Im Folgenden wird das Urteil 7B_768/2023 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 27. Juni 2025 detailliert zusammengefasst.
Einleitung
Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde in Strafsachen von A.__ gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau zu befinden. Der Beschwerdeführer wurde wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 Abs. 2 StGB) im Zusammenhang mit mangelhaften Elektroinstallationen verurteilt. Er beantragte seinen Freispruch.
Sachverhalt und vorinstanzliche Verfahren
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Hintergrund der Anklage:
A._ war Geschäftsführer der B._ AG, die Liegenschaften umbaute und weiterverkaufte. Im Frühjahr 2015 erwarb die B._ AG eine Liegenschaft in U._, deren Sanierung A._ leitete. Er vergab Aufträge, wählte Handwerker aus (u.a. D._ GmbH) und nahm Bauarbeiten ab. Bei Bauabnahmen durch die Gemeinde U._ im November 2015 und März 2016 wurden Mängel festgestellt. A._ unterzeichnete eine Checkliste und wurde im Abnahmeprotokoll als Vertreter der Bauherrschaft für die fachgerechte Ausführung verantwortlich erklärt. Nach Abschluss der Sanierung vermietete er den Tankstellenshop und drei Wohnungen. Im März 2016 verkaufte A._ die Liegenschaft an E._ und versicherte ihr Mängelfreiheit.
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Die Vorwürfe (Anklage):
Die Anklageschrift warf A.__ vor, im Rahmen des Umbaus fahrlässig die anerkannten Regeln der Baukunde missachtet zu haben, wodurch eine konkrete Gefahr für Leib und Leben entstanden sei.
- Elektroinstallationen (massgeblicher Punkt): Diese sollen von einem Laien, der von A._ beauftragt wurde, nicht fachgerecht ausgeführt worden sein. Konkret fehlte ein Potenzialausgleich, und freie Leiter-Enden bei Lampenstellen waren nicht isoliert. Dies hätte zu einem Stromschlag oder einem Brand führen können. Da die Mängel erst Ende 2018 bzw. Mitte 2019 behoben wurden, seien Mieter und Handwerker über längere Zeit konkret gefährdet worden. Die Anklage betonte, dass A._ es zugelassen habe, dass Personen ohne die nötige Fachausbildung die Arbeiten ausführten, obwohl er dies gewusst habe, und dass er es unterliess, die Ausführung zu kontrollieren und abzunehmen. Dies soll er bewusst in Kauf genommen haben.
- Weitere Vorwürfe (nicht massgebend für den Schuldspruch): Mängel an der Dachanlage (fehlende Absturzsicherungen) und einer Treppe (unterschiedliche Trittverhältnisse), die zu Absturzgefahren geführt hätten. Diese wurden jedoch nicht als erwiesen erachtet.
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Vorinstanzliche Urteile:
- Bezirksgericht Aarau (24. Februar 2022): Die Präsidentin eröffnete, dass der Sachverhalt auch unter dem Aspekt der fahrlässigen Tatbegehung geprüft werde. Das Gericht verurteilte A._ wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 Abs. 2 StGB) betreffend die Elektroinstallationen. Die anderen Vorwürfe wurden als nicht erstellt erachtet. A._ wurde zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je Fr. 70.-- verurteilt.
- Obergericht des Kantons Aargau (14. Februar 2023): Bestätigte die Verurteilung wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde bezüglich der Elektroinstallationen und die bedingte Geldstrafe. Es ergänzte das Dispositiv um die Freisprüche für die anderen Vorwürfe.
Rügen des Beschwerdeführers vor Bundesgericht
A.__ rügte im Wesentlichen:
1. Verletzung des Anklagegrundsatzes (Art. 9 StPO) und des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV):
* Die konkrete Gefahr sei in der Anklage nicht hinreichend beschrieben.
* Ihm werde nur ein Unterlassen vorgeworfen, er sei aber wegen eines Tuns verurteilt worden.
* Die Anklage beschreibe keine Garantenstellung.
* Das Obergericht habe sich mit diesen Vorbringen nicht auseinandergesetzt.
2. Fehlerhafte Beweiswürdigung und Sachverhaltsfeststellung sowie Verletzung der Instruktionsmaxime (Art. 6 Abs. 1 StPO):
* Er komme als Täter nicht infrage, da er nicht für die Abnahme der Elektroinstallationen verantwortlich gewesen sei.
* Es sei willkürlich, von einer konkreten Gefahr auszugehen.
Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
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Zum Anklagegrundsatz (Art. 9 StPO) und Rechtlichen Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV):
- Grundsätze: Das Bundesgericht erinnerte an die Umgrenzungs- und Informationsfunktion des Anklagegrundsatzes (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO, BGE 149 IV 128 E. 1.2). Die Anklage muss den Sachverhalt so präzise umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht konkretisiert sind und die Verteidigung ermöglicht wird. Eine Verurteilung wegen Unterlassung, wenn ein aktives Tun angeklagt ist, verletzt den Grundsatz (Urteil 6B_1262/2021 E. 3.1). Das Recht auf Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) erfordert eine Begründung des Entscheids, die die wesentlichen Überlegungen nennt (BGE 147 IV 409 E. 5.3.4).
- Anwendung auf den Fall:
- Konkrete Gefahr: Das Bundesgericht befand, die Anklage habe die konkrete Gefährdung ausreichend beschrieben. Es sei explizit von einer "konkreten" Gefahr die Rede gewesen, detailliert welche Mängel zu Stromschlägen, Stürzen oder Bränden führen könnten (fehlender Potenzialausgleich, freie Leiter-Enden, Brandspuren). Auch die gefährdeten Personen (Mieter) und der Zeitraum seien genannt worden. Die Frage, ob diese Gefahr tatsächlich bestand, sei eine der Beweiswürdigung, nicht der Anklageschrift (Art. 350 Abs. 1 und 2 StPO).
- Tun vs. Unterlassen: Die Anklage umschreibe kein blosses Unterlassen. Die Vorinstanz habe den Beschwerdeführer verurteilt, weil er mit der Ausführung der Elektroinstallationen H.__, eine nicht bewilligte Person, beauftragt hatte. Dies sei ein explizit in der Anklage umschriebenes, aktives Tun. Die Frage einer Garantenstellung stelle sich nur bei pflichtwidrigem Unterlassen, welches hier nicht der Verurteilung zugrunde lag.
- Gehörsrüge: Das Obergericht habe sich ausdrücklich mit den Vorbringen des Beschwerdeführers zum Anklageprinzip auseinandergesetzt und die Anklageschrift als vollumfänglich entsprechend erachtet. Die Begründung sei ausreichend.
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Zur Beweiswürdigung und Sachverhaltsfeststellung (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 1/2 BGG):
- Kognition des Bundesgerichts: Das Bundesgericht ist keine Berufungsinstanz für Sachverhaltsfragen. Es überprüft die Sachverhaltsfeststellung nur auf Willkür (d.h. offensichtliche Unrichtigkeit), wenn der Mangel für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann. Willkür liegt nur vor, wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist (BGE 148 IV 39 E. 2.3.5).
- Art. 229 Abs. 2 StGB – Fahrlässige Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde:
- Tathandlung: Nichtbeachtung anerkannter Regeln der Baukunde bei Leitung oder Ausführung eines Bauwerkes, sowohl durch aktives unsachgemässes Handeln als auch durch Unterlassen (Urteil 6B_1364/2019 E. 3.2.2).
- Fahrlässigkeit (Art. 12 Abs. 3 StGB): Pflichtwidrige Unvorsichtigkeit, d.h. Nichtbeachtung der nach den Umständen und persönlichen Verhältnissen gebotenen Sorgfalt. Voraussetzung ist die Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des Erfolgs. Die zum Erfolg führenden Abläufe müssen für den Täter in ihren wesentlichen Zügen voraussehbar sein (Adäquanz: BGE 142 IV 237 E. 1.5.2). Die Adäquanz wird verneint, wenn aussergewöhnliche Umstände (z.B. schweres Mitverschulden Dritter) die Ursachenkette unterbrechen (BGE 135 IV 56 E. 2.1).
- Verantwortungsbereich: Personen, die mit Leitung und Ausführung eines Bauwerks betraut sind, sind für die Einhaltung der Regeln der Baukunde in ihrem Bereich verantwortlich. Der Umfang bestimmt sich nach Gesetz, Vertrag, Funktion und konkreten Umständen (Urteil 6B_543/2012 E. 1.3.3). Die Bauleitung muss Personal sorgfältig auswählen, anleiten und überwachen (ROELLI, Basler Kommentar, N. 25 zu Art. 229 StGB).
- Niederspannungs-Installationsverordnung (NIV): Art. 3 Abs. 1 NIV verlangt, dass elektrische Installationen nach anerkannten Regeln der Technik erstellt werden müssen und weder Personen noch Sachen gefährden dürfen. Gemäss Art. 6 i.V.m. Art. 1 Abs. 4 NIV ist für solche Arbeiten eine Installationsbewilligung des Eidgenössischen Starkstrominspektorats (ESTI) erforderlich.
- Anwendung auf den Fall durch das Obergericht (Bestätigung durch Bundesgericht):
- Leitungsfunktion des Beschwerdeführers: Das Obergericht stellte fest, dass A._ als Geschäftsführer der Bauherrin (B._ AG) und der C.__ GmbH (zuständig für Subunternehmer) eine Leitungsfunktion innehatte, die für eine Strafbarkeit nach Art. 229 StGB ausreicht. Er kontrollierte und nahm Arbeiten ab.
- Sorgfaltspflichtverletzung: A._ wusste, dass für Elektroinstallationen eine Bewilligung notwendig war. Er beauftragte jedoch H._ (H._ GmbH), der keine solche Fachausbildung oder Bewilligung besass, mit dem Grossteil der Elektroarbeiten. Dies stellt einen Verstoss gegen Art. 3 und 6 NIV dar. Die erste Instanz hatte überzeugend dargelegt, dass H._ und nicht die fachkundige D.__ GmbH die Elektroinstallationen ausführte.
- Konkrete Gemeingefahr: Die Vorinstanz stützte sich auf einen Bericht der F._ GmbH (November 2018) über 76 Mängel (u.a. fehlender Schutz-/Haupt-Potenzialausgleich, lose Leitungen, fehlende Schalter) und einen Bericht der G._ AG (Dezember 2019) über die Behebung dieser Mängel. Entscheidend war das amtliche Gutachten der Electrosuisse, welches basierend auf diesen Berichten die Sanierung als nicht fachgerecht einstufte und die Mängel sowie die daraus resultierenden Gefahren bewertete. Die Electrosuisse führte nachvollziehbar aus, dass der fehlende Schutzpotenzialausgleich und unter Spannung stehende Lampendrähte zu einem Stromschlag mit Todesfolge oder schweren Verletzungen (durch Sturz) führen konnten. Da die Mängel von Anfang 2016 bis mindestens Januar 2019 bestanden, waren Mieter, deren Gäste und Handwerker konkret an Leib und Leben gefährdet.
- Zurückweisung der Rügen des Beschwerdeführers:
- Die Kritik des Beschwerdeführers an der Abgrenzung der Verantwortungsbereiche und der Rolle von D.__ wurde als rein appellatorisch beurteilt und nicht auf Willkür geprüft (Art. 106 Abs. 2 BGG). Eine allfällige Mitverantwortung D.__s ändere nichts an der Eigenverantwortung A.__s, da Art. 229 StGB oft mehrere Personen gleichzeitig trifft und eine Entlastung durch Hinweise auf die Untätigkeit Dritter nicht möglich ist, es sei denn, die Kausalität würde unterbrochen, was hier nicht der Fall war.
- Der Einwand, das Urteil enthalte keine Ausführungen zum Kausalzusammenhang, sei unbegründet, da die Vorinstanz die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs (Beauftragung Laie -> mangelhafte Installation -> Gefahr) explizit dargelegt hatte.
- Die Rüge, es sei willkürlich, von einer konkreten Gefahr auszugehen, wurde ebenfalls verworfen. Die Vorinstanz setzte sich mit der vom Beschwerdeführer angeführten E-Mail auseinander und relativierte deren Bedeutung. Die Schlussfolgerung zur konkreten Gefahr basierte primär auf dem amtlichen Gutachten der Electrosuisse, dessen Schlussfolgerungen der Beschwerdeführer nicht als willkürlich darlegen konnte.
Fazit des Bundesgerichts:
Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 Abs. 2 StGB) ist bundesrechtskonform.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung von A.__ wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 Abs. 2 StGB) im Zusammenhang mit mangelhaften Elektroinstallationen.
- Anklagegrundsatz: Die Anklageschrift erfüllte die Anforderungen, indem sie die konkrete Gefahr detailliert beschrieb und ein aktives Tun des Beschwerdeführers (Beauftragung eines Laien für Elektroinstallationen) anklagte, womit die Frage der Garantenstellung bei Unterlassungsdelikten irrelevant wurde.
- Sorgfaltspflichtverletzung: A._ als verantwortlicher Bauleiter verstieß fahrlässig gegen die Niederspannungs-Installationsverordnung (NIV), indem er eine Person ohne erforderliche Bewilligung und Fachkenntnisse (H._) mit den Elektroinstallationen beauftragte.
- Konkrete Gefahr: Die durch das amtliche Gutachten der Electrosuisse bestätigten gravierenden Mängel (z.B. fehlender Potenzialausgleich, unisolierte Leiter-Enden) führten zu einer über Jahre andauernden, objektiv feststellbaren konkreten Gefahr für Leib und Leben von Mietern und Handwerkern (Stromschlag, Brand).
- Kausalität und Verantwortlichkeit: Die Argumente des Beschwerdeführers bezüglich fehlender Kausalität, willkürlicher Gefahrenannahme oder einer möglichen (Mit-)Verantwortung Dritter wurden als unbegründet oder appellatorisch zurückgewiesen. Seine eigene pflichtwidrige Handlung als kausal für die Gefahr wurde bestätigt.