Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_696/2024 vom 24. Juni 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 7B_696/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 24. Juni 2025

1. Einleitung Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (II. Strafrechtliche Abteilung) befasst sich mit der Beschwerde von A.__ (geb. 2008) gegen einen Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich. Gegenstand der Beschwerde ist das Verbot der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer im Rahmen einer gegen ihn geführten Strafuntersuchung wegen versuchten Mordes. Das Bundesgericht hatte zu beurteilen, ob die von den Vorinstanzen angeordnete Beschränkung des Akteneinsichtsrechts des Beschwerdeführers – in Form eines Verbots der Aktenherausgabe – mit Bundesrecht vereinbar ist.

2. Sachverhalt und Gang des Verfahrens Gegen A._ führt die Jugendanwaltschaft Unterland eine Strafuntersuchung wegen versuchten Mordes und weiterer Delikte. Ihm wird vorgeworfen, am 2. März 2024 mit einem Messer auf ein jüdisch-orthodoxes Opfer eingestochen und dieses lebensgefährlich verletzt zu haben. Die Jugendanwaltschaft beantragte beim Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Dielsdorf nicht nur die Verlängerung der Untersuchungshaft, sondern auch, dass der amtlichen Verteidigung untersagt werde, die eingereichten Haftakten A._ und dessen gesetzlicher Vertretung in irgendwelcher Form (physisch, elektronisch etc.) zugänglich zu machen. Das Zwangsmassnahmengericht untersagte mit Verfügung vom 8. März 2024 der amtlichen Verteidigung einstweilen, A._ und seiner gesetzlichen Vertretung die Haftakten weiterzuleiten oder sonst wie zugänglich zu machen. Gleichzeitig verlängerte es die Untersuchungshaft. Gegen dieses Verbot der Aktenherausgabe erhob A._ Beschwerde an das Obergericht des Kantons Zürich, welches die Beschwerde mit Beschluss vom 22. Mai 2024 abwies. Daraufhin reichte A.__ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein.

3. Erwägungen des Bundesgerichts

3.1. Zulässigkeit der Beschwerde als selbständig anfechtbarer Zwischenentscheid (Art. 93 Abs. 1 BGG) Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde gegen den angefochtenen Entscheid als selbständig anfechtbaren Zwischenentscheid. Grundsätzlich setzt die Beschwerde gegen solche Zwischenentscheide voraus, dass sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Ein solcher Nachteil muss später nicht mehr durch einen Endentscheid behoben werden können. Die bundesgerichtliche Praxis handhabt die selbständige Anfechtbarkeit restriktiv.

Obwohl eine vorläufige Beschränkung der Akteneinsicht nach der ständigen Rechtsprechung grundsätzlich keinen nicht wieder gutzumachenden Rechtsnachteil bewirkt (da sie in der Regel noch bei der Anfechtung des Endentscheids gerügt werden kann), hat das Akteneinsichtsrecht im Strafprozess einen besonderen Stellenwert. Gemäss Art. 101 Abs. 1 StPO dürfen die Parteien die Akten spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der wichtigsten Beweise einsehen. Im vorliegenden Fall wurde die erste Einvernahme des Beschwerdeführers bereits durchgeführt, er ist geständig, und ein Bekennervideo liegt vor. Die wichtigsten Beweise erscheinen somit als erhoben, und die Voraussetzungen für die Akteneinsicht gemäss Art. 101 StPO sind grundsätzlich erfüllt. Angesichts dieser Umstände und der konkreten Tragweite der auferlegten Beschränkung (Verbot der Aktenherausgabe) erachtete das Bundesgericht den dem Beschwerdeführer drohenden nicht wieder gutzumachenden Rechtsnachteil als ausreichend erkennbar bzw. dargelegt. Der angefochtene Entscheid wurde daher als selbstständig anfechtbarer Zwischenentscheid eingestuft (unter Verweis auf Urteile 1B_474/2019 und 1B_439/2012).

3.2. Materielle Prüfung: Beschränkung des Akteneinsichtsrechts und Verhältnismässigkeit

3.2.1. Rechtlicher Rahmen des Akteneinsichtsrechts und seiner Beschränkungen Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK) und seines Akteneinsichtsrechts (Art. 107 Abs. 1 lit. a StPO), da seiner Verteidigung untersagt worden sei, ihm die Akten zugänglich zu machen. Das Bundesgericht hält fest, dass das Akteneinsichtsrecht nicht absolut ist. Art. 101 Abs. 1 StPO verweist explizit auf Art. 108 StPO, welcher Einschränkungen ermöglicht. Insbesondere kann die Akteneinsicht eingeschränkt werden, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), oder wenn dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist (Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO). Einschränkungen gegenüber Rechtsbeiständen sind nur zulässig, wenn der Beistand selbst Anlass zur Beschränkung gibt (Art. 108 Abs. 2 StPO). Bei der Anordnung von Einschränkungen steht den Strafbehörden ein gewisses Ermessen zu, das jedoch zurückhaltend und unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips auszuüben ist (BGE 146 IV 218 E. 3.1.2).

3.2.2. Begründung der Beschränkung im vorliegenden Fall Das Bundesgericht befand die von den kantonalen Behörden angeführten Gründe für das Verbot der Aktenherausgabe an den Beschwerdeführer persönlich als stichhaltig und unter Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO subsumierbar. Ziel der Massnahme ist die Gewährleistung der Sicherheit des Opfers bzw. dessen Familie, die Repressalien durch den Beschwerdeführer und sein Umfeld befürchten. Konkret soll verhindert werden, dass der Beschwerdeführer – der sich im IS-Umfeld bewegt bzw. bewegt hat – relevante Aktenstücke missbräuchlich in den Medien oder innerhalb seines IS-Netzwerkes verbreitet und zu Propagandazwecken verwendet. Dies sei im "digitalen Zeitalter" trotz der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer geschlossenen Einrichtung eine reale Gefahr. Die Persönlichkeitsrechte des Opfers und seiner Familie stellen berechtigte und überwiegende Geheimhaltungs- und Schutzinteressen dar. Das Bundesgericht liess offen, ob auch der Schutz des Beschwerdeführers selbst vor weiterer Radikalisierung das Verbot rechtfertigen könnte, befand aber die Einschätzung der Vorinstanz diesbezüglich als nachvollziehbar.

3.2.3. Verhältnismässigkeit der angeordneten Massnahme Die Beschränkung des Akteneinsichtsrechts erwies sich auch unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten als gerechtfertigt. Das Bundesgericht präzisierte die Tragweite des Verbots: Es betrifft das "Zugänglichmachen" der Akten, d.h., die physische, elektronische oder sonstige Herausgabe und damit das Überlassen von Kopien. Dem Beschwerdeführer ist es untersagt, Kopien der Akten zu besitzen (z.B. keine Abfotografierung, keine Scans). Wichtig ist jedoch, dass dem Beschwerdeführer die Einsicht und das Studium der Haftakten nach wie vor offenstehen. Das Verbot hindert ihn nicht daran, die Akten unter Aufsicht zu lesen und mit seinem Anwalt zu besprechen.

Das Bundesgericht anerkannte, dass die Verteidigungsarbeit durch das Verbot, dem Beschwerdeführer Kopien für das Selbststudium zu überlassen, aufwändiger und umständlicher wird. Dies sei jedoch unter den genannten Umständen erforderlich und hinzunehmen. In diesem Zusammenhang verwies das Gericht auf seine frühere Rechtsprechung: * Urteil 1B_439/2012 vom 8. November 2012: Das Bundesgericht erachtete es als verhältnismässig, einem Verteidiger nur Einsicht in einen Brief zu gewähren, ohne ihm das Recht einzuräumen, eine Fotokopie anzufertigen oder den Brief in die Kanzlei mitzunehmen. Die Kenntnisnahme des wesentlichen Inhalts sei dadurch gewährleistet gewesen. * Urteil 1B_445/2012 vom 8. November 2012: Ebenso wurde es als zulässig erachtet, dass nur dem Verteidiger Einsicht in die Video-Einvernahme eines kindlichen Opfers gewährt wurde und keine Kopien angefertigt werden durften.

Im vorliegenden Fall erachtete das Bundesgericht auch eine Schwärzung von Namen (Opfer, Familie) als ungeeignet, da die konkreten Tatumstände dennoch in einschlägigen Foren veröffentlicht und zu Propagandazwecken missbraucht werden könnten. Dem Risiko einer solchen Verbreitung könne nur begegnet werden, indem die Akten ausschliesslich dem Anwalt übergeben werden und dieser keine Kopien an den Mandanten oder dessen gesetzlichen Vertreter weitergibt.

3.3. Weitere Rügen des Beschwerdeführers

3.3.1. Verletzung der Begründungspflicht Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, da die Begründung des Zwangsmassnahmengerichts als zu kurz erachtet wurde. Das Bundesgericht bestätigte die Ansicht der Vorinstanz, dass die Begründungsanforderungen, obschon sehr kurz gehalten, "gerade noch" erfüllt gewesen seien, da eine sachgerechte Anfechtung möglich gewesen sei. Eine Verletzung der Begründungspflicht lag demnach nicht vor.

3.3.2. Zuständigkeit des Zwangsmassnahmengerichts Der Beschwerdeführer monierte, das Zwangsmassnahmengericht sei für den Entscheid über das Aktenherausgabeverbot nicht zuständig gewesen. Das Bundesgericht verneinte eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren. Es sei nicht zu beanstanden, dass das Zwangsmassnahmengericht unmittelbar über den Antrag auf Beschränkung der Herausgabe der Haftakten entschieden habe. Der Antrag betraf spezifisch die Haftakten und stand in engem Zusammenhang mit dem beim Zwangsmassnahmengericht hängigen Verfahren betreffend Haftverlängerung. Diese Vorgehensweise sei sachnah und verfahrensökonomisch.

3.3.3. Kostenverteilung Die Rüge des Beschwerdeführers betreffend die Auferlegung der Kosten des vorinstanzlichen Verfahrens wurde ebenfalls abgewiesen. Gemäss Art. 421 Abs. 2 StPO können Kostenfolgen in Zwischenentscheiden oder in Entscheiden über Rechtsmittel gegen Zwischenentscheide vorweggenommen werden. Der Beschwerdeführer zeigte keine bundesrechtswidrige Anwendung dieser Bestimmung auf.

4. Fazit und Entscheid Die Beschwerde erwies sich nach dem Gesagten als unbegründet und wurde abgewiesen. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren wurde gutgeheissen.

5. Zusammenfassende wesentliche Punkte

  • Kernentscheid: Das Bundesgericht bestätigt das Verbot der Aktenherausgabe an den jugendlichen Beschuldigten A.__ durch seine amtliche Verteidigung.
  • Abgrenzung "Akteneinsicht" und "Aktenherausgabe": Dem Beschuldigten bleibt das Recht zur Einsichtnahme und zum Studium der Akten (z.B. unter Aufsicht oder im Beisein des Anwalts) erhalten. Verboten ist lediglich die physische oder elektronische Übergabe von Kopien der Akten für das Selbststudium des Beschuldigten.
  • Rechtliche Grundlage der Beschränkung: Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 JStPO, aufgrund überwiegender Geheimhaltungs- und Schutzinteressen.
  • Begründung der Beschränkung: Die Massnahme dient dem Schutz des Opfers und seiner Familie vor Repressalien, da der radikalisierte Beschuldigte, der sich im IS-Umfeld bewegt, die Akten zu Propagandazwecken missbrauchen und verbreiten könnte.
  • Verhältnismässigkeit: Die Beschränkung ist geeignet, erforderlich und zumutbar. Eine bloss unvollständige Schwärzung von Akten wurde als unzureichend erachtet. Die Beeinträchtigung der Verteidigungsarbeit wird als hinnehmbar betrachtet.
  • Präzedenzfälle: Das Bundesgericht stützt sich auf frühere Urteile, die ähnliche Beschränkungen des Kopierrechts bei Akteneinsicht zum Schutz Dritter für zulässig befanden (Urteile 1B_439/2012 und 1B_445/2012).
  • Zulässigkeit der Beschwerde: Obwohl es sich um einen Zwischenentscheid handelt, wurde die Beschwerde als zulässig erachtet, da das Akteneinsichtsrecht im Strafprozess einen besonderen Stellenwert hat und ein nicht wieder gutzumachender Rechtsnachteil drohte, nachdem die Voraussetzungen für die Akteneinsicht grundsätzlich erfüllt waren (Art. 101 StPO).
  • Weitere Rügen: Die Rügen betreffend die Kürze der Begründung des Zwangsmassnahmengerichts, dessen Zuständigkeit und die Kostenverteilung wurden ebenfalls abgewiesen.