Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_130/2022 vom 25. Juni 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (9C_130/2022 vom 25. Juni 2025) detailliert zusammen:

Einleitung und Gegenstand des Verfahrens

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts befasst sich mit einem Fall der Rückforderung von Vergütungen aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise, im Volksmund auch als "Überarztung" bekannt. Der Beschwerdeführer, Dr. med. A._, ein Facharzt für Allgemeine Innere Medizin mit Zusatzausbildungen in psychosomatischer und psychosozialer Medizin sowie in interventioneller Schmerztherapie, wurde vom Schiedsgericht in Sozialversicherungsstreitigkeiten des Kantons Bern zur Rückzahlung eines Betrags von Fr. 75'985.45 für das Statistikjahr 2017 verpflichtet. Diese Klage wurde von verschiedenen Krankenversicherern, vertreten durch santésuisse, eingereicht. Dr. A._ beantragte vor Bundesgericht die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Abweisung der Klage, eventuell die Rückweisung an die Vorinstanz zur Neubeurteilung.

Massgebende Rechtsgrundlagen und die "Screening-Methode"

Die Streitigkeit dreht sich um die Anwendung der Art. 32 Abs. 1 KVG (Wirtschaftlichkeitsgebot), Art. 56 Abs. 1 KVG (Pflicht zur Beschränkung auf das Notwendige) und Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG (Rückerstattung von zu Unrecht bezogenen Honoraren). Das Bundesgericht legt dar, dass Leistungen der OKP wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen (E. 5.1). Ein Leistungserbringer handelt unwirtschaftlich, wenn er im Vergleich zu seiner Referenzgruppe pro Patient erheblich mehr verrechnet, ohne dass dies durch die ärztliche Behandlungsfreiheit oder kostenwirksame Besonderheiten (Praxisbesonderheiten) gerechtfertigt ist (E. 5.2).

Seit dem Statistikjahr 2017 kommt die zwischen den Tarifpartnern (Leistungserbringern und Krankenversicherern) vereinbarte "Screening-Methode" zur Anwendung (Art. 56 Abs. 6 KVG). Diese Methode ist als zweistufiges Verfahren konzipiert: 1. Regressionsanalyse (Screening): Zunächst wird mittels einer Regressionsanalyse ein individueller Fallwert (Regressionsindex) ermittelt. Diese Analyse berücksichtigt patientenbezogene Morbiditätsindikatoren (Alter, Geschlecht, pharmazeutische Kostengruppen [PCG], Franchisen, Spital-/Pflegeheimaufenthalt im Vorjahr) sowie leistungserbringerbezogene Faktoren (Facharztgruppe, Standortkanton). Ziel ist es, verhaltensunabhängige, kostenrelevante Faktoren zu neutralisieren und so den Kosteneffekt einer potenziell unwirtschaftlichen Behandlung zu isolieren (E. 5.4.1). Auffällige Kosten sind dabei noch nicht mit unwirtschaftlicher Behandlungsweise gleichzusetzen; sie indizieren lediglich eine nähere Prüfung (E. 5.3). 2. Einzelfallprüfung: Zeigt der Regressionsbericht einen erhöhten Indexwert, so führen die Versicherer eine Einzelfallprüfung durch. In diesem Schritt wird die definitive Toleranzmarge festgelegt und Praxisbesonderheiten ermittelt, die sich auf die Kostenstruktur auswirken können. Der Leistungserbringer erhält die Möglichkeit, solche Besonderheiten objektiv und nachvollziehbar aufzuzeigen. Die Mitwirkungspflicht des Leistungserbringers ist dabei zentral (E. 5.5.1, 5.5.3).

Strittige Punkte und die detaillierte Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hebt hervor, dass das angefochtene Urteil des Schiedsgerichts und das zugrundeliegende Prüfverfahren noch nicht auf den Vorgaben der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung (insbesondere BGE 150 V 129 vom 12. Dezember 2023 sowie die teils amtl. zu publizierenden Urteile 9C_166/2022 vom 9. Dezember 2024 und 9C_199/2022 vom 29. April 2025) beruhen (E. 6.2). Dies ist der zentrale Grund für die Rückweisung.

  1. Relative Verwirkungsfrist (E. 4):

    • Der Beschwerdeführer rügte die Nichteinhaltung der einjährigen Verwirkungsfrist (Art. 25 Abs. 2 ATSG analog). Er argumentierte, das angegebene Datum der Datenaufbereitung (17. Juli 2018) sei willkürlich, da er bereits seit längerer Zeit "überwacht" worden sei und santésuisse die Daten früher hätte kennen müssen.
    • Das Bundesgericht wies diesen Einwand zurück. Massgeblich sei das Datum der Erstellung der Statistik. Es seien keine tatsächlichen Umstände ersichtlich, die eine willkürliche Feststellung der Vorinstanz oder eine frühere Kenntnisnahme der Klägerinnen nahelegen würden. Eine unwahre Angabe würde eine Falschbeurkundung darstellen, wovon ohne konkrete Hinweise nicht auszugehen sei.
  2. Homogenität des Vergleichskollektivs (E. 7.1):

    • Der Beschwerdeführer bemängelte, dass seine Zusatz-Ausbildungen in Psychosomatischer und Psychosozialer Medizin sowie in Interventioneller Schmerztherapie nicht bei der Zusammensetzung der Vergleichsgruppe berücksichtigt wurden, sondern lediglich sein Facharzttitel "Allgemeine Innere Medizin". Er forderte eine weitergehende Differenzierung.
    • Das Bundesgericht präzisierte unter Verweis auf die neue Rechtsprechung (Urteil 9C_199/2022 vom 29. April 2025), dass das massgebende Vergleichskollektiv grundsätzlich nach dem Facharzttitel gebildet wird. Die Individualisierung nach konkreten Praxiseigenschaften (Praxisschwerpunkte) soll nicht mehr vorrangig als Frage der Zusammensetzung der Vergleichsgruppe behandelt werden, sondern in erster Linie im Rahmen der Einzelfallprüfung berücksichtigt werden. Spezifische Merkmale wie die Führung einer Praxisapotheke (Selbstdispensation) bleiben jedoch relevant und müssen entweder über eine Korrektur des Referenzindexes oder als Praxisbesonderheit berücksichtigt werden (BGE 150 V 129 E. 6.5).
  3. Verwendung der PCG-Liste (E. 7.2):

    • Der Beschwerdeführer beanstandete die Verwendung einer veralteten PCG-Liste (24 Positionen statt 34).
    • Das Bundesgericht stellte fest, dass die 24-Positionen-Liste für das Jahr 2017 massgebend war. Sollten jedoch bestimmte, in der erweiterten Liste enthaltene PCG ein erheblich genaueres Bild der Morbidität vermitteln, so könnten die entsprechenden Daten im Rahmen der – zu ergänzenden – Einzelfallprüfung erhoben und ausgewertet werden (Urteil 9C_166/2022 vom 9. Dezember 2024 E. 8.2.3).
  4. Umfang der Toleranzmarge (E. 7.3):

    • Der Beschwerdeführer forderte eine fixe Toleranzmarge von 30 Indexpunkten.
    • Das Bundesgericht bekräftigte die bestehende Rechtsprechung, die eine Spanne von 20 bis 30 Indexpunkten vorsieht, deren konkretes Ausmass nach den individuellen Umständen im pflichtgemässen Ermessen der Krankenversicherer resp. des Schiedsgerichts festgelegt wird. Die methodische Umstellung auf das Screening-Modell reduziert nicht die Notwendigkeit, dem individuellen Praxisstil Rechnung zu tragen (BGE 150 V 129 E. 5.4; Urteil 9C_166/2022 E. 8.3.2).
  5. Fehlende Einzelfallprüfung und Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten (E. 8):

    • Der Beschwerdeführer rügte, die erforderliche Einzelfallprüfung sei unterblieben. Die Vorinstanz habe zu Unrecht angenommen, dass die Morbiditätsindikatoren der Regressionsanalyse (PCG) die Auswirkungen seiner Spezialisierungen (Psychosomatik, Schmerztherapie) bereits ausreichend abbildeten.
    • Das Bundesgericht gab dem Beschwerdeführer hier explizit Recht. Es stellte klar, dass die Erweiterung der Morbiditätsindikatoren im Screening-Verfahren eine nähere Betrachtung der Art und Verteilung kostenrelevanter Krankheitsbilder im Patientenkollektiv nicht überflüssig macht (BGE 150 V 129 E. 5.5.1, 5.5.3). Soweit die im Screening integrierten Variablen die Kostenwirksamkeit von Praxisschwerpunkten (wie psychosomatischer oder schmerzmedizinischer Spezialisierung) nicht neutralisieren, muss deren konkrete Auswirkung auf die Kostenstruktur der Patientenschaft im Rahmen der Einzelfallprüfung berücksichtigt werden (Urteile 9C_166/2022 E. 9.2.3 und 9C_199/2022 E. 9.2, 9.3.2.3). Der Leistungserbringer kann und muss solche Besonderheiten mit ihm verfügbaren Daten (z.B. Diagnosen) glaubhaft machen, und die Krankenversicherer sind zur Abklärung verpflichtet.
  6. Berechnung der Rückforderung (E. 9):

    • Der Beschwerdeführer beanstandete die Berechnung der Rückforderung. Die Vorinstanz hatte die Rückforderung lediglich auf der Grundlage der direkten Arztkosten berechnet, da ein spezifischer Index für die direkten Medikamentenkosten fehlte.
    • Das Bundesgericht erklärte die bisherige rechtliche Auseinandersetzung um die Berechnungsart für "obsolet" und legte die neue, verbindliche Berechnungsformel fest, wie sie im Urteil 9C_199/2022 vom 29. April 2025 zur Publikation vorgesehen ist. Ein Verstoss gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot liegt demnach vor, wenn der Gesamtkostenindex (direkte und veranlasste Kosten pro Patient, bereinigt um Toleranzmarge und Praxisbesonderheiten) über 100 liegt. Eine Rückforderung kommt in Frage, wenn dies zusätzlich auch hinsichtlich des (in gleicher Weise korrigierten) Indexes der direkten Kosten zutrifft. Das Rückforderungssubstrat beschränkt sich zwar auf die totalen direkten Kosten, die Berechnung der Rückerstattungsquote erfolgt aber auf der Grundlage des Gesamtkostenindexes.
    • Die Formel lautet: Rückforderungssumme = Totale direkte Kosten multipliziert mit dem Quotienten aus (bereinigtem Gesamtkostenindex minus 100) und dem (unbereinigten) Gesamtkostenindex. Das Bundesgericht geht davon aus, dass die notwendigen statistischen Grundlagen für diese Berechnung abgeleitet werden können.

Entscheid und Auswirkungen

Aufgrund der festgestellten Rechtsverletzungen durch die Vorinstanz, insbesondere weil deren Beurteilung nicht mit der zwischenzeitlich ergangenen, präzisierenden Bundesgerichtsrechtsprechung zur Anwendung der "Screening-Methode" übereinstimmt, hebt das Bundesgericht das Urteil des Schiedsgerichts auf und weist die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück (E. 10). Das Schiedsgericht muss den Parteien Gelegenheit geben, die Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäss der neuen bundesgerichtlichen Vorgaben zu vervollständigen (insbesondere eine vollständige Einzelfallprüfung durchzuführen und die Rückforderung nach der neu festgelegten Formel zu berechnen).

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat in diesem Urteil die detaillierte Anwendung der "Screening-Methode" zur Wirtschaftlichkeitskontrolle im KVG-Bereich weiter präzisiert. Es bekräftigt die zweistufige Prüfung (Regressionsanalyse gefolgt von Einzelfallprüfung) und die Notwendigkeit einer umfassenden Einzelfallprüfung zur Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten und der tatsächlichen Morbidität des Patientenkollektivs, die über die automatische Bereinigung der Regressionsanalyse hinausgeht. Die Toleranzmarge bleibt in einer Spanne von 20-30 Indexpunkten fallbezogen zu bestimmen. Das Gericht hat eine neue, verbindliche Berechnungsformel für die Rückforderungssumme etabliert, die zwar nur die direkten Kosten als Rückforderungssubstrat umfasst, die Rückerstattungsquote aber vom Gesamtkostenindex (direkte und veranlasste Kosten) ableitet. Die Sache wurde an die Vorinstanz zurückgewiesen, um die Prüfung gemäss dieser neuesten Rechtsprechung zu vervollständigen.