Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_21/2025 vom 24. Juni 2025
1. Gegenstand und Parteien
Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts befasst sich mit der Frage des Vollzugs einer unbedingten Freiheitsstrafe in der besonderen Vollzugsform des Electronic Monitoring (EM) oder eventualiter der Halbgefangenschaft. Beschwerdeführer ist A.__, der von der Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 120 Tagen verurteilt wurde. Der Beschwerdeführer beantragte die Bewilligung des Vollzugs im Electronic Monitoring oder der Halbgefangenschaft, was ihm von den Bewährungs- und Vollzugsdiensten (BVD) des Kantons Bern, der Sicherheitsdirektion des Kantons Bern (SID) und zuletzt vom Obergericht des Kantons Bern verweigert wurde.
2. Sachverhaltliche Ausgangslage
A._ wurde mit Strafbefehl vom 28. Juni 2023 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 120 Tagen verurteilt. Dieser Strafbefehl erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Nachdem der Beschwerdeführer den Aufforderungen zum Strafantritt wiederholt nicht nachgekommen war (u.a. Nichtabholung von Einschreiben, verspätetes Erscheinen bei den BVD), wurde am 1. Dezember 2023 ein Verhaftsbefehl erlassen. Erst daraufhin, am 7. Dezember 2023, ersuchte A._ um Bewilligung des Electronic Monitoring. Sein Gesuch wurde von den BVD am 14. Mai 2024 abgewiesen, ebenso wie der Vollzug in Halbgefangenschaft verweigert wurde. Diese Verfügungen wurden durch die kantonalen Beschwerdeinstanzen (SID und Obergericht) bestätigt.
3. Rechtliche Problematik und Rügen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer rügte vor Bundesgericht im Wesentlichen drei Punkte:
1. Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV): Er machte geltend, nicht alle verfügungsrelevanten Aktenstücke erhalten zu haben.
2. Ungleiche und ungerechte Behandlung sowie willkürliche/unvollständige Sachverhaltsfeststellung: Er kritisierte, dass die Vorinstanz Dokumente der BVD berücksichtigt habe, die unter Verletzung seines Gehörs eingebracht worden seien, während seine eigenen, später eingereichten Dokumente zu Unrecht unberücksichtigt geblieben seien.
3. Verletzung von Bundesrecht (Art. 77b bzw. Art. 79b StGB): Er monierte die unrechtmässige Verweigerung des Strafvollzugs in Form des Electronic Monitoring bzw. der Halbgefangenschaft.
4. Detaillierte Erörterung der Bundesgerichtlichen Begründung
4.1. Zur Rüge der Gehörsverletzung (Akteneinsicht)
Das Bundesgericht prüfte zunächst die Rüge der Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV).
- Grundsatz des rechtlichen Gehörs und Akteneinsicht: Das Gericht wiederholte, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör ein formeller Natur ist und alle Befugnisse umfasst, die einer Partei zur effektiven Geltendmachung ihres Standpunkts zustehen. Dazu gehört insbesondere das Recht auf Einsicht in alle verfahrensrelevanten Akten (BGE 144 II 427 E. 3.1.1). Eine Verletzung dieses Anspruchs führt grundsätzlich zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids, unabhängig von den Erfolgsaussichten in der Sache.
- Heilung von Gehörsverletzungen: Das Bundesgericht betonte jedoch auch den Grundsatz der Heilung ("Heilung von Gehörsverletzungen"). Eine Gehörsverletzung kann als geheilt betrachtet werden, wenn sie nicht besonders schwer wiegt und die Partei, deren Recht verletzt wurde, die Möglichkeit erhält, sich vor einer Instanz zu äussern, die sowohl die Tat- als auch die Rechtsfragen uneingeschränkt überprüft (BGE 142 II 218 E. 2.8.1; Urteil 7B_358/2025 vom 28. Mai 2025 E. 3.2.3).
- Anwendung im vorliegenden Fall: Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass die BVD dem Beschwerdeführer anfänglich nicht alle verfügungsrelevanten Akten (insbesondere ein Schreiben vom 26. März 2024 und das Vollzugsverlaufsjournal nach dem 14. Mai 2024) zugestellt hatten. Die Heilung dieser Gehörsverletzung durch die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern (SID) wurde jedoch als nicht zu beanstanden erachtet. Der Beschwerdeführer hatte im verwaltungsinternen Beschwerdeverfahren bei der SID Einsicht in die strittigen Aktenstücke erhalten und sich in seinen Schlussbemerkungen vom 18. Juli 2024, d.h. vor Erlass des SID-Entscheids vom 5. August 2024, dazu äussern können. Da die SID über volle Kognition verfügte (Art. 66 VPRG/BE), konnte sie den Sachverhalt und die Rechtsfragen uneingeschränkt überprüfen.
- Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht schloss sich der Vorinstanz an. Es wies die Argumentation des Beschwerdeführers zurück, wonach die Heilung einer Gehörsverletzung bei einer Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht "von vornherein nicht denkbar" sei, und verwies auf seine gefestigte Rechtsprechung (Urteil 7B_1028/2023 vom 12. Januar 2024 E. 3). Da der Beschwerdeführer nicht bestritt, die Akten erhalten und sich dazu geäussert zu haben, und ihm kein Nachteil erwachsen sei, wurde die Gehörsverletzung als geheilt betrachtet.
4.2. Zur Rüge der ungleichen Behandlung und willkürlichen Sachverhaltsfeststellung
Der Beschwerdeführer beklagte weiter eine ungleiche Behandlung und eine willkürliche oder unvollständige Sachverhaltsfeststellung.
- Grundsatz der Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich) ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht und die Behebung des Mangels entscheidend ist (Art. 97 Abs. 1 BGG).
- Anwendung im vorliegenden Fall:
- Zeitpunkt der Sachverhaltsbeurteilung: Der Beschwerdeführer rügte, dass die Vorinstanz den Sachverhalt zum Entscheidzeitpunkt als massgebend erachtet habe. Das Bundesgericht sah hierin keinen Rechtsverstoss. Es sei zulässig, die unterlassene fristgerechte Einreichung von Unterlagen durch den Beschwerdeführer bei der Beurteilung seiner Zuverlässigkeit zu berücksichtigen.
- Berücksichtigung von Dokumenten: Der Beschwerdeführer monierte, dass die von ihm mit der Beschwerde vom 19. Juni 2024 eingereichten Beilagen (finanzielle Belange, Kinderbetreuung) unrechtmässig nicht berücksichtigt worden seien. Das Bundesgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer nicht dargelegt hatte, weshalb diese Dokumente bezüglich der zentralen Frage seiner Kooperationsbereitschaft entscheidrelevant gewesen wären. Die Vorinstanz hatte die besonderen Vollzugsformen gerade wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft verweigert. Eine Gehörsverletzung, weil Beweise nicht abgenommen wurden, war somit nicht ersichtlich.
4.3. Zur Verweigerung des Electronic Monitoring (EM) und der Halbgefangenschaft
Dies war der materiell entscheidende Punkt des Urteils.
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Rechtliche Grundlagen und Voraussetzungen:
- Halbgefangenschaft (Art. 77b StGB): Voraussetzungen sind u.a., dass nicht mit Flucht oder neuen Straftaten zu rechnen ist und der Verurteilte einer geregelten Arbeit/Ausbildung von mind. 20 Std./Woche nachgeht.
- Electronic Monitoring (Art. 79b StGB): Zusätzliche oder abweichende Voraussetzungen sind u.a., dass nicht mit Flucht oder neuen Straftaten zu rechnen ist, eine dauerhafte Unterkunft vorhanden ist, eine geregelte Arbeit/Ausbildung von mind. 20 Std./Woche besteht oder zugewiesen werden kann, Zustimmung der mitwohnenden erwachsenen Personen und Zustimmung zu einem Vollzugsplan.
- Kooperationsbereitschaft und Selbstdisziplin (ungeschriebenes Erfordernis): Das Bundesgericht hob hervor, dass von einer verurteilten Person, die eine privilegierte Vollzugsform beantragt, erwartet werden darf, dass sie die ihr zumutbaren Anstrengungen zum Nachweis der gesetzlichen Voraussetzungen erbringt und die für die Vollzugsform notwendige Selbstdisziplin und Kooperationsbereitschaft an den Tag legt bzw. eine gewisse Gewähr für die Einhaltung der Rahmenbedingungen bietet (Urteile 7B_873/2023 und 7B_1226/2024).
- Kostenbeteiligung (Art. 380 Abs. 2 lit. c StGB): Die verurteilte Person hat sich an den Vollzugskosten zu beteiligen, wofür die Vollzugsbehörden die finanziellen Verhältnisse prüfen müssen. Dies erfordert wiederum die Mitwirkung der gesuchstellenden Person.
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Würdigung des Prozessverhaltens und der Kooperationsbereitschaft des Beschwerdeführers durch die Vorinstanz:
- Die Vorinstanz legte detailliert dar, wie der Beschwerdeführer wiederholt mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigte:
- Nichtabholung von Aufgeboten zum Strafantritt.
- Verspätetes Erscheinen bei den BVD und anfängliche Weigerung, sich "einsperren zu lassen".
- Einreichung des EM-Gesuchs erst nach Androhung eines Verhaftsbefehls.
- Wiederholtes (mehrfaches) Versäumnis, die von der Vollzugsstelle-EM verlangten Unterlagen zu seinen privaten Ausgaben (für Budgeterstellung und Kostenerlassprüfung) fristgerecht einzureichen, trotz persönlicher und telefonischer Absprachen und einer ultimativen schriftlichen Aufforderung.
- Nichterreichbarkeit und fehlende Rückrufe.
- Die Vorinstanz folgerte, dass der Beschwerdeführer ausreichend Gelegenheit gehabt habe, seiner Mitwirkungspflicht nachzukommen, dies aber unterlassen habe. Dies habe die Prüfung der Kostenbeteiligung und die Abgabe einer Empfehlung an die BVD verunmöglicht.
- Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass das Verhalten des Beschwerdeführers Zweifel daran wecke, ob er willens und fähig sei, mit der Vollzugsbehörde zusammenzuarbeiten und deren Auflagen einzuhalten. Seine Nachlässigkeiten (Nichtabholung von Einschreiben, verspätete Reaktion) gäben Aufschluss über seine Gewissenhaftigkeit. Insgesamt fehle die erforderliche Eigenverantwortung und Zuverlässigkeit für beide privilegierten Vollzugsformen.
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Überprüfung durch das Bundesgericht:
- Das Bundesgericht bestätigte die eingehenden und überzeugenden Erwägungen der Vorinstanz. Es befand, dass der Beschwerdeführer sich mit diesen Argumenten nicht rechtsgenüglich auseinandergesetzt habe (Art. 42 Abs. 2 BGG), sondern sich darauf beschränkt habe, seine eigene Sicht der Dinge darzulegen. Solche appellatorischen Rügen seien unzulässig.
- Das Gericht bekräftigte, dass die Anforderung an die Kooperationsbereitschaft und Selbstdisziplin auch für die Halbgefangenschaft gelte, selbst wenn sie bei EM möglicherweise als "weniger hoch" angesehen werde (vgl. BGE 150 IV 277 E. 2.3.9). Die Feststellungen der Vorinstanz zur mangelnden Zuverlässigkeit des Beschwerdeführers seien nicht zu beanstanden.
- Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer in den kantonalen Verfahren mehrmals die Möglichkeit zur Bewährung durch Kooperation erhalten und diese nicht genutzt hatte, stützte die Schlussfolgerung, dass er nicht über die erforderliche Zuverlässigkeit verfüge.
5. Fazit und Wesentliche Punkte
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird.
Wesentliche Punkte des Urteils:
- Heilung von Gehörsverletzungen: Eine anfängliche Verletzung des Akteneinsichtsrechts durch die erstinstanzliche Behörde (BVD) kann geheilt werden, wenn die betroffene Partei im nachfolgenden Beschwerdeverfahren bei einer Instanz mit voller Kognition (hier: SID) vollständige Akteneinsicht erhält und die Möglichkeit zur umfassenden Stellungnahme vor dem Entscheid dieser Instanz wahrnehmen kann.
- Anforderungen an besondere Vollzugsformen (EM/Halbgefangenschaft): Über die expliziten gesetzlichen Voraussetzungen (wie Arbeitsplatz, Unterkunft, keine Fluchtgefahr) hinaus wird von der verurteilten Person eine hohe Eigenverantwortung, Selbstdisziplin und insbesondere eine ausgeprägte Kooperationsbereitschaft mit den Vollzugsbehörden verlangt.
- Bedeutung der Kooperationsbereitschaft: Das prozedurale Verhalten des Verurteilten, einschliesslich der Einhaltung von Fristen, der Bereitstellung angeforderter Unterlagen (z.B. für die Kostenbeteiligung) und der aktiven Kommunikation, ist entscheidend für die Beurteilung der Eignung für privilegierte Vollzugsformen. Eine wiederholte und hartnäckige mangelnde Kooperationsbereitschaft kann zur Verweigerung von Electronic Monitoring und Halbgefangenschaft führen, selbst wenn andere formale Voraussetzungen erfüllt scheinen.
- Beweislast und Begründungspflicht: Es obliegt dem Beschwerdeführer, substantiiert darzulegen, inwiefern die Feststellungen der Vorinstanz willkürlich sind oder eine Rechtsverletzung vorliegt. Appellatorische Kritik, die lediglich die eigene Sicht der Dinge darlegt, genügt nicht.