Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_613/2023 vom 4. Juli 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts, Az. 7B_613/2023 vom 4. Juli 2025

1. Rubrum und Verfahrensgegenstand Das Urteil betrifft eine Beschwerde in Strafsachen von A.__ gegen einen Entscheid der Chambre pénale de recours des Kantons Genf. Gegenstand des Verfahrens war ein Nichteintretensentscheid des Ministère public des Kantons Genf bezüglich einer potenziellen Fälschungsstraftat und die damit verbundene Konfiskation eines Führerausweises, der als Fälschung erachtet wurde.

2. Sachverhalt Der Beschwerdeführer A._, ein U._-Staatsangehöriger, beantragte am 5. Februar 2022 beim Office cantonal des véhicules (OCV) des Kantons Genf den Umtausch seines U._-Führerausweises gegen einen schweizerischen Ausweis. Das OCV leitete den U._-Führerausweis an die Brigade de police technique et scientifique (BPTS) der Genfer Kriminalpolizei weiter. Die BPTS kam in einem Bericht vom 19. September 2022 und einem weiteren Bericht vom 13. Februar 2023 zum Schluss, dass es sich bei dem Dokument um eine Fälschung handle. Ihre Methodik bestand im Wesentlichen darin, Form und Inhalt des fraglichen Ausweises mit Informationen und analogen Dokumenten zu vergleichen, die vom europäischen Grenz- und Küstenschutz (FRONTEX), insbesondere dem "FRONTEX-Handbuch", bereitgestellt werden. A.__ wurde am 3. Februar 2023 von der Polizei einvernommen und bestritt, dass sein Führerausweis eine Fälschung sei, und legte die Umstände dar, unter denen er ihn erhalten hatte.

Mit Verfügung vom 6. April 2023 trat das Genfer Ministère public nicht auf eine mögliche Straftat der Fälschung durch A._ ein. Es hielt jedoch fest, dass sein U._-Führerausweis eine Fälschung sei, und ordnete dessen Konfiskation an. Die Chambre pénale de recours des Kantons Genf wies mit Urteil vom 31. Juli 2023 die Beschwerde von A._ gegen diese Konfiskation ab. Daraufhin reichte A._ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Hauptantrag, sein Führerausweis sei ihm zurückzugeben.

3. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

3.1. Zulässigkeit der Beschwerde Die Beschwerde ist zulässig, da sie sich gegen einen Endentscheid in Strafsachen einer letzten kantonalen Instanz richtet und der Beschwerdeführer ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat (Art. 78 Abs. 1, 80 Abs. 1, 90, 81 Abs. 1 und 100 Abs. 1 des Bundesgerichtsgesetzes, BGG). Das Bundesgericht stellte klar, dass vorgängige Feststellungsbegehren, wie sie der Beschwerdeführer teilweise gestellt hatte (z.B. "Feststellung der Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes"), unzulässig sind (vgl. BGE 148 I 160 E. 1.6).

3.2. Zentrale Streitfrage: Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Akteneinsichtsrechts

3.2.1. Beanstandung des Beschwerdeführers Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines grundlegenden Rechts auf Akteneinsicht (Art. 101, 107 Abs. 1 lit. a der Strafprozessordnung, StPO). Er machte geltend, die Akten seien unvollständig, da sie nicht die wesentlichen Elemente enthielten, auf die sich die BPTS bei ihrer Schlussfolgerung, sein Führerausweis sei eine Fälschung, gestützt habe. Sein Antrag auf Zugang zu diesen Unterlagen sei zudem von der Vorinstanz zu Unrecht abgewiesen worden.

3.2.2. Grundlagen des Akteneinsichtsrechts bei Gutachten Das Bundesgericht erinnert an die Voraussetzungen für den Beizug von Sachverständigen. Gemäss Art. 182 StPO ziehen die Strafbehörden einen Sachverständigen bei, wenn sie nicht über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Feststellung oder Beurteilung eines Sachverhalts verfügen. Werden die Dienste einer Polizeieinheit mit spezifischen technischen Kenntnissen in Anspruch genommen, um eine Sachverhaltsfrage zu klären, gelten die Regeln für Sachverständigengutachten (BGE 150 IV 462 E. 3.5.3; 148 IV 22 E. 5.4).

Das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 und 32 Abs. 2 der Bundesverfassung, BV, sowie Art. 6 Abs. 3 lit. b der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) garantiert den Parteien, die Schlussfolgerungen eines Gutachtens überprüfen zu können. Dies setzt voraus, dass ihnen dieselben Informationen und Dokumente zur Verfügung stehen wie dem Sachverständigen (BGE 144 IV 302 E. 3.3.3). Diese Anforderung ergibt sich aus dem Recht auf Beweisteilhabe (vgl. dazu, betreffend das Recht auf Konfrontation: BGE 150 IV 345 E. 1.3.6.2) bzw. dem Grundsatz der Waffengleichheit (dazu: BGE 137 V 210 E. 2.1.2.1).

Damit die Akteneinsicht nützlich ist und der Beschuldigte seine Verteidigungsrechte wirksam wahrnehmen kann, müssen die Akten vollständig sein (BGE 151 IV 18 E. 4.4.4; 138 V 218 E. 8.1.2; 129 I 85 E. 4.1).

3.2.3. Schranken des Akteneinsichtsrechts Das Recht auf Akteneinsicht ist jedoch nicht absolut. Art. 101 Abs. 1 StPO verweist auf Art. 108 StPO, wonach Strafbehörden das Akteneinsichtsrecht einschränken können, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass eine Partei ihre Rechte missbraucht (Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO), oder wenn dies zur Gewährleistung der Sicherheit von Personen oder zum Schutz öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist (Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO). Solche Einschränkungen sind zeitlich oder auf bestimmte Verfahrenshandlungen zu begrenzen (Art. 108 Abs. 3 StPO). Solange der Grund für die Einschränkung besteht, dürfen die Behörden ihre Entscheide nur auf Akten stützen, zu denen eine Partei keinen Zugang hatte, wenn diese über deren wesentlichen Inhalt informiert wurde (Art. 108 Abs. 4 StPO).

3.2.4. Beurteilung der Vorinstanz Die Chambre pénale de recours hatte argumentiert, das Recht des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht sei gewahrt worden, da er die Akten habe einsehen können. Die fehlenden Auszüge aus der Datenbank seien ausschliesslich für die Behörde bestimmt. Dies sei nicht anders als bei der Nutzung des Zentralen Migrationsinformationssystems (SYMIC) oder des Automatischen Fingerabdruck-Identifikationssystems (AFIS). Der Polizeibericht habe zudem bestimmte Fotografien von authentischen U.__-Führerausweisen enthalten, wodurch der Beschwerdeführer in der Lage gewesen sei, sich wirksam zu verteidigen.

3.2.5. Kritik des Bundesgerichts an der vorinstanzlichen Argumentation Das Bundesgericht befand, die Argumentation der Vorinstanz basiere auf unzutreffenden Annahmen:

  • Fehlerhafte Qualifikation des Polizeiberichts: Der Polizeibericht vom 13. Februar 2023 hätte als Gutachten stricto sensu betrachtet werden müssen, da seine Erstellung besondere Kenntnisse erforderte. Folglich hatte der Beschwerdeführer grundsätzlich ein Recht auf Zugang zu den Informationen und Dokumenten, auf die sich die BPTS bei der Erstellung ihres Berichts stützte.
  • Unzureichende Informationsgrundlage: Die wenigen im Dokument enthaltenen Bilder reichten nicht aus, um dieses grundlegende Recht zu wahren, zumal der Vergleich mit den von FRONTEX bereitgestellten Modelldokumenten das Kernstück der Analyse des Sachverständigen bildete und somit eine entscheidende Rolle bei der Schlussfolgerung spielte, dass der Führerausweis des Beschwerdeführers eine Fälschung sei. Dies gilt insbesondere, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Partei im Strafverfahren ausdrücklich verlangt, Zugang zu allen Elementen zu erhalten, auf die sich der Sachverständige für seinen Bericht gestützt hat.
  • Irrelevanz des Zeitpunkts der Gutachtenerstellung: Es sei unerheblich, dass das Gutachten nicht auf Antrag der Strafbehörden erstellt wurde, jedenfalls dann nicht, wenn eine solche Beweismittelaufnahme bereits bei Bestehen eines Tatverdachts erfolgte, was die Anwendung der StPO zur Folge hat (vgl. BGE 143 IV 27 E. 2.5). Im vorliegenden Fall bestand bereits ein Tatverdacht zum Zeitpunkt der Erstellung des BPTS-Berichts vom 13. Februar 2023, da der Beschwerdeführer bereits am 3. Februar 2023 als beschuldigte Person von der Polizei einvernommen worden war. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht fand somit Anwendung.
  • Widerlegung des Geheimhaltungsarguments: Die Vorinstanz hatte die Einschränkung des Akteneinsichtsrechts mit dem Geheimnischarakter der Datenbank begründet. Das Bundesgericht hielt dem entgegen, dass der geheime Charakter bestimmter Datenbanken (wie SYMIC, AFIS, Strafregister/VOSTRA oder Personenstandsregister/Infostar) nicht verhindert, dass die von einer Strafbehörde in einem konkreten Verfahren verwendeten Auszüge aus diesen Datenbanken Teil der Akten sein müssen. Es sei nicht ersichtlich, warum Fotografien von authentischen U.__-Führerausweismodellen in einer FRONTEX-Datenbank einen höheren Schutz geniessen sollten als ein Strafregisterauszug oder sensible Videos (z.B. pädopornographische Videos oder Überwachungsaufnahmen). Das Bundesgericht verwies zudem auf die EU-Verordnung 2020/493 (FADO) Art. 4, welche verschiedene Zugangsebenen zur betroffenen Datenbank vorsieht, einschliesslich eines öffentlichen Zugangs zu pseudonymisierten Dokumenten und eines begrenzten Zugangs für private Unternehmen, ohne dass darin eine Norm enthalten wäre, die den Zugang einer beschuldigten Person zu den im Strafverfahren als Beweismittel verwendeten FADO-Daten ausschliesst.
  • Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips: Selbst unter der Annahme, dass die FADO-Daten geheim wären und eine solche Beschränkung übergeordnetem Recht (insbesondere Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) genügen würde, hätte eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers dem Verhältnismässigkeitsprinzip genügen müssen. So hätte die Chambre pénale de recours beispielsweise einen direkten Zugang zu den angeforderten Elementen ausschliesslich für die Verteidigerin des Beschwerdeführers gewähren oder eine Einsichtnahme nur in ihren Räumlichkeiten vorsehen können (vgl. z.B. im Fall von Siegelungen BGE 1B_635/2022 vom 15. Juni 2023 E. 3.3 und 3.4).
  • Unvollständigkeit der Akten beim Bundesgericht: Das Bundesgericht stellte zudem fest, dass die ihm übermittelten Akten die Elemente, auf die sich der Sachverständige zur Erstellung seines Berichts gestützt hatte, ebenfalls nicht enthielten. Die Vorinstanz hatte somit nicht nur das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers in unzulässiger Weise eingeschränkt, sondern sich selbst bei der Beurteilung ausschliesslich auf den BPTS-Bericht gestützt. Ein Strafdossier gilt als unvollständig, wenn eine Partei zu Recht ihr Recht auf Einsichtnahme in Dokumente geltend macht, die für einen Sachverständigen zur Erstellung seines Berichts wesentlich waren, und diese nicht in das Verfahrensdossier aufgenommen werden. Diese sind unerlässlich, damit die Strafbehörden die Stichhaltigkeit von Einwänden gegen die Methodik eines Sachverständigen auf Basis der Akten beurteilen können.

3.2.6. Fazit zur Rüge der Rechtsverletzung Aufgrund der dargelegten Ausführungen ist die Rüge des Beschwerdeführers, die Chambre pénale de recours habe sein rechtliches Gehör verletzt, zu Recht erfolgt.

3.3. Konsequenzen der Rechtsverletzung

3.3.1. Formeller Natur des Mangels Das rechtliche Gehör (Art. 29 BV) ist ein formeller Mangel, dessen Verletzung die Aufhebung des angefochtenen Entscheids nach sich zieht, unabhängig von den Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache (BGE 149 I 91 E. 3.2; 148 IV 22 E. 5.5.2; 144 IV 302 E. 3.1). Das Bundesgericht kann eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ausnahmsweise selbst heilen, wenn es über eine freie Prüfungsbefugnis verfügt, das heisst, wenn nur Rechtsfragen streitig bleiben und dem Justizsuchenden kein Nachteil entsteht (BGE 146 III 97 E. 3.5.2).

3.3.2. Ausschluss einer Heilung durch das Bundesgericht und Rückweisung Da sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers auf den Zugang zu Beweismitteln bezieht, ist eine Heilung dieses Mangels durch das Bundesgericht ausgeschlossen. Daher ist die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zwingend, ohne dass die weiteren vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen geprüft werden müssen.

Es ist nicht notwendig, die Sache direkt an das Ministère public zurückzuweisen, da die Chambre pénale de recours über die notwendigen Untersuchungsbefugnisse verfügt, um die Akten zu vervollständigen und den Parteien die Möglichkeit zu geben, sich zu den so gewonnenen Elementen zu äussern. Eine direkte Untersuchung durch die höhere Instanz erscheint angemessen, wenn zwar unerlässliche, aber klar identifizierte Beweismittel fehlen, wie dies im vorliegenden Fall zutrifft (Art. 389 Abs. 2 lit. b StPO).

4. Schlussfolgerung des Bundesgerichts Die Beschwerde wird, soweit zulässig, gutgeheissen. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Chambre pénale de recours des Kantons Genf zurückgewiesen. Die Vorinstanz hat das Dossier zu vervollständigen und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zur Stellungnahme zu den neu gewonnenen Elementen zu geben. Anschliessend hat sie neu über die Sache sowie über die Kosten und Entschädigungen des kantonalen Verfahrens zu entscheiden. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. Dem Beschwerdeführer wird eine Parteientschädigung zugesprochen, die direkt seiner Anwältin auszubezahlen ist.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Kernproblem: Das Bundesgericht hebt das Urteil des Genfer Berufungsgerichts wegen Verletzung des Akteneinsichtsrechts und des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers auf.
  • Qualifikation als Gutachten: Der Polizeibericht, der den Führerausweis als Fälschung einstufte, wird vom Bundesgericht als Sachverständigengutachten im Sinne der StPO (Art. 182 StPO) qualifiziert, da er spezifische technische Kenntnisse erforderte.
  • Recht auf Akteneinsicht bei Gutachten: Die Parteien haben das Recht, Zugang zu allen Informationen und Dokumenten zu erhalten, die einem Sachverständigen zur Erstellung seines Gutachtens dienten, um die Schlussfolgerungen überprüfen und ihre Verteidigungsrechte ausüben zu können (Grundsatz der Waffengleichheit, Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK).
  • Ablehnung des Geheimhaltungsarguments: Das Argument der Vorinstanz, die zugrundeliegende Datenbank sei geheim und nur für Behörden zugänglich, wird zurückgewiesen. Das Bundesgericht verweist auf analoge Datenbanken (SYMIC, AFIS, VOSTRA) und die EU-FADO-Verordnung, die verschiedene Zugangslevel vorsehen und keine generelle Geheimhaltung gegenüber Beschuldigten im Strafverfahren begründen.
  • Verhältnismässigkeit: Selbst bei berechtigten Geheimhaltungsinteressen hätte das Akteneinsichtsrecht nicht vollständig verwehrt, sondern verhältnismässig eingeschränkt werden müssen (z.B. beschränkter Zugang nur für die Verteidigung oder in den Gerichtsräumlichkeiten).
  • Konsequenz: Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist ein schwerwiegender formeller Mangel, der zur Aufhebung des Urteils und zur Rückweisung an die Vorinstanz führt. Eine Heilung durch das Bundesgericht ist ausgeschlossen, da der Mangel den Zugang zu Beweismitteln betrifft.
  • Rückweisung an die Vorinstanz: Die Sache wird an die Chambre pénale de recours zurückgewiesen, da diese über die notwendigen Untersuchungsbefugnisse verfügt, um die Akten zu vervollständigen und dem Beschwerdeführer eine erneute Stellungnahme zu ermöglichen.