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Im vorliegenden Urteil 1C_102/2025 vom 7. Juli 2025 hatte sich das Schweizerische Bundesgericht mit einem Fall von Akteneinsicht in ein verwaltungsrechtliches Disziplinarverfahren zu befassen. Die Beschwerdeführerin, A.__, wehrte sich gegen die Verweigerung der Einsicht in die Akten eines Disziplinarverfahrens gegen eine Kollegin, welche sie zuvor wegen Mobbings gemeldet hatte.
1. Sachverhalt und Vorinstanzen
Die Beschwerdeführerin A.__, die als Sekretärin am Strafgericht des Kantons Tessin beschäftigt war, meldete sich als mutmassliches Opfer von Mobbing durch eine Kollegin. Nach einem Gespräch mit dem damaligen Präsidenten des Appellationsgerichts und der Kanzleileiterin wurden die Protokolle der Personalabteilung zur Prüfung einer Mobbing-Situation zugestellt. In der Folge wurde ein externer Sachverständiger beauftragt, der ein Gutachten erstellte. Am 25. September 2024 wurde formell ein Disziplinarverfahren gegen die gemeldete Kollegin eröffnet, das inzwischen mit administrativen Massnahmen abgeschlossen wurde.
Die Beschwerdeführerin verlangte mit Schreiben vom 3. und 10. Oktober 2024 über ihren Anwalt von der Verwaltungskommission des Appellationsgerichts Auskunft über den Stand des Disziplinarverfahrens und insbesondere Akteneinsicht in das Gutachten des Sachverständigen. Dieses Begehren wurde am 25. Oktober 2024 mit der Begründung abgewiesen, die Beschwerdeführerin habe keine Parteistellung im Disziplinarverfahren gegen die Kollegin.
Gegen diesen Entscheid erhob A.__ Rekurs bei der Rekurskommission für das Richteramt des Kantons Tessin (CrM), welche den Rekurs mit Entscheid vom 22. Januar 2025 abwies und die erstinstanzliche Verweigerung der Akteneinsicht im Wesentlichen bestätigte.
2. Verfahren vor dem Bundesgericht und Zulässigkeit
A.__ reichte gegen den Entscheid der CrM eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein. Sie beantragte die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Anordnung, ihr die Akten des Disziplinarverfahrens, insbesondere das Gutachten, zu übermitteln.
Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde. Diese wurde fristgerecht gegen einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid in einer öffentlich-rechtlichen Angelegenheit eingereicht (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 90, Art. 100 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hatte am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und war grundsätzlich zur Rüge der verweigerten Parteistellung bzw. des Aktenzugangs befugt (Art. 89 Abs. 1 BGG).
Ein besonderes Augenmerk legte das Bundesgericht auf den nachträglichen Einwand der Verwaltungskommission des Appellationsgerichts, die Beschwerdeführerin habe ihr praktisches und aktuelles Interesse an der Beschwerde verloren. Dies, weil ein weiterer, späterer Entscheid der CrM, der den Zugang zu den gegen die Kollegin getroffenen Massnahmen betraf, unangefochten in Rechtskraft erwachsen sei. Das Bundesgericht erklärte diesen ergänzenden Schriftsatz als verspätet und somit unzulässig. Selbst bei einer materiellen Prüfung wurde der Einwand zurückgewiesen: Die Inhalte der beiden Akteneinsichtsbegehren (das vorliegende betrifft die Ergebnisse der Disziplinaruntersuchung, das spätere die getroffenen Massnahmen) seien nicht vollständig identisch. Somit bleibe ein schutzwürdiges praktisches und aktuelles Interesse an der vorliegenden Beschwerde bestehen.
3. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht prüfte die Rügen der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung der strengen Begründungsanforderungen für Willkürrügen bei der Anwendung kantonalen Rechts (Art. 106 Abs. 2 BGG).
Verletzung von Art. 8 Abs. 2 lit. d der Kantonsverfassung Tessin (KV/TI): Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung des Rechts auf Schutz der Privatsphäre und Einsicht in sie betreffende Daten gemäss Art. 8 Abs. 2 lit. d KV/TI. Das Bundesgericht erachtete diese Rüge als unzulässig. Die Beschwerdeführerin legte weder die Tragweite der Bestimmung dar, noch begründete sie, weshalb diese verletzt worden sei. Insbesondere sei der Fall nicht auf den missbräuchlichen Umgang oder die Bearbeitung ihrer eigenen Personendaten bezogen, sondern auf die Ergebnisse einer Untersuchung, die eine andere Person betreffen. Daher sei ihr Recht auf Schutz der Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung in diesem Kontext nicht direkt einschlägig.
Verweigerung der Parteistellung im Disziplinarverfahren (Rüge der Willkür): Die Beschwerdeführerin argumentierte, die Vorinstanz habe ihr die Parteistellung im Disziplinarverfahren willkürlich verweigert. Sie sei nicht nur Anzeigerin, sondern auch "Opfer" des Mobbings und somit in ihren schutzwürdigen Interessen direkt betroffen. Die CrM hatte die Parteistellung unter Verweis auf Art. 32 und Art. 3 Abs. 2 des kantonalen Verwaltungsjustizgesetzes (LPAmm) abgelehnt, wonach der Anzeiger grundsätzlich keine Parteistellung hat und diese in Disziplinarverfahren nur der direkt betroffenen Person zukomme. Zudem fehle es der Beschwerdeführerin an einem schutzwürdigen Interesse im Sinne von Art. 65 Abs. 1 lit. c LPAmm, da sie von den Disziplinarmassnahmen gegen die Kollegin nicht direkt betroffen sei. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdeführerin lediglich ihre eigene Interpretation der kantonalen Bestimmungen darlege, ohne eine willkürliche Anwendung substanziiert zu rügen. Die grundsätzliche Verweigerung der Parteistellung für Anzeigende in Disziplinarverfahren stehe zudem im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung: Disziplinarverfahren dienen primär der Gewährleistung der korrekten Aufgabenerfüllung im öffentlichen Interesse und nicht dem Schutz individueller privater Interessen. Ein schutzwürdiges Interesse des Anzeigenden, welches zur Beschwerdebefugnis und Parteistellung führt, werde nur restriktiv anerkannt, insbesondere wenn die eigenen Interessen nicht auf andere Weise (z.B. Zivil- oder Strafverfahren) geschützt werden können. Da die Beschwerdeführerin ihre Interessen als mutmassliches Mobbing-Opfer in einem Zivil- oder Strafverfahren gegen die Kollegin verfolgen könnte und ihr Aktenzugangsbegehren primär dem Zweck diente, "eventuell auf anderen Fronten" (zivilrechtlich) zu agieren, verneinte das Bundesgericht das schutzwürdige Interesse für die Parteistellung im Disziplinarverfahren. Diese Rüge wurde somit abgewiesen.
Anspruch auf Akteneinsicht ohne Parteistellung (Der entscheidende Punkt): Obwohl die Parteistellung im Disziplinarverfahren verneint wurde, bejahte das Bundesgericht, dass die Beschwerdeführerin als mutmassliches Mobbing-Opfer einen Anspruch auf Akteneinsicht haben könnte. Es verwies auf seine Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 2 BV (Recht auf rechtliches Gehör), wonach das Recht auf Akteneinsicht auch ausserhalb eines hängigen Verfahrens geltend gemacht werden kann. Eine erweiterte Rechtschutzgewährung könne es rechtfertigen, dass Interessierte oder Dritte Zugang zu Akten eines abgeschlossenen Verfahrens erhalten. Dies setze jedoch voraus, dass die antragstellende Person ein besonderes schutzwürdiges Interesse glaubhaft mache. Dieses Interesse könne sich aus der Verletzung einer spezifischen individuellen Freiheit (z.B. der persönlichen Freiheit) oder einer besonderen Nähe zur Sache ergeben. Allerdings finde dieses Recht seine Grenzen, wenn überwiegende öffentliche Interessen oder berechtigte Interessen Dritter entgegenstehen. In solchen Fällen sei eine sorgfältige Abwägung der widerstreitenden Interessen erforderlich. Im vorliegenden Fall hatte die CrM jeglichen Aktenzugang einzig mit der Begründung verweigert, die Beschwerdeführerin habe keine Parteistellung. Dieses Vorgehen missachte die dargelegte Bundesgerichtspraxis. Da das Disziplinarverfahren gegen die Kollegin nach den verbindlichen Feststellungen der CrM bereits abgeschlossen war (Art. 105 Abs. 1 BGG), hätte die kantonale Behörde das Akteneinsichtsbegehren materiell prüfen und eine entsprechende Interessenabwägung vornehmen müssen. Die pauschale Ablehnung allein aufgrund der fehlenden Parteistellung verletzte somit das Recht der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör.
4. Entscheid und Rechtsfolgen
Gestützt auf die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht, welches auch für Dritte bei glaubhaftem schutzwürdigem Interesse in abgeschlossene Verfahren besteht, hiess das Bundesgericht die Beschwerde im Umfang ihrer Zulässigkeit gut. Der Entscheid der CrM vom 22. Januar 2025 wurde aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die CrM zurückgewiesen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte: