Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts, Az. 5A_640/2024 vom 23. Mai 2025
1. Einführung und Verfahrensgegenstand
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts befasst sich mit einer Klage aus ungerechtfertigter Bereicherung (Art. 62 OR), die im summarischen Verfahren des Rechtsschutzes in klaren Fällen (Art. 257 ZPO) eingeleitet wurde. Streitgegenstand ist die Rückforderung von Unterhaltsbeiträgen, die der Kläger (Ex-Ehemann) der Beklagten (Ex-Ehefrau) in höherer Höhe gezahlt hatte, als diese später durch definitive gerichtliche Entscheide festgesetzt wurden. Die Vorinstanzen, das Bezirksgericht und das Kantonsgericht Wallis, haben die Klage des Ex-Ehemannes gutgeheissen. Die Ex-Ehefrau rekurrierte daraufhin an das Bundesgericht.
2. Sachverhalt (massgebliche Punkte)
- Die Parteien heirateten 2002 und leben seit Januar 2017 getrennt.
- Mit gerichtlichem Entscheid vom 16. März 2018 wurde der Ehemann zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von CHF 3'566 an die Ehefrau ab Oktober 2017 verpflichtet (Schutzmassnahmen der ehelichen Gemeinschaft).
- Am 6. Juli 2020 wurde die Scheidung ausgesprochen, wobei der Unterhaltsbeitrag ab November 2021 auf CHF 1'645 pro Monat festgelegt wurde.
- Parallel dazu beantragte der Ehemann bereits am 3. Juli 2020 provisorische Massnahmen, um den Unterhaltsbeitrag ab Juni 2020 zu reduzieren.
- Am 9. Oktober 2020 liess die Ex-Ehefrau eine Betreibung über CHF 3'566 (Unterhalt für Oktober 2020 gemäss Entscheid vom März 2018) einleiten, worauf der Ex-Ehemann im Januar 2021 CHF 3'822.75 bezahlte.
- Mit Entscheid vom 18. März 2021 reduzierte die Bezirksrichterin den geschuldeten Unterhaltsbeitrag für die Zeit vom 1. Juni 2020 bis 31. Oktober 2021 definitiv auf CHF 1'570 pro Monat. Für die Zeit ab dem 1. November 2021 wurde der Unterhaltsbeitrag bei CHF 3'566 belassen (wurde später im Scheidungsurteil nochmals auf 1645.- festgelegt).
- Gegen diesen Entscheid vom 18. März 2021 reichte die Ex-Ehefrau am 1. April 2021 eine Berufung ein und beantragte die aufschiebende Wirkung.
- In einem Entscheid über die aufschiebende Wirkung vom 6. Mai 2021 stellte das Kantonsgericht fest, dass der Ehemann CHF 19'871.50 an die Ehefrau gezahlt habe. Dieser Betrag resultierte aus der Differenz zwischen den ursprünglich geschuldeten CHF 3'566 und den später im März 2021 reduzierten CHF 1'570 für die Periode von Juni 2020 bis März 2021 (10 Monate x CHF 1'987.15). Das Gericht hielt explizit fest, dass der Ehemann im Falle eines Obsiegens die Rückerstattung des zu viel Gezahlten verlangen könne.
- Am 12. Mai 2021 zahlte der Ex-Ehemann die erwähnten CHF 19'871.50 an die Ex-Ehefrau.
- Mit Urteil vom 14. Oktober 2021 wies das Kantonsgericht die Berufung der Ex-Ehefrau gegen den Entscheid vom 18. März 2021 ab. Damit wurde die Reduktion des Unterhaltsbeitrags auf CHF 1'570 für die Periode vom 1. Juni 2020 bis 31. Oktober 2021 definitiv.
- Daraufhin forderte der Ex-Ehemann die Rückzahlung der überzahlten Beträge.
- Am 8. September 2022 reichte der Ex-Ehemann die Klage auf ungerechtfertigte Bereicherung im Rechtsschutz in klaren Fällen ein. Die Bezirksrichterin verurteilte die Ex-Ehefrau zur Rückzahlung von CHF 19'871.50 (plus Zinsen ab 14. Oktober 2021) und CHF 1'996 (plus Zinsen ab 18. März 2021). Das Kantonsgericht bestätigte diesen Entscheid.
3. Zulässigkeit des Rechtsmittels an das Bundesgericht
Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit des Rechtsmittels. Da der Streitwert (CHF 19'871.50 + CHF 1'996 = CHF 21'867.50) die erforderliche Grenze von CHF 30'000 für die ordentliche Beschwerde in Zivilsachen (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG) nicht erreichte, stellte sich die Frage, ob eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorlag (Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG). Die Ex-Ehefrau argumentierte, es fehle an einer gefestigten Rechtsprechung zur Rückerstattung von Unterhaltsbeiträgen zwischen Ehegatten im klaren Fall und im Rahmen der ungerechtfertigten Bereicherung.
Das Bundesgericht wies dieses Argument zurück. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung liege nur vor, wenn eine prägnante Unsicherheit bestehe, die eine Klärung durch das Bundesgericht als oberste Rechtsinstanz zur Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung dringend erfordere. Diese Bedingung sei hier nicht erfüllt, da die gleiche Problematik eines Tages auch mit einem höheren Streitwert auftreten könnte. Folglich war nur die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 BGG) zulässig. Dies bedeutet, dass das Bundesgericht ausschliesslich Rügen wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte prüft und diese Rügen vom Beschwerdeführer ausdrücklich und detailliert begründet werden müssen (Rügeprinzip gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG).
4. Erwägungen des Bundesgerichts zur Sache
Das Bundesgericht prüfte die geltend gemachten Verfassungsverletzungen unter dem strengen Massstab der subsidiären Verfassungsbeschwerde.
4.1. Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV)
Die Ex-Ehefrau rügte eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs in zweierlei Hinsicht:
- Keine vorgängige Einholung von Stellungnahmen zur Auslegung des Entscheids vom 6. Mai 2021 und zur Substitution von Motiven hinsichtlich der Entreicherung: Das Bundesgericht wies diese Rüge zurück. Grundsätzlich muss ein Gericht die Parteien nicht zu den Rechtsgrundlagen befragen, auf die es sein Urteil stützen will (Grundsatz "iura novit curia"). Eine Ausnahme besteht nur, wenn das Gericht seine Entscheidung auf eine Rechtsnorm oder einen Rechtsgrund stützt, der im bisherigen Verfahren nicht zur Sprache kam und dessen Relevanz für keine der Parteien vernünftigerweise vorhersehbar war. Der Entscheid vom 6. Mai 2021 war Bestandteil der Akten, weshalb die Ex-Ehefrau dessen Prüfung erwarten durfte. Bezüglich der Entreicherung (Art. 64 OR) hatte die Ex-Ehefrau selbst geltend gemacht, sie habe die Gelder zur Deckung ihrer Lebensbedürfnisse verwendet. Daher war auch diesbezüglich keine vorgängige Befragung notwendig.
- Mangelnde Auseinandersetzung mit den Argumenten zur Anwendbarkeit des "klaren Falls": Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz die Argumente der Ex-Ehefrau bezüglich Art. 257 ZPO zusammengefasst und begründet hatte, warum die Voraussetzungen für den "klaren Fall" erfüllt seien. Eine umfassende Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Argument sei nicht erforderlich, solange die wesentlichen Gründe für den Entscheid ersichtlich sind. Die Rüge, die Vorinstanz habe nur "rechtliche Fragen mit verfahrensrechtlichen Überlegungen vermischt", laufe auf eine inhaltliche Kritik hinaus und stelle keine Verletzung der Motivierungspflicht dar.
4.2. Willkürliche Anwendung von Art. 257 Abs. 1 ZPO (Rechtsschutz in klaren Fällen)
Die Ex-Ehefrau machte geltend, die Anwendung des summarischen Verfahrens in klaren Fällen sei willkürlich erfolgt.
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Voraussetzungen des Art. 257 ZPO: Das Bundesgericht erinnerte an die kumulativen Voraussetzungen: Der Sachverhalt muss unbestritten oder sofort beweisbar sein (lit. a), und die Rechtslage muss klar sein (lit. b). Für die Sachverhaltsklarheit ist der "volle Beweis" erforderlich, nicht blosse Glaubhaftmachung. Ein klares Verfahren ist unzulässig, wenn der Beklagte substanziierte und schlüssige Einwendungen und Einreden vorbringt, die nicht sofort entkräftet werden können. Die Rechtslage ist klar, wenn die Anwendung der Norm sich aufgrund des Gesetzeswortlauts oder bewährter Lehre und Rechtsprechung von selbst aufdrängt. Keine Klarheit besteht in der Regel, wenn das Gericht einen Ermessensspielraum hat oder Billigkeit anwenden muss.
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Anwendung im konkreten Fall:
- Sachverhaltsklarheit (Art. 257 Abs. 1 lit. a ZPO): Die Ex-Ehefrau rügte, der Sachverhalt sei nicht klar gewesen, da die Vorinstanz selbst "lange Erklärungen" abgegeben und eine "Substitution von Motiven" vorgenommen habe. Das Bundesgericht hielt dem entgegen, dass der Ex-Ehemann die Zahlungen von CHF 19'871.50 (nach dem Entscheid vom 6. Mai 2021) und die weitere Zahlung von CHF 3'566 (für Oktober 2020) mit Belegen nachgewiesen hatte. Die definitive Reduktion der Unterhaltsbeiträge für die relevante Periode (Juni 2020 bis Oktober 2021) auf CHF 1'570 pro Monat durch den Entscheid vom 14. Oktober 2021 war ebenfalls aktenkundig. Die Tatsache, dass die Ex-Ehefrau die Beträge für ihren Lebensunterhalt verwendet hatte, stand der Klarheit der ursprünglichen Zahlung und der nachträglichen Reduktion nicht entgegen, sondern war eine Frage der Entreicherung (Art. 64 OR), die im Rahmen der materiellen Prüfung zu behandeln war. Das Gericht sah keine Willkür in der Annahme der Sachverhaltsklarheit.
- Rechtsklarheit (Art. 257 Abs. 1 lit. b ZPO): Die Ex-Ehefrau argumentierte, der Begriff der Bereicherung sei nicht gesetzlich definiert, Art. 62 ff. OR seien nicht generell auf das gesamte Zivilrecht anwendbar, und das Gericht habe einen Ermessensspielraum. Das Bundesgericht bekräftigte die Vorinstanz, dass die Rechtslage "limpid" (eindeutig) sei. Die Zahlungen seien aufgrund von gerichtlichen Anordnungen erfolgt, die nachträglich definitiv geändert wurden. Die Auslegung des Dispositivs des Entscheids vom 6. Mai 2021 im Lichte seiner unzweideutigen Motive sei nicht willkürlich. Die blosse Ergänzung der Begründung der ersten Instanz (sog. "Substitution von Motiven") mache die Rechtslage nicht unklar, zumal dies nicht das ursprüngliche Argumentationsmuster der Vorinstanz entwerten, sondern nur vervollständigen würde.
4.3. Willkürliche Anwendung von Art. 62 und 64 OR (Ungerechtfertigte Bereicherung und Entreicherung)
Die Ex-Ehefrau rügte schliesslich eine willkürliche Anwendung der Bestimmungen über die ungerechtfertigte Bereicherung.
- Die Argumente bezüglich Art. 62 OR wurden weitgehend bereits im Rahmen der Prüfung von Art. 257 Abs. 1 lit. b ZPO zurückgewiesen.
- Das Argument der Ex-Ehefrau, der Ex-Ehemann zahle ihr weiterhin Unterhaltsbeiträge, war irrelevant, da der Unterhaltsbetrag für die streitige Periode (Juni 2020 bis März 2021) durch den Entscheid vom 14. Oktober 2021 definitiv reduziert worden war. Die Rückforderung bezog sich spezifisch auf diese Überzahlungen.
- Die Argumentation der Ex-Ehefrau, die Elemente des Scheidungsurteils (welches noch nicht rechtskräftig war) seien zu berücksichtigen, wurde ebenfalls als irrelevant befunden.
- Die Erwägungen der Vorinstanz zur Entreicherung (Art. 64 OR), also zur Frage, ob die Ex-Ehefrau die Bereicherung (CHF 19'871.50 und CHF 1'996) noch innehatte, wurden als konform mit der Rechtsprechung und Lehre beurteilt und daher nicht als willkürlich eingestuft. Die Ex-Ehefrau konnte nicht nachweisen, dass die Vorinstanz von einer gefestigten Rechtsanwendung abgewichen wäre.
4.4. Weitere Verfassungsrügen (Art. 10 Abs. 2 und 12 BV)
Die Rügen der Ex-Ehefrau bezüglich einer Verletzung des Rechts auf Leben, persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und des Rechts auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) wurden als unzureichend begründet (Rügeprinzip) und zudem als nicht vorinstanzlich vorgebracht (mangelnde materiellrechtliche Ausschöpfung der Instanzen) verworfen.
4.5. Verzugszinsen
Die Ex-Ehefrau rügte, die Vorinstanz habe willkürlich angenommen, die Frage der Verzugszinsen sei unbestritten. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Ex-Ehefrau keine subsidiäre Rüge zu den Zinsen erhoben hatte, für den Fall, dass die Forderung selbst bestätigt würde. Es obliegt dem Gericht nicht, von Amtes wegen Fragen zu prüfen, die nicht gerügt wurden. Die Rüge wurde daher als unzulässig, bzw. unbegründet abgewiesen.
5. Fazit und Kernpunkte
Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Ex-Ehefrau ab.
Die wesentlichen Punkte sind:
- Zulässigkeit des Rechtsmittels: Aufgrund des zu geringen Streitwerts war nur die subsidiäre Verfassungsbeschwerde zulässig, wodurch das Bundesgericht ausschliesslich Verfassungsverletzungen unter einem strengen Rügeprinzip prüfte. Eine "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" lag nicht vor.
- Rechtsschutz in klaren Fällen (Art. 257 ZPO): Die Voraussetzungen für das summarische Verfahren in klaren Fällen wurden als erfüllt erachtet. Der Sachverhalt der Überzahlungen und deren nachträgliche definitive Reduktion waren klar und beweisbar. Die Rechtslage der ungerechtfertigten Bereicherung aufgrund nachträglich weggefallenen Rechtsgrunds war eindeutig.
- Ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62 OR) und Entreicherung (Art. 64 OR): Die Anwendung dieser Bestimmungen durch die Vorinstanz wurde nicht als willkürlich befunden. Die Überzahlungen basierten auf provisorischen Anordnungen, die später revidiert wurden, wodurch der Rechtsgrund für die Differenz nachträglich wegfiel. Die Begründung zur Entreicherung entsprach der geltenden Rechtslage.
- Keine Verletzung des rechtlichen Gehörs: Die Vorinstanz hat ihre Entscheidung ausreichend begründet und musste die Parteien nicht zu allen denkbaren rechtlichen Würdigungen vorgängig anhören.
- Unzulässigkeit neuer Rügen: Neue, nicht bereits vorinstanzlich vorgebrachte Verfassungsrügen wurden nicht berücksichtigt.
Das Urteil bestätigt, dass Klagen auf Rückforderung von Unterhaltsbeiträgen bei nachträglicher Reduktion durch definitive Gerichtsentscheide im Verfahren des Rechtsschutzes in klaren Fällen zulässig sein können, sofern die Sach- und Rechtslage klar ist.