Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_884/2024 vom 2. Juli 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_884/2024 vom 2. Juli 2025

1. Einführung und Verfahrensgeschichte

Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_884/2024 vom 2. Juli 2025 betrifft einen Fall der einfachen Verletzung der Strassenverkehrsgesetze (SVG), der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung, der Verletzung der Unschuldsvermutung und des Grundsatzes in dubio pro reo, sowie der Verwertbarkeit von Beweismitteln.

Der Beschwerdeführer A.__ wurde durch Urteil des Bezirksgerichts Martigny und St-Maurice vom 11. Januar 2023 der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 31 SVG), der Behinderung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrfähigkeit (Art. 91a SVG) und der Verletzung von Pflichten bei Verkehrsunfällen (Art. 92 Abs. 1 und Art. 51 SVG) für schuldig befunden. Er wurde zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen à 250 Franken (bedingt, Probezeit drei Jahre) und einer Busse von 2'500 Franken verurteilt. Die Zweitinstanz, das Kantonsgericht Wallis, Kriminalkammer II, bestätigte dieses Urteil am 30. September 2024, stellte jedoch eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest.

Der Beschwerdeführer focht dieses Urteil mit einer Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht an, mit dem Hauptantrag auf Freispruch von allen Vorwürfen.

2. Sachverhalt (Kurzfassung der relevanten Punkte)

Am 26. Mai 2021 gegen 18:00 Uhr parkte A._ sein Fahrzeug der Marke C._ (VS xxx xxx) vor der Garage B._ in U._ und schlief mit laufendem Motor für 30 Minuten ein. Der Garagenbetreiber D._ weckte ihn auf; A._ war noch schläfrig und reagierte nicht auf das Angebot, ihn nach Hause zu fahren. Beim Manövrieren zur Abfahrt stieß er mit der Vorderseite seines Fahrzeugs gegen den Briefkasten der Familie E._, die Nachbarn der Garage. D._, der die Szene beobachtete, schlug A._ erneut vor, ihn zu begleiten, worauf A._ ebenfalls nicht reagierte. Von E.E._ alarmiert, rief die Polizei A._ an. Dieser gab an, sich im Zentrum F._ in V._ zu befinden, und wurde angewiesen, dort auf die Polizei zu warten. Bei Ankunft der Polizei war er jedoch nicht vor Ort. Die Polizei versuchte vergeblich, ihn telefonisch zu kontaktieren.

3. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

3.1 Willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Verletzung der Unschuldsvermutung (Rüge des Beschwerdeführers zur Fahreridentifizierung)

Der Beschwerdeführer machte geltend, das Kantonsgericht habe willkürlich festgestellt, dass er zum Zeitpunkt des Unfalls am Steuer seines Fahrzeugs gewesen sei. Er behauptete, er habe das Fahrzeug einem Dritten geliehen.

  • Grundsätze der Beweiswürdigung: Das Bundesgericht ist keine Appellationsinstanz und ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese wurden unter Verletzung des Rechts oder in offensichtlich unrichtiger Weise (willkürlich im Sinne von Art. 9 BV) festgestellt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Willkür liegt vor, wenn der Entscheid nicht nur diskutierbar oder kritisierbar erscheint, sondern offensichtlich unhaltbar ist, dies nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis (ATF 146 IV 88 E. 1.3.1; 145 IV 154 E. 1.1). Bei der Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und der Verletzung von Grundrechten ist eine substanziierte Rüge erforderlich (Art. 106 Abs. 2 BGG).

    Wenn die kantonale Behörde ihre Überzeugung hinsichtlich der Tatsachen auf eine Gesamtheit konvergierender Elemente oder Indizien gestützt hat, genügt es nicht, dass einzelne dieser Elemente isoliert betrachtet unzureichend wären. Die Beweiswürdigung muss als Ganzes betrachtet werden (BGE 140 III 264 E. 2.3).

    Die Unschuldsvermutung (Art. 10 StPO, Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 14 Abs. 2 UNO-Pakt II und Art. 6 Abs. 2 EMRK) und ihr Korollar, der Grundsatz in dubio pro reo, betreffen sowohl die Beweislast als auch die Beweiswürdigung. Als Regel der Beweiswürdigung bedeutet die Unschuldsvermutung, dass der Richter nicht von der Existenz einer für den Angeklagten ungünstigen Tatsache überzeugt sein darf, wenn objektiv Zweifel an der Existenz dieser Tatsache bestehen. Es müssen ernsthafte und unüberwindliche Zweifel sein (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 145 IV 154 E. 1.1). Im Kontext der Beweiswürdigung hat der Grundsatz in dubio pro reo keine über die Willkürprüfung hinausgehende eigenständige Bedeutung.

  • Identifikation des Fahrers bei SVG-Verstößen: Ein Fahrzeughalter kann nur wegen eines SVG-Verstosses verurteilt werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass er der Täter ist (BGE 106 IV 142 E. 3). Zwar darf der Richter zunächst davon ausgehen, dass der Halter auch der Fahrer war. Sobald dies jedoch bestritten wird, obliegt es der Behörde, die Schuld anhand aller Umstände willkürfrei festzustellen. Widersprüchliche Aussagen des Beschuldigten können berücksichtigt werden, und er kann sich nicht auf die Unschuldsvermutung berufen, um nachteilige Schlussfolgerungen daraus anzufechten (Urteile 6B_1175/2022 E. 2.1; 6B_914/2015 E. 1.2).

  • Würdigung des Kantonsgerichts zur Fahreridentifizierung: Das Kantonsgericht stützte die Feststellung, dass der Beschwerdeführer am fraglichen Tag sein Fahrzeug fuhr, auf die Aussage des Garagenbetreibers D.__, der das Kennzeichen und das Fahrzeugmodell notiert hatte. Dies wurde durch die Aussagen der Polizeibeamten bestätigt, die die Aufzeichnungen der Garagenkameras sichteten. Die Aussagen des Beschwerdeführers wurden aufgrund zahlreicher Widersprüche als nicht glaubwürdig eingestuft:

    • Er gab der Polizei telefonisch einen falschen Aufenthaltsort an und war bei deren Ankunft nicht dort.
    • Er behauptete zunächst, alle Fahrten mit seinem Fahrzeug unternommen und es nicht verliehen zu haben, ohne Alkohol konsumiert zu haben.
    • Später gab er an, das Fahrzeug einer Bekanntschaft geliehen zu haben und zu Fuss gegangen zu sein.
    • Erst bei der Hauptverhandlung, fast ein Jahr nach den Fakten, erwähnte er erstmals den Besuch von H.__ und den Konsum von Wein.
  • Rügen des Beschwerdeführers im Detail und deren Widerlegung:

    • Nicht-Identifizierung durch Zeugen D.__: Der Beschwerdeführer rügte, D._ habe ihn nicht als Fahrer identifiziert, obwohl sie familiär verbunden seien. Das Bundesgericht bestätigte die kantonale Argumentation, dass die Nicht-Identifizierung nach fast zwei Jahren verständlich sei und dass D._ den Beschwerdeführer nach dessen eigener Aussage nicht gekannt habe. Dies sei nicht willkürlich.
    • Nasenverletzung: Der Beschwerdeführer führte an, D.__ habe eine blutende Wunde an der Nase des Fahrers bemerkt, die Polizei aber keine Verletzung an seiner Nase festgestellt. Das Bundesgericht folgte der Argumentation des Kantonsgerichts, dass der Polizeibeamte neun Tage nach dem Vorfall nicht auf ein solches Detail geachtet habe, da er nicht über eine Nasenverletzung informiert gewesen sei und der Heilungsprozess fortgeschritten gewesen sei. Dies sei nicht willkürlich.
    • Zeugenaussage H.__: Der Beschwerdeführer berief sich auf die Aussage von H._, der bestätigt habe, den fraglichen Nachmittag mit ihm verbracht zu haben und dass der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt nicht im Besitz seines Fahrzeugs gewesen sei. Das Bundesgericht befand die Begründung des Kantonsgerichts für überzeugend, wonach die Aussage von H._ ungenau (Uhrzeit, Datum unsicher) und in sich widersprüchlich (H.__ hielt an, obwohl das Fahrzeug des Beschwerdeführers nicht vor Ort war) sei. Dies sei nicht willkürlich.
    • Glaubwürdigkeit der Leihgabe: Die Rüge des Beschwerdeführers, die Annahme, er habe sein Auto nicht verliehen, sei willkürlich, wies das Bundesgericht als appellatorisch zurück. Es verwies auf die bereits genannten zahlreichen und sich widersprechenden Aussagen des Beschwerdeführers, die das Kantonsgericht als unglaubwürdig erachtet hatte.
  • Schlussfolgerung zur Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht hielt fest, dass das Kantonsgericht die Beweislast nicht umgekehrt habe. Vielmehr sei es aufgrund einer Gesamtheit von Umständen zur Überzeugung gelangt, dass der Beschwerdeführer der Fahrer gewesen sei. Die ausführlich dargelegte Begründung des Kantonsgerichts, welche die Dementis des Beschwerdeführers überzeugend entkräftete, sei willkürfrei. Auch die Unschuldsvermutung sei nicht verletzt worden.

3.2 Verwertbarkeit von Beweismitteln (Fotografien)

Der Beschwerdeführer rügte, das Kantonsgericht habe sich mehrfach auf Fotos des Fahrzeugs bezogen, die vom Zeugen D.__ aufgenommen und vom Untersuchungsrichteramt als unzulässiges Beweismittel aus den Akten entfernt worden waren.

  • Grundsätze: Nach Art. 141 Abs. 2 StPO sind unrechtmässig erhobene Beweismittel grundsätzlich nicht verwertbar, es sei denn, ihre Verwertung ist zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Sie sind aus den Akten zu entfernen und separat aufzubewahren (Art. 141 Abs. 5 StPO). Ein Rechtsschutzinteresse (Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG) setzt voraus, dass die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zu einem persönlich günstigeren Ergebnis führen würde.

  • Anwendung im vorliegenden Fall: Die fraglichen Fotos hätten lediglich belegt, dass das Fahrzeug des Beschwerdeführers am Unfallort war. Dies sei aber bereits durch die Zeugenaussage D.__ und die Videoaufnahmen der Garagenkameras belegt. Der Beschwerdeführer habe zudem selbst nicht bestritten, dass es sich um sein Fahrzeug handelte, sondern lediglich, dass er der Fahrer gewesen sei. Das Bundesgericht stellte fest, dass die – wenn auch ungeschickten – Verweise auf die Fotos die Verurteilung des Beschwerdeführers nicht beeinflusst haben konnten und ein Obsiegen in diesem Punkt zu keinem günstigeren Entscheid führen würde. Die Rüge wurde daher als unzulässig oder jedenfalls unbegründet abgewiesen.

3.3 Verurteilung wegen Verletzung von Art. 51, 91a und 92 SVG (Subjektiver Tatbestand)

Der Beschwerdeführer bestritt die Verurteilung wegen Verletzung von Pflichten bei Unfällen und Behinderung der Feststellung der Fahrfähigkeit, insbesondere den subjektiven Tatbestand (Vorsatz).

  • Verletzung von Art. 51 und 92 SVG (Pflichten bei Unfall): Das Kantonsgericht hatte festgestellt, dass der Beschwerdeführer am 26. Mai 2021 bewusst einen Aufprall gegen einen Briefkasten verursacht hatte, ohne anzuhalten, sich bei den Geschädigten zu melden oder die Polizei zu verständigen. Es begründete dies damit, dass das Fahrzeug mit der Frontseite den Schaden verursacht hatte, weshalb der Beschwerdeführer das Hindernis im Blickfeld gehabt haben musste. Zudem habe er als nicht schwerhöriger Person bei offenem Fenster den Aufprall (erheblicher Lärm und Schaden) hören müssen. Auch habe ihn der Zeuge D.__ direkt angesprochen.
  • Verletzung von Art. 91a Abs. 1 SVG (Behinderung Feststellung der Fahrfähigkeit): Das Kantonsgericht befand, dass der Beschwerdeführer nach dem Unfall von der Polizei kontaktiert und angewiesen wurde, an Ort und Stelle zu warten. Er habe dies in der Absicht missachtet, sich einer Alkoholkontrolle zu entziehen, indem er einen falschen Aufenthaltsort angab und nicht auf die Polizei wartete. Auch spätere Anrufe der Polizei habe er bewusst unbeantwortet gelassen.
  • Rüge des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer argumentierte lediglich, er sei verletzt und schläfrig gewesen und habe sich in einem Schockzustand befunden, weshalb er den Aufprall möglicherweise nicht bewusst wahrgenommen habe.
  • Würdigung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wies diese Rüge als appellatorisch zurück. Die Bestimmung, was eine Person wusste, beabsichtigte oder in Kauf nahm, betrifft "innere Tatsachen", die für das Bundesgericht bindend sind, es sei denn, sie wurden willkürlich festgestellt (BGE 141 IV 369 E. 6.3). Da der Beschwerdeführer seine Argumentation lediglich auf seine eigene, vom Kantonsgericht widerlegte Behauptung stützte, ohne substantiiert Willkür darzulegen, erfüllte seine Rüge nicht die Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG.

4. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde, soweit sie zulässig war, ab. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln, Behinderung der Feststellung der Fahrfähigkeit und Verletzung von Pflichten bei einem Unfall.

  1. Fahreridentifizierung: Das Bundesgericht erachtete die Sachverhaltsfeststellung des Kantonsgerichts, wonach der Beschwerdeführer der Fahrer des Unfallfahrzeugs war, als willkürfrei. Es stützte sich dabei auf die übereinstimmenden Zeugenaussagen und Videoaufnahmen sowie die zahlreichen Widersprüche in den Aussagen des Beschwerdeführers, der dadurch als unglaubwürdig galt. Die Argumente des Beschwerdeführers (Nicht-Identifizierung durch Zeugen, fehlende Notiz einer Verletzung, Zeugenaussage eines Freundes, Unwahrscheinlichkeit der Fahrzeugleihe) wurden als unbegründet oder unerheblich abgewiesen.
  2. Verwertbarkeit der Beweismittel (Fotos): Die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der Verwertung unzulässiger Fotos wurde als unbegründet erachtet, da die relevanten Fakten (Identität des Fahrzeugs) ohnehin durch andere, zulässige Beweismittel zweifelsfrei belegt waren und die Fotos keinen Einfluss auf das Urteil hatten.
  3. Subjektiver Tatbestand der Straftaten: Die Rüge des Beschwerdeführers, er sei aufgrund seines Zustandes nicht bewusst handlungsfähig gewesen, wurde als unzureichend begründet (appellatorisch) zurückgewiesen. Das Bundesgericht folgte der detaillierten Argumentation des Kantonsgerichts, wonach der Beschwerdeführer den Unfall und seine Pflichten bewusst missachtet hatte, um sich einer Kontrolle zu entziehen.

Das Urteil stärkt die Linie, dass widersprüchliche Aussagen des Beschuldigten im Rahmen der Beweiswürdigung gegen ihn verwendet werden können und dass die Unschuldsvermutung nicht dazu dient, offensichtlich unglaubwürdige Einlassungen zu schützen. Zudem bekräftigt es, dass das Bundesgericht nur bei substantiierter Willkür in die Sachverhaltsfeststellung eingreift.