Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_278/2025 vom 4. Juni 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_278/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 4. Juni 2025

Parteien und Gegenstand: Der Beschwerdeführer, A.A.__, italienischer Staatsangehöriger, beantragte die Aufhebung eines Urteils des Kantonsgerichts Schwyz, das eine Landesverweisung für die Dauer von 10 Jahren bestätigte. Das Verfahren betraf die obligatorische Landesverweisung nach Art. 66a StGB in Verbindung mit Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG).

Sachverhalt (Relevante Feststellungen der Vorinstanz): Der Beschwerdeführer, geboren 1963 in Italien, zog 1978 in die Schweiz, wo er eine kaufmännische Lehre absolvierte und seither, abgesehen von kürzeren Perioden, erwerbstätig war. Zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils war er arbeitslos und wies Schulden von ca. Fr. 58'000.-- auf, bezog jedoch nie Sozialhilfe. Er ist geschieden und lebt allein. Er pflegt ein enges, wenngleich nicht von Betreuungs- oder Unterhaltspflichten begleitetes Verhältnis zu seiner Tochter und Enkelin in der Schweiz. Weitere familiäre oder soziale Bindungen in der Schweiz waren laut Vorinstanz gering (wenige "Kollegen", keine grossen Freundschaften, keine Vereinsmitgliedschaften, keine Teilnahme an kulturellen Anlässen). Er leidet an Schulterbeschwerden infolge eines Unfalls.

Strafrechtliche Vorgeschichte und aktuelle Delikte: Der Beschwerdeführer wurde wegen folgender Delikte verurteilt: * Strafbefehl vom 17. Januar 2014: Diverse Strassenverkehrsdelikte und mehrfache Übertretung des BetmG (Zeitraum 2011-2013). * Strafbefehl vom 19. Januar 2023: Betrug, versuchter Betrug, mehrfache Urkundenfälschung und unbefugte Benutzung eines Fahrzeugs (Zeitraum 2015 und 2021). * Aktuelle Verurteilung (Anlass der Landesverweisung): Das Strafgericht Schwyz verurteilte ihn am 8. September 2023 wegen Vergehens gegen das BetmG (unentgeltliche Abgabe von ca. 1g Kokaingemisch) und Verbrechens gegen das BetmG (Verkauf von 50g Kokaingemisch, netto 42.3g Kokain, für Fr. 3'750.-- an einen verdeckten Ermittler). Für die letztgenannte Tat (Art. 19 Abs. 1 lit. c BetmG i.V.m. Art. 19 Abs. 2 lit. a BetmG) wurde er zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten bedingt verurteilt. Des Weiteren wurde eine Landesverweisung von 10 Jahren angeordnet.

Rechtliche Grundlagen der Landesverweisung:

  1. Obligatorische Landesverweisung (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB): Für Ausländer, die unter anderem wegen einer Widerhandlung gegen Art. 19 Abs. 2 BetmG verurteilt wurden, ist die Landesverweisung obligatorisch. Da der Beschwerdeführer wegen eines Verbrechens gegen Art. 19 Abs. 2 BetmG verurteilt wurde, sind die Voraussetzungen hierfür grundsätzlich erfüllt.

  2. Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Das Gericht kann ausnahmsweise von der Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer kumulativ (1.) einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV) und ist restriktiv anzuwenden. Bei der Beurteilung eines Härtefalls werden namentlich folgende Kriterien (analog Art. 31 Abs. 1 VZAE, Art. 58a AIG) berücksichtigt:

    • Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration (Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Respektierung der BV-Werte, Sprachkompetenzen, Teilnahme am Wirtschaftsleben/Bildung).
    • Familiäre Bindungen in der Schweiz bzw. im Heimatland.
    • Aufenthaltsdauer.
    • Gesundheitszustand.
    • Resozialisierungschancen. Die besondere Situation von in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Ausländern ist zu berücksichtigen; eine lange Aufenthaltsdauer und gute Integration sind starke Indizien für ein gewichtiges Interesse am Verbleib.
  3. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV und Art. 8 EMRK): Ein schwerer persönlicher Härtefall wird angenommen, wenn ein Eingriff von einer gewissen Tragweite in dieses Recht vorliegt.

    • Privatleben (Art. 8 Abs. 1 EMRK): Geschützt sind besonders intensive soziale und berufliche Verbindungen zur Schweiz, die über eine gewöhnliche Integration hinausgehen. Eine schematische Annahme der Verwurzelung ab einer gewissen Aufenthaltsdauer ist nicht zulässig; es bedarf einer Einzelfallprüfung.
    • Familienleben (Art. 8 EMRK): Geschützt ist eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person, wenn ihr Familienleben nicht ohne weiteres andernorts gepflegt werden könnte. Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie (Ehegatten mit minderjährigen Kindern). Andere Verwandtschaftsverhältnisse (z.B. zu erwachsenen Kindern) fallen nur bei einem über die üblichen emotionalen Bindungen hinausgehenden, besonderen Abhängigkeitsverhältnis in den Schutzbereich.
  4. Interessenabwägung und FZA (Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA): Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, erfolgt eine Interessenabwägung nach Massgabe der "öffentlichen Interessen an der Landesverweisung". Hierbei sind die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tat, die Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose massgebend. Die Auslegung von Art. 66a StGB muss EMRK-konform sein. Für EU/EFTA-Bürger, die dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) unterstehen, dürfen Rechte nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eingeschränkt werden. Die Landesverweisung als sichernde strafrechtliche Massnahme erfordert eine Prognose des künftigen Wohlverhaltens. Ein geringes, aber tatsächlich vorhandenes Rückfallrisiko kann genügen, wenn es eine schwere Verletzung hoher Rechtsgüter betrifft.

Würdigung der Vorinstanz und deren Bestätigung durch das Bundesgericht:

Die Vorinstanz verneinte einen schweren persönlichen Härtefall und das Bundesgericht bestätigte diese Einschätzung als willkürfrei und bundesrechtskonform.

  1. Wirtschaftliche Integration:

    • Vorinstanz: Befand die wirtschaftliche Integration als "mangelhaft". Sie stellte fest, dass die Erklärungen des Beschwerdeführers für häufige Stellenwechsel (Insolvenz der Arbeitgeber, fehlende Lohnzahlungen) unbelegt und nicht glaubhaft seien, da er trotz fehlender Lohneinnahmen weder Sozialhilfe bezogen noch Lohnansprüche gerichtlich geltend gemacht habe. Auch die nachträgliche Behauptung, Kost und Logis erhalten zu haben, wurde als unwahrscheinlich betrachtet. Die Vorinstanz ging davon aus, dass der Drogenhandel aus rein finanziellen Motiven erfolgte. Zudem wurden die Schulden von ca. Fr. 58'000.-- und die nicht eingereichten Steuererklärungen als Beleg für eine mangelhafte wirtschaftliche Integration gewertet.
    • Bundesgericht: Wies die Rügen des Beschwerdeführers als "appellatorisch" (reine Gegenbehauptungen ohne Nachweis von Willkür) zurück. Es bestätigte, dass die Vorinstanz die Erklärungen des Beschwerdeführers nachvollziehbar als widersprüchlich und unglaubhaft beurteilen durfte. Auch die Berücksichtigung seines Arbeitswillens und der Aussicht auf eine neue Stelle änderten nichts an der Gesamtbeurteilung der mangelhaften Integration.
  2. Bindungen zum Heimatland Italien:

    • Vorinstanz: Widerlegte die Behauptung des Beschwerdeführers, seit über 20 Jahren nicht mehr in Italien gewesen zu sein. Es wurde festgestellt, dass er nach eigenen Angaben gelegentlich zum Einkaufen dorthin gefahren sei und beruflich Personen aus Italien in die Schweiz gebracht habe, was auf bestehende Kontakte hindeute. Zudem sei er bis zu seinem 15. Lebensjahr in Italien aufgewachsen, habe dort seine prägenden Jahre verbracht und spreche die Sprache. Seine Resozialisierungschancen in Italien wurden als "gut" beurteilt.
    • Bundesgericht: Bestätigte diese Feststellungen als schlüssig und nachvollziehbar. Die Behauptungen des Beschwerdeführers, sein Alter und mangelnde Berufserfahrung in Italien stünden dem entgegen, wurden als unbegründet abgewiesen.
  3. Familiäre und soziale Bindungen in der Schweiz:

    • Vorinstanz: Befand, dass der Beschwerdeführer trotz engem Kontakt zu seiner Tochter und Enkelin keine Kernfamilie im Sinne von Art. 8 EMRK in der Schweiz habe, da keine Betreuungs- oder Unterhaltspflichten bestünden. Seine übrigen sozialen Kontakte wurden als gering eingestuft. Es wurde ferner erwogen, dass er auch im Falle einer Landesverweisung den Kontakt zu seinen Angehörigen weiterhin pflegen könne. Der Schutzbereich von Art. 8 EMRK sei daher nicht tangiert.
    • Bundesgericht: Bestätigte diese Einschätzung. Es hielt fest, dass Tochter und Enkelin nicht zur Kernfamilie gehören und keine Abhängigkeit besteht, die Art. 8 EMRK auslösen würde.
  4. Persönliche Integration:

    • Vorinstanz: Beurteilte die persönliche Integration trotz der langen Aufenthaltsdauer (46 Jahre) als "unterdurchschnittlich". Sie begründete dies mit der Missachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Verurteilung im vorliegenden Fall sowie einschlägige Vorstrafen). Obwohl er Deutsch verständlich spreche, seien die Sprachkenntnisse nach 46 Jahren und kaufmännischer Lehre verbesserungswürdig. Fehlende Teilnahme an kulturellen oder Vereinsaktivitäten sowie mangelnde Freizeitaktivitäten wurden ebenfalls als Zeichen geringer Integration gewertet. Auch die gesundheitlichen Probleme des Beschwerdeführers wurden als in Italien behandelbar erachtet.
    • Bundesgericht: Akzeptierte diese Einschätzung. Es hielt fest, dass eine lange Aufenthaltsdauer allein nicht schematisch zu einem Härtefall führe (Verweis auf BGE 146 IV 105 E. 3.4.4 und Urteil 6B_402/2024).

Interessenabwägung (eventualiter): Obwohl die Vorinstanz bereits einen schweren Härtefall verneinte, nahm sie eventualiter eine Interessenabwägung vor. * Vorinstanz: Beurteilte das öffentliche Interesse an der Landesverweisung als überwiegt. Der qualifizierte Drogenhandel aus pekuniären Motiven manifestiere eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Gesundheit. Angesichts der teilweise einschlägigen Vorstrafen und der finanziellen Verhältnisse wurde ein beachtliches Risiko erneuter Delinquenz angenommen. Sie erwähnte zudem ein laufendes Strafverfahren wegen Vergehens gegen das Waffengesetz. * Bundesgericht: Bestätigte die Interessenabwägung. Es wies die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Darstellung seines Drogenhandels als "Einzelfall" oder Folge einer "Lebenskrise" als unzutreffend zurück, da die Vorinstanz willkürfrei von rein pekuniären Motiven ausging. Es sah entgegen dem Beschwerdeführer eine Steigerung des Delinquenzverhaltens. Hinsichtlich des erwähnten laufenden Strafverfahrens gab das Bundesgericht dem Beschwerdeführer zwar Recht, dass ein solches nicht berücksichtigt werden dürfe, solange kein rechtskräftiges Urteil vorliege. Es entnahm den vorinstanzlichen Erwägungen jedoch nicht, dass diesem Umstand ein massgebliches Gewicht beigemessen worden sei, und verneinte eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Die Schlussfolgerung der Vorinstanz, die privaten Interessen des Beschwerdeführers würden die öffentlichen Interessen nicht überwiegen, hielt stand. Eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA wurde ebenfalls verneint, da die Vorinstanz nachvollziehbar eine aktuelle und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung begründet hatte.

Fazit des Bundesgerichts: Die Rügen des Beschwerdeführers erwiesen sich als unbegründet. Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die obligatorische Landesverweisung eines italienischen Staatsangehörigen, der wegen qualifizierten Drogenhandels verurteilt wurde. Es verneinte das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls, da der Beschwerdeführer trotz langer Aufenthaltsdauer eine mangelhafte wirtschaftliche und persönliche Integration aufwies. Insbesondere wurden seine unklaren Einkommensverhältnisse, hohe Schulden, geringe soziale Bindungen in der Schweiz (abgesehen von der nicht zur Kernfamilie gehörenden Tochter und Enkelin) und die intakten Bindungen zu seinem Heimatland Italien gewürdigt. Das Gericht befand, dass die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung, insbesondere aufgrund der Schwere des Delikts und des angenommenen Rückfallrisikos, die privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwiegen. Eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK) oder des Freizügigkeitsabkommens (Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA) wurde verneint.