  • Fehlen des objektiven Tatbestandsmerkmals der Gläubigerschädigung: Die Anfechtungsklage scheitert, da es an einer Beeinträchtigung von Exekutionsrechten der Gläubiger fehlt.
  • Keine Beeinträchtigung bestehender Exekutionsrechte: Die paulianische Anfechtung schützt nur das bereits bestehende, verwertbare Vermögen des Schuldners (Exekutionssubstrat). Ein Erbverzicht betrifft jedoch lediglich den Verzicht auf eine zukünftige Erbanwartschaft.
  • Erbanwartschaften sind unpfändbar: Da eine Erbanwartschaft eine ungewisse und unpfändbare Rechtsposition darstellt, können Gläubiger an ihr keine Exekutionsrechte haben, die durch den Verzicht beeinträchtigt werden könnten. Der Verzicht auf den Erwerb neuen Vermögens vermindert nicht das aktuelle Haftungssubstrat des Schuldners.