Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.
Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_1300/2023 vom 22. Mai 2025) befasst sich mit der Beschwerde eines italienischen Staatsangehörigen gegen die Anordnung einer Landesverweisung gemäss Art. 66a des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB).
I. Sachverhalt und Vorinstanzliche Entscheidungen
Der Beschwerdeführer A.__ ist italienischer Staatsangehöriger, geboren 1970 in der Schweiz, und besitzt eine Niederlassungsbewilligung C. Er verbrachte Teile seiner Kindheit in Italien, kehrte jedoch vor seinem 18. Geburtstag in die Schweiz zurück. Er ist ohne Schul- oder Berufsausbildung (abgesehen von einer Anlehre als Autospengler), arbeitslos, und lebt von einer IV-Rente sowie Ergänzungsleistungen. Er leidet unter Opiat-, leichter ADHS- und leichter Cannabisabhängigkeit und ist mehrfach vorbestraft.
Mit Entscheid vom 23. Dezember 2020 sprach das Kreisgericht Wil den Beschwerdeführer verschiedener Delikte schuldig, darunter Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG, Art. 19 Abs. 2 BetmG), versuchte Gewalt und Drohung gegen Behörden, Beschimpfung, Hinderung einer Amtshandlung, Diebstahl (Art. 139 StGB) und Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB). Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 25 Monaten verurteilt und zusätzlich eine vollzugsbegleitende ambulante Behandlung nach Art. 63 StGB sowie eine Landesverweisung für die Dauer von acht Jahren angeordnet.
Das Kantonsgericht St. Gallen bestätigte diesen Entscheid am 20. Dezember 2021. Eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde an das Bundesgericht (Urteil 6B_561/2022 vom 24. April 2023) führte zu einer teilweisen Gutheissung und Rückweisung der Sache an das Kantonsgericht. Das Bundesgericht hielt im Rückweisungsurteil einzig fest, dass die Vorinstanz zu Recht nicht von einer Landesverweisung aufgrund der Bürgerrechte der Mutter und Grossmutter des Beschwerdeführers absah, behandelte jedoch die weiteren Rügen zur Landesverweisung nicht. Nach erneuter Beurteilung wies das Kantonsgericht St. Gallen die Berufung des Beschwerdeführers am 30. August 2023 ab und bestätigte wiederum die Landesverweisung. Gegen diesen erneuten Entscheid richtet sich die vorliegende Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht.
II. Rechtsgrundlagen und Bundesgerichtliche Praxis
Die Anordnung einer Landesverweisung ist primärer Anfechtungspunkt der Beschwerde.
1. Obligatorische Landesverweisung (Art. 66a Abs. 1 StGB): Gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. d und o StGB ist die Landesverweisung für Ausländer obligatorisch, die wegen Diebstahls in Verbindung mit Hausfriedensbruch oder Widerhandlung gegen Art. 19 Abs. 2 oder Art. 20 Abs. 2 BetmG verurteilt wurden. Da der Beschwerdeführer wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das BetmG (Art. 19 Abs. 2 BetmG) sowie Diebstahl (Art. 139 StGB) in Verbindung mit Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB) verurteilt wurde, sind die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung grundsätzlich erfüllt.
2. Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer kumulativ (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind. Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV) und ist restriktiv anzuwenden.
3. Kriterien für den Härtefall und Interessenabwägung: Das Bundesgericht zieht zur Prüfung des Härtefalls den Kriterienkatalog des "schwerwiegenden persönlichen Härtefalls" in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) heran. Dazu gehören insbesondere: * Grad der Integration: Persönliche und wirtschaftliche Integration, Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Respektierung der Werte der Bundesverfassung, Sprachkompetenzen, Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung (vgl. Art. 58a AIG). * Familiäre Bindungen: In der Schweiz bzw. in der Heimat. * Aufenthaltsdauer: Bei in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Ausländern sind eine längere Aufenthaltsdauer und eine gute Integration (z.B. durch Schulbesuch) starke Indizien für ein gewichtiges Interesse am Verbleib. * Gesundheitszustand und Resozialisierungschancen.
Ein schwerer persönlicher Härtefall liegt vor, wenn ein Eingriff von einer gewissen Tragweite in das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens besteht.
4. Öffentliche Interessen an der Landesverweisung: Bei der Interessenabwägung ist massgebend auf die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose abzustellen.
5. EMRK-Konformität (Art. 8 Ziff. 2 EMRK): Art. 66a StGB ist EMRK-konform auszulegen. Die Interessenabwägung hat sich an der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK zu orientieren. Ein Eingriff muss gesetzlich vorgesehen sein, einem legitimen Zweck entsprechen (Schutz der nationalen/öffentlichen Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten) und verhältnismässig sein. Der EGMR berücksichtigt bei der Interessenabwägung insbesondere Art und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts, seit der Tat verstrichene Zeit, Verhalten des Betroffenen sowie den Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- und Heimatstaat.
6. "Zweijahresregel": Bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr bedarf es ausserordentlicher Umstände, damit das private Interesse des Betroffenen an einem Verbleib in der Schweiz das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung überwiegt. Dies gilt grundsätzlich selbst bei Ehe mit Schweizer Bürgern und gemeinsamen Kindern.
7. Schutz des Familienlebens (Art. 8 EMRK / Art. 13 BV): Der Schutzbereich von Art. 8 EMRK umfasst in erster Linie die Kernfamilie (Ehegatten mit minderjährigen Kindern). Andere familiäre Verhältnisse fallen nur darunter, wenn eine genügend nahe, echte und tatsächlich gelebte Beziehung besteht, die über übliche emotionale Bindungen hinausgeht (z.B. Zusammenleben, finanzielle Abhängigkeit, besondere Fürsorgepflichten).
III. Begründung des Bundesgerichts im vorliegenden Fall
1. Vorinstanzliche Interessenabwägung: Die Vorinstanz bejahte das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls für den Beschwerdeführer. Als gewichtige private Interessen wurden seine Geburt in der Schweiz, die lange Aufenthaltsdauer und die Anwesenheit seiner Mutter (engste Bezugsperson) in der Schweiz genannt. Er spreche sehr gut Deutsch und seine faktische Heimat sei die Schweiz. Demgegenüber wurden die öffentlichen Interessen als höher gewichtet. Seine berufliche und wirtschaftliche Situation sei schlecht (kein Abschluss, arbeitslos, IV/EL), eine berufliche Integration liege nicht vor. Ernsthafte berufliche Perspektiven seien nicht erkennbar. Die Vorinstanz schloss daraus, dass die Arbeits- und Ausbildungssituation kein wesentliches Interesse (mehr) am Verbleib in der Schweiz begründe. Hinsichtlich der Resozialisierungschancen wurde festgehalten, dass seine Chancen in Italien nicht wesentlich schlechter seien, auch wenn er dort keine eigentlichen familiären Beziehungen habe.
2. Öffentliche Interessen und Rückfallgefahr: Die Vorinstanz hob hervor, dass die Art und Schwere der begangenen Straftaten sowie die ausgefällte Freiheitsstrafe von 25 Monaten das öffentliche Interesse als hoch erscheinen liessen (unterstützt durch die "Zweijahresregel"). Die "aussergewöhnliche deliktische Vergangenheit" des Beschwerdeführers mit zahlreichen, überwiegend einschlägigen Vorstrafen (neun Vorstrafen von 2011 bis 2023), darunter mehrere Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr, spreche für eine hohe Rückfallgefahr. Die Taten hätten sich gegen verschiedene Rechtsgüter gerichtet, wobei Betäubungsmittel meist eine tragende Rolle spielten. Seine langjährige Drogensucht und die angeordnete ambulante Massnahme gemäss Art. 63 StGB würden ebenfalls die hohe Rückfallgefahr untermauern. Die Vorinstanz stützte sich dabei auf das psychiatrische Ergänzungsgutachten von Dr. med. B.__, welches eine geringe Wahrscheinlichkeit für langfristige Opiatabstinenz attestierte. Der Beschwerdeführer habe seine Unbelehrbarkeit mehrfach unterstrichen.
3. Prüfung der Beschwerdebegründung durch das Bundesgericht:
Anspruch auf Schutz des Familienlebens (Art. 8 EMRK): Der Beschwerdeführer rügte, nicht nur sein Privatleben, sondern auch sein Familienleben sei betroffen. Das Bundesgericht erachtete diesen Einwand als unbehelflich, da die Vorinstanz in ihrer umfassenden Interessenabwägung bereits die familiäre Situation des Beschwerdeführers miteinbezogen habe. Die Behauptung einer besonderen Abhängigkeit von der Mutter, die über übliche familiäre Beziehungen hinausgehe und eine Verlegung des Familienlebens an einen anderen Ort unzumutbar mache, wurde vom Beschwerdeführer nicht hinreichend begründet und erfüllte nicht die Begründungsanforderungen von Art. 42 Abs. 2 BGG. Die Vorinstanz hatte festgehalten, dass primär die Mutter den Beschwerdeführer betreue und keine faktische Abhängigkeit der Mutter vom Beschwerdeführer bestehe, und dass der Kontakt über Kommunikationsmittel und Besuche aufrechterhalten werden könne.
Gesundheitszustand und Suchtkrankheit: Der Beschwerdeführer monierte, sein Gesundheitszustand und seine Suchtkrankheit seien ungenügend gewichtet worden. Das Bundesgericht verwarf dies, da die Vorinstanz sich mit seiner gesundheitlichen Situation auseinandergesetzt und dabei das psychiatrische Gutachten berücksichtigt habe. Eine ungenügende Gewichtung wurde vom Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt.
Diskriminierungsverbot und Staatsbürgerschaft: Der Beschwerdeführer machte geltend, die Landesverweisung verstosse gegen das Diskriminierungsverbot, da eine intergenerationale Diskriminierung aufgrund seines familiären Hintergrunds und einer möglichen früheren Erlangung des Schweizer Bürgerrechts zu berücksichtigen sei. Das Bundesgericht bekräftigte seine ständige Rechtsprechung, wonach nur ein effektiv bestehendes Schweizer Bürgerrecht die Landesverweisung ausschliesst. Der Beschwerdeführer sei italienischer Staatsbürger und damit Ausländer im Sinne von Art. 66a Abs. 1 StGB. Die Frage, ob er in der Vergangenheit das Schweizer Bürgerrecht hätte beantragen oder erlangen können, sei nicht Prüfungsgegenstand im Verfahren zur Rechtmässigkeit einer Landesverweisung. Diese Vorbringen gingen daher an der Sache vorbei.
IV. Schlussfolgerung
Das Bundesgericht gelangte zum Ergebnis, dass die vorinstanzliche Interessenabwägung rechtskonform war. Obwohl ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht und gewichtige private Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz anerkannt wurden, überwiegen die hohen öffentlichen Interessen an der Landesverweisung. Diese sind insbesondere begründet durch die ausgesprochene Freiheitsstrafe von 25 Monaten (welche die "Zweijahresregel" greifen lässt) und die "aussergewöhnliche deliktische Vergangenheit" des Beschwerdeführers über fast 30 Jahre hinweg, seine multiple einschlägige Vorstrafen, die langjährige Drogensucht und die daraus resultierende hohe Rückfallgefahr, gestützt auf das psychiatrische Gutachten. Die Landesverweisung erweist sich somit als rechtskonform.
V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht bestätigte die obligatorische Landesverweisung eines italienischen Staatsangehörigen, der seit fast 30 Jahren in der Schweiz delinquiert und eine Freiheitsstrafe von 25 Monaten erhalten hatte. Obwohl das Gericht einen schweren persönlichen Härtefall (geboren in der Schweiz, lange Aufenthaltsdauer, Mutter in der Schweiz) anerkannte, befand es, dass die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung, insbesondere aufgrund der Schwere und Anzahl der Straftaten, der hohen Rückfallgefahr (gestützt auf Drogensucht und psychiatrisches Gutachten) und der damit verbundenen Gefährlichkeit für die öffentliche Sicherheit, deutlich überwiegen. Argumente bezüglich des Schutzes des Familienlebens und des Diskriminierungsverbots aufgrund einer möglichen früheren Bürgerrechtserlangung wurden als unbegründet oder nicht relevant für die Prüfung der Landesverweisung abgewiesen. Das Urteil betont die restriktive Anwendung der Härtefallklausel und die Bedeutung der öffentlichen Sicherheit.