Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_74/2025 vom 24. Juni 2025

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Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) mit der Referenz 6B_74/2025 vom 24. Juni 2025 befasst sich mit der Beschwerde eines thailändischen Staatsangehörigen gegen eine angeordnete Landesverweisung. Das Gericht hebt das vorinstanzliche Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich bezüglich der Landesverweisung auf und weist die Sache zur Neubeurteilung zurück.

I. Sachverhalt und Vorinstanzen

Der Beschwerdeführer, A.__, ein thailändischer Staatsangehöriger, wurde vom Bezirksgericht Zürich am 24. Oktober 2023 wegen versuchter schwerer Körperverletzung (Art. 122 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB), versuchter einfacher Körperverletzung, geringfügiger Sachbeschädigung, versuchter Drohung, mehrfacher Tätlichkeiten und mehrfacher Beschimpfung verurteilt. Die Sanktion umfasste eine bedingte Freiheitsstrafe von 16 Monaten, eine Geldstrafe sowie eine Busse. Zentral für das Bundesgerichtsverfahren ist die zusätzlich angeordnete obligatorische Landesverweisung für die Dauer von 5 Jahren samt Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS).

Der Beschwerdeführer erhob Berufung beim Obergericht des Kantons Zürich, beschränkte diese jedoch auf den Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung, die Strafe, die Landesverweisung und die Zivilansprüche. Das Obergericht bestätigte mit Urteil vom 1. November 2024 den Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung sowie die Sanktion, inklusive der 5-jährigen Landesverweisung.

Gegen diese Landesverweisung richtet sich die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht.

II. Rechtliche Grundlagen und Argumentation des Bundesgerichts

1. Obligatorische Landesverweisung und Härtefallklausel Das Bundesgericht hält fest, dass die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB grundsätzlich erfüllt sind, da der Beschwerdeführer als Ausländer wegen versuchter schwerer Körperverletzung (Art. 122 StGB) verurteilt wurde. Dies löst eine Landesverweisung von 5 bis 15 Jahren aus.

Eine Ausnahme von der obligatorischen Landesverweisung ist nur im Falle eines schweren persönlichen Härtefalls gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB möglich. Kumulativ müssen dabei zwei Bedingungen erfüllt sein: * Die Landesverweisung bewirkt einen schweren persönlichen Härtefall für den Ausländer. * Die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung überwiegen die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht.

Das Bundesgericht betont, dass diese Härtefallklausel restriktiv anzuwenden ist und der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV) dient. Für die Prüfung des Härtefalls zieht die Rechtsprechung den Kriterienkatalog des "schwerwiegenden persönlichen Härtefalls" in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) heran. Relevante Kriterien sind insbesondere der Grad der persönlichen und wirtschaftlichen Integration (einschliesslich Beachtung der öffentlichen Sicherheit, Sprachkompetenzen, Teilnahme am Wirtschaftsleben), familiäre Bindungen in der Schweiz oder Heimat, Aufenthaltsdauer, Gesundheitszustand und Resozialisierungschancen (vgl. BGE 144 IV 332 E. 3.3.2). Ein schwerer persönlicher Härtefall liegt vor, wenn ein Eingriff von gewisser Tragweite in das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gegeben ist.

Wird ein schwerer persönlicher Härtefall bejaht, erfolgt eine Interessenabwägung. Dabei sind die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung, insbesondere die Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose, gegenüber den privaten Interessen abzuwägen. Diese Abwägung muss sich an der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK orientieren (vgl. BGE 145 IV 161 E. 3.4). Gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind dabei Art und Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit, das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit sowie der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- und Heimatstaat zu berücksichtigen (vgl. Urteile des EGMR E.V. gegen Schweiz vom 18. Mai 2021, Nr. 77220/16, § 34). Betreffend das Familienleben sind zudem die Staatsangehörigkeit der Familienmitglieder, die familiäre Situation (z.B. Dauer der Ehe), Kinder und allfällige Schwierigkeiten des Ehegatten im Heimatland zu beachten.

2. Prüfung der Integration des Beschwerdeführers und seiner persönlichen Verhältnisse Das Bundesgericht nimmt zunächst eine Würdigung der vom Obergericht festgestellten Integrationsfaktoren vor: * Herkunft und Bindung zur Heimat: Der Beschwerdeführer wurde 1986 in Thailand geboren, wuchs dort auf und reiste 2014 im Alter von 28 Jahren in die Schweiz ein. Er ist somit mit der Kultur und den Gepflogenheiten seiner Heimat vertraut. Sein Vater lebt in Thailand, auch wenn der Beschwerdeführer behauptet, keinen Kontakt zu ihm zu haben. Das Bundesgericht beurteilt eine Reintegration in Thailand angesichts seines Alters bei der Ausreise als möglich und zumutbar. * Integration in der Schweiz: Die Vorinstanz stellte unangefochten fest, dass der Beschwerdeführer in der Schweiz keine über eine normale Integration hinausgehenden besonders intensiven Beziehungen pflegt und hier keine Angehörigen hat. Seine sprachliche Integration wurde als eher schlecht beurteilt, da er auf einen Dolmetscher angewiesen war. * Berufliche Situation: Der Beschwerdeführer absolvierte in Thailand keine Berufsausbildung und war dort nicht erwerbstätig. In der Schweiz arbeitete er nur rund acht Monate als Bauarbeiter und ist derzeit als Hausmann tätig, wobei sein Partner Manager bei einem Bauunternehmen ist. Das Bundesgericht sieht hierin keine eigenständige berufliche Integration. Die Aussichten auf dem thailändischen Arbeitsmarkt seien nicht viel anders als in der Schweiz, und bessere wirtschaftliche Bedingungen in der Schweiz hinderten die Landesverweisung grundsätzlich nicht.

3. Mängel in der Sachverhaltsfeststellung bezüglich des Familienlebens (Rückweisungsgrund) Der Beschwerdeführer machte geltend, sein Partner könne ihn nicht nach Thailand begleiten, was zum Zerbrechen ihres Familienlebens führen würde. * Schutzbereich von Art. 8 EMRK: Das Bundesgericht anerkennt, dass die über 10-jährige, tatsächlich gelebte eingetragene Partnerschaft grundsätzlich in den Schutzbereich von Art. 8 Ziff. 1 EMRK fällt. Eine Landesverweisung würde zu einer physischen Trennung und damit zu einem schweren Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens führen, sofern eine Ausreise des Partners nicht ohne weiteres möglich bzw. zumutbar wäre. * Kritik an der vorinstanzlichen Begründung: Die Vorinstanz verneinte eine Verletzung von Art. 8 EMRK mit der Begründung, der Partner könne die Schweiz zusammen mit dem Beschwerdeführer verlassen, und der Beschwerdeführer habe nichts Gegenteiliges belegt. Das Bundesgericht rügt diese Begründung als unzureichend im Sinne von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG. * Fehlende Feststellungen: Die Vorinstanz hat es weitestgehend unterlassen, Feststellungen betreffend den Partner (bzw. das Familienleben) des Beschwerdeführers zu treffen. Es fehlen Angaben zur Staatsangehörigkeit, zum Alter, zu den Sprachkenntnissen sowie zur familiären, sozialen, beruflichen oder gesundheitlichen Situation des Partners. Es wurden auch keinerlei Verbindungen des Partners zu Thailand abgeklärt. * Unzulässige Schlussfolgerung der Vorinstanz: Ohne diese umfassenden Sachverhaltsfeststellungen darf die Vorinstanz nicht ohne Weiteres auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer gemeinsamen Ausreise erkennen (vgl. ähnliche Fälle, z.B. Urteil 6B_1245/2021 vom 8. Juni 2022 E. 2.4.9). Die Annahme, das Paar könnte sich in einem nicht näher bezeichneten Drittstaat niederlassen, ist eine reine Spekulation ohne Beleg eines tatsächlichen Einreise- und Aufenthaltsrechts (vgl. BGE 149 IV 231 E. 2.4). * Konsequenz: Das für die Beurteilung eines schweren persönlichen Härtefalls und der Interessenabwägung erforderliche Tatsachenfundament ist nur ungenügend festgestellt. Die Schlussfolgerung der Vorinstanz ist einer Überprüfung durch das Bundesgericht damit nicht zugänglich.

4. Entscheid des Bundesgerichts Aufgrund der mangelhaften Sachverhaltsfeststellung und Begründung der Vorinstanz (Verletzung von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG) wird die Sache in Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG an die Vorinstanz zur Neubeurteilung und umfassenden Abklärung aller relevanten Sachverhaltselemente zurückgewiesen. Das Bundesgericht präjudiziert den Ausgang des Verfahrens nicht. Andere, vom Beschwerdeführer vorgebrachte, unsubstantiierte prozessuale Rügen (z.B. ungenügende Übersetzung, unzureichende Untersuchung) wurden vom Bundesgericht als nicht genügend begründet erachtet und darauf nicht eingetreten.

III. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Materielle Grundlage: Der Beschwerdeführer wurde wegen versuchter schwerer Körperverletzung verurteilt, was grundsätzlich eine obligatorische Landesverweisung nach Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB auslöst.
  • Härtefallklausel: Eine Landesverweisung kann nur in Ausnahmefällen unterlassen werden, wenn ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt und die privaten Interessen des Ausländers die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung überwiegen (Art. 66a Abs. 2 StGB).
  • Integrationsprüfung: Die individuelle Integration des Beschwerdeführers (sprachlich, beruflich, soziale Bindungen) in der Schweiz wurde von den Vorinstanzen als eher schwach beurteilt, während seine Reintegration im Heimatland als zumutbar angesehen wurde.
  • Hauptkritikpunkt: Das Bundesgericht rügt die ungenügende Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz bezüglich der familiären Situation des Beschwerdeführers, insbesondere der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Ausreise seines langjährigen Lebenspartners. Ohne diese detaillierten Abklärungen kann nicht beurteilt werden, ob ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt und ob die Landesverweisung verhältnismässig ist.
  • Urteil: Das Bundesgericht hebt das vorinstanzliche Urteil betreffend die Landesverweisung auf und weist die Sache an das Obergericht des Kantons Zürich zurück, damit dieses die notwendigen Sachverhaltsabklärungen vornimmt und die Landesverweisung neu beurteilt.