Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_569/2023 vom 24. Juni 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (9C_569/2023 vom 24. Juni 2025) detailliert zusammen.

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_569/2023

1. Einleitung

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (III. öffentlich-rechtliche Abteilung) befasst sich mit einem Fall aus dem Krankenversicherungsrecht, insbesondere mit der Frage der Rückforderung von zu Unrecht bezogenen Leistungen (Art. 56 Abs. 2 KVG) und dem Ausschluss eines Leistungserbringers von der Tätigkeit zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) gemäss Art. 59 KVG. Beschwerdeführer ist ein im Kanton U._ bzw. V._ tätiger Arzt, gegen den zahlreiche Krankenversicherer, vertreten durch santésuisse, Forderungen wegen Verletzung des Wirtschaftlichkeitsprinzips (Polypragmasie) geltend machten und seinen Ausschluss beantragten. Das kantonale Schiedsgericht für Versicherungsstreitigkeiten des Kantons Genf (Tribunal arbitral des assurances) hatte den Arzt zur Rückzahlung eines Betrags von CHF 569'602.55 verurteilt und einen zweijährigen Ausschluss von der Tätigkeit zulasten der OKP ausgesprochen. Das Bundesgericht hatte zu prüfen, ob dieser kantonale Entscheid Bundesrecht verletzt.

2. Sachverhalt und Vorinstanzlicher Entscheid

Der Beschwerdeführer, Dr. A._, ein Chirurg, war bereits in den Jahren 2000 bis 2003 wegen Verstössen gegen das Wirtschaftlichkeitsprinzip auffällig geworden. Im Jahr 2005 hatte er sich in einer Transaktion mit santésuisse zur Rückzahlung von CHF 381'800.00 verpflichtet. Seit Februar 2012 führt er eine eigene Arztpraxis in V._. Ab September 2013 kam es erneut zu Interventionen von santésuisse wegen mutmasslicher Verletzung des Wirtschaftlichkeitsprinzips. Die Forderungen für die Jahre 2012 bis 2017 wurden jedoch verwirkt, ohne dass es zu einem richterlichen Entscheid kam.

Ein besonders schwerwiegender Umstand ist die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers am 15. Oktober 2018 durch das Strafgericht W.__ wegen gewerbsmässigen schweren Betrugs und Urkundenfälschung. Diese Verurteilung erfolgte im Zusammenhang mit seiner Praxistätigkeit in den Jahren 2005 und 2006, bei der er durch falsche Rechnungen und Angaben fiktiver oder überhöhter Leistungen Versicherungsleistungen zu Unrecht bezogen hatte.

Für die Statistikjahre 2018 und 2019 reichten neunzehn bzw. siebzehn Krankenversicherer, vertreten durch santésuisse, Klagen beim Schiedsgericht ein. Sie forderten die Rückerstattung von zu Unrecht bezogenen Leistungen (berechnet auf der Grundlage unberechtigter Tarmed-Positionen sowie Regressions- und ANOVA-Indizes) in der Höhe von insgesamt CHF 569'602.55. Weiter beantragten sie den definitiven Ausschluss des Beschwerdeführers von jeder Tätigkeit zulasten der OKP.

Das kantonale Schiedsgericht verurteilte den Beschwerdeführer zur Rückzahlung des genannten Betrages und sprach einen zweijährigen Ausschluss von der Tätigkeit zulasten der OKP aus. Es stützte sich dabei auf die wiederholten Verstösse gegen das Wirtschaftlichkeitsprinzip, die unberechtigte Abrechnung von Tarmed-Positionen, die strafrechtliche Verurteilung sowie die mangelnde Einsicht und Kooperationsbereitschaft des Arztes.

3. Anfechtung und Rügen des Beschwerdeführers vor Bundesgericht

Der Beschwerdeführer focht das Urteil des Schiedsgerichts mit einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an. Er beantragte primär dessen Aufhebung, subsidiär die Aufhebung des Ausschlusses. Seine Hauptargumente waren:

  • Verletzung des rechtlichen Gehörs und der Waffengleichheit: Er rügte, keinen Zugang zu den detaillierten Statistiken und elektronischen Daten der Vergleichsgruppe erhalten zu haben, die santésuisse für die Berechnung der Unwirtschaftlichkeit herangezogen hatte.
  • Kein "Rückfall" gemäss Art. 59 Abs. 1 lit. d KVG: Der Beschwerdeführer argumentierte, der Begriff "Rückfall" setze eine vorangegangene formelle Sanktion (gerichtliches Urteil oder gerichtlicher Vergleich) voraus. Die Transaktion von 2005 sei lediglich eine aussergerichtliche Vereinbarung gewesen und könne nicht als "Sanktion" im Sinne von Art. 59 KVG gelten. Eine Auslegung analog zum Strafrecht sei geboten.
  • Verjährung/Verwirkung alter Sachverhalte: Die 2000-2003 angesiedelten Sachverhalte lägen über 20 Jahre zurück und dürften – analog zu Strafregistereinträgen – nicht mehr berücksichtigt werden.
  • Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips und der Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV): Der zweijährige Ausschluss sei angesichts seines Alters (geboren 1961) faktisch ein dauerhafter Ausschluss und somit unverhältnismässig.

4. Argumente der Beschwerdegegner

Die Beschwerdegegner (Krankenversicherer) entgegneten, dass das vom Gesetzgeber gewollte System auf aussergerichtliche Einigungen ausgerichtet sei. Würde man der Argumentation des Beschwerdeführers folgen, wären die Krankenversicherer gezwungen, künftig jede Transaktion abzulehnen, um nicht die Möglichkeit zu verlieren, später den Ausschluss eines Leistungserbringers wegen Polypragmasie zu beantragen. Dies würde den gesetzgeberischen Willen konterkarieren.

5. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde ein und prüfte die vorgebrachten Rügen im Lichte des anwendbaren Bundesrechts (Art. 59 KVG in der Fassung vom 1. Januar 2005 bis 31. März 2021).

5.1. Prozessuale Rügen (rechtliches Gehör, Waffengleichheit) Das Bundesgericht wies die prozessualen Rügen als unbegründet ab. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer weder die unökonomische Behandlungsweise für die Jahre 2018 und 2019 noch den Grundsatz seiner Rückerstattungspflicht (Art. 56 Abs. 2 KVG) noch die Höhe der Rückforderungsbeträge bestritten hatte. Da diese Punkte vom Beschwerdeführer nicht substantiiert angefochten wurden, konnten die prozeduralen Mängelbehauptungen, welche die Datengrundlage betrafen, keinen Einfluss auf den Bestand der Rückforderungspflicht haben und waren insofern irrelevant oder mangelhaft begründet. Auch der Vorwurf, die Vorinstanz habe neue Beweismittel berücksichtigt, wurde als unsubstantiiert und damit unbegründet abgewiesen.

5.2. Kernfrage: Auslegung des Begriffs "Rückfall" (Art. 59 Abs. 1 lit. d KVG) Dies war der zentrale rechtliche Streitpunkt. Das Bundesgericht wandte die gängigen Auslegungsmethoden an (literale, historische, teleologische und systematische Auslegung).

  • Historische Auslegung: Das Bundesgericht stellte fest, dass der Begriff "Rückfall" mit der Revision von Art. 59 KVG per 1. Januar 2005 neu eingeführt wurde und die frühere Formulierung "aus schwerwiegenden Gründen" (Art. 59 aKVG) ersetzte. Der Gesetzgeber wollte damit die Sanktionen gegen nicht konforme Leistungserbringer verschärfen, insbesondere indem er ein abgestuftes Sanktionssystem einführte (Verwarnung, Rückerstattung, Busse, temporärer oder definitiver Ausschluss bei Rückfall). Die Botschaft des Bundesrates betonte, dass der Ausschluss eine "ultima ratio" sei, aber auch, dass die kantonalen Schiedsgerichte zuvor oft von dieser Massnahme abgesehen hätten. Die Gesetzesänderung zielte darauf ab, den Gerichten eine grössere Marge für Sanktionen zu geben, um der "relativen Straflosigkeit der schwarzen Schafe" entgegenzuwirken. Die Einführung des Begriffs "Rückfall" diente nicht dazu, die Voraussetzungen für einen Ausschluss zu erschweren, sondern um zu verdeutlichen, dass dieser als letzte Massnahme bei wiederholten Verstössen dient.
  • Systematische und teleologische Auslegung: Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, die eine rein strafrechtliche Interpretation des Begriffs "Rückfall" verlangte, verneinte das Bundesgericht eine solche enge Auslegung. Ein "Rückfall" im Sinne von Art. 59 Abs. 1 lit. d KVG setze nicht zwingend ein vorangegangenes Verurteilungsurteil oder einen gerichtlichen Vergleich voraus. Es genüge vielmehr, dass der Leistungserbringer wiederholt gegen die Anforderungen an die Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen verstossen habe. Das Gesetz fordere weder ein Urteil noch eine Transaktion, welche die Anerkennung eines Falles von Polypragmasie und die Festlegung des Umfangs einer Rückforderung belegen.
  • Querverweis auf ähnliche Entscheide: Das Bundesgericht verwies auf seine eigene Rechtsprechung (u.a. BGE 9C_774/2020 vom 31. Januar 2022 und BGE 9C_776/2016 vom 20. April 2017). Diese Urteile hätten bereits berücksichtigt, dass für die Beurteilung einer Sanktion nach Art. 59 KVG nicht nur Jahre, für die ein Arzt zur Rückzahlung von Leistungen verurteilt wurde, herangezogen werden können, sondern auch Zeiträume, in denen eine erwiesenermassen unwirtschaftliche Praxis erfolgte, selbst wenn keine Rückforderungsklage erhoben wurde oder diese verwirkt war.
  • Sinn und Zweck des KVG: Das Bundesgericht unterstützte die Argumentation der Beschwerdegegner, wonach das KVG auf aussergerichtliche Einigungen abziele. Eine enge Auslegung des "Rückfall"-Begriffs würde Krankenversicherer dazu zwingen, stets auf gerichtlichen Entscheid zu klagen, anstatt Vergleiche zu schliessen, um sich die Option eines späteren Ausschlusses offenzuhalten. Dies würde dem System zuwiderlaufen.

5.3. Würdigung der Sachverhalte im vorliegenden Fall und Verhältnismässigkeit des Ausschlusses Das Bundesgericht bestätigte die Feststellungen der Vorinstanz, wonach die Voraussetzungen für einen Ausschluss gegeben waren:

  • Wiederholte Verstösse: Der Beschwerdeführer hatte bereits in den Jahren 2000-2003 gegen das Wirtschaftlichkeitsprinzip verstossen (Transaktion über CHF 381'800.00). Anschliessend, ab 2013, setzte er seine unwirtschaftliche Praxis fort, ignorierte wiederholte Warnungen von santésuisse, und seine Kosten und Indizes stiegen ab 2016 signifikant an.
  • Schwerwiegende Natur der Verstösse: Neben der Polypragmasie wurde der Beschwerdeführer strafrechtlich wegen schweren Betrugs und Urkundenfälschung im Zusammenhang mit seiner ärztlichen Tätigkeit verurteilt. Diese betrügerischen Handlungen stellten einen besonders schwerwiegenden Vertrauensbruch dar.
  • Fehlende Einsicht und Kooperation: Der Beschwerdeführer zeigte erst ab 2020 (im Jahr der Klageeinreichung für 2018) eine gewisse Korrekturbereitschaft, schien jedoch die Art der Vorwürfe nicht verstanden zu haben und verweigerte die Zusammenarbeit (z.B. Nichterscheinen zu einem von santésuisse vorgeschlagenen Gespräch).

Angesichts der Dauer und Schwere der Verfehlungen sowie des Verhaltens des Beschwerdeführers erachtete das Bundesgericht den zweijährigen Ausschluss von der Tätigkeit zulasten der OKP als verhältnismässig. Das Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und den Krankenversicherern sei unwiederbringlich zerstört. Auch unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) sei die Massnahme nicht unverhältmässig. Der temporäre Ausschluss hindere den Beschwerdeführer nicht daran, seine Tätigkeit als angestellter Arzt fortzusetzen, unabhängig von seinem Alter.

6. Fazit des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde, soweit sie zulässig war, ab. Der Beschwerdeführer trug die Gerichtskosten.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Kernproblem: Wiederholte Verletzung des Wirtschaftlichkeitsprinzips (Polypragmasie) und strafrechtlich relevante Delikte eines Arztes.
  • Rückforderung: Der Arzt wurde zur Rückzahlung von CHF 569'602.55 an die Krankenversicherer verurteilt, was vom Bundesgericht nicht materiell bestritten wurde.
  • Ausschluss (Schwerpunkt des Urteils):
    • Auslegung "Rückfall" (Art. 59 Abs. 1 lit. d KVG): Der Begriff bedeutet "wiederholtes" Fehlverhalten und erfordert kein vorangegangenes gerichtliches Urteil oder einen gerichtlichen Vergleich als "Sanktion". Auch aussergerichtliche Einigungen oder erwiesen unwirtschaftliche Praktiken, für die keine Rückforderungsklage erhoben wurde, sind relevant.
    • Massgebliche Faktoren für den Ausschluss: Langjährige Polypragmasie (auch frühere Transaktion von 2005), Missachtung von Warnungen, unberechtigte Tarmed-Abrechnungen, strafrechtliche Verurteilung wegen Betrugs und Urkundenfälschung (als schwerwiegender Vertrauensbruch), sowie mangelnde Einsicht und Kooperationsbereitschaft.
    • Verhältnismässigkeit: Der zweijährige Ausschluss ist angesichts der Schwere und Dauer der Verstösse sowie des Vertrauensverlusts verhältnismässig. Die Wirtschaftsfreiheit wird nicht verletzt, da der Arzt weiterhin als angestellter Arzt tätig sein kann.
  • Resultat: Die Beschwerde des Arztes wurde abgewiesen, das Urteil des kantonalen Schiedsgerichts bestätigt.