Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_293/2023 vom 11. Juni 2025

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Im Urteil 2C_293/2023 vom 11. Juni 2025 hatte sich das Schweizerische Bundesgericht mit der Beschwerde einer kosovarischen Staatsangehörigen gegen die Verweigerung einer Aufenthaltsbewilligung für den Familiennachzug zu ihrem Schweizer Sohn auseinanderzusetzen. Der Kern des Falles lag in der Frage, ob ein Anspruch auf sogenannten "umgekehrten Familiennachzug" für einen Elternteil zu einem erwachsenen Kind in der Schweiz im Sinne von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder Art. 13 der Bundesverfassung (BV) bestand.

1. Sachverhalt und Verfahrensgang

Die 1949 geborene kosovarische Staatsangehörige A.A._ ersuchte erstmals 2013 über ihren Schweizer Sohn B.A._ um eine Aufenthaltsbewilligung. Dieses Gesuch wurde abgelehnt. Eine erneute Einreise als Touristin 2019 führte zu einem pandemiebedingten längeren Aufenthalt, den sie jedoch 2020 wieder beendete. Im März 2021 stellte A.A.__ ein neues Gesuch, begründet mit massgeblich veränderten Umständen in der Heimat und ihrer nunmehrigen Abhängigkeit von der Betreuung durch ihren Sohn in der Schweiz. Die kantonalen Behörden, einschliesslich des Amtes für Migration des Kantons Luzern, des Justiz- und Sicherheitsdepartements und des Kantonsgerichts Luzern, wiesen das Gesuch ab. Das Kantonsgericht verneinte insbesondere das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Anspruch auf umgekehrten Familiennachzug. Während des kantonalen Rekursverfahrens hielt sich die Beschwerdeführerin gemäss eigenen Angaben vom 15. Dezember 2021 bis zum 12. März 2022 in der Schweiz auf.

2. Zulässigkeit der Beschwerde vor Bundesgericht

Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde. Grundsätzlich ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten im Ausländerrecht ausgeschlossen, wenn auf eine Bewilligung weder Bundes- noch Völkerrecht einen Anspruch einräumen (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Da die Beschwerdeführerin jedoch einen Anspruch gestützt auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) wegen eines geltend gemachten Abhängigkeitsverhältnisses zu ihrem Schweizer Sohn geltend machte, war die Beschwerde in diesem Punkt als sogenannte Anspruchsbeschwerde zulässig.

Hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin ebenfalls gerügten Inländerdiskriminierung im Vergleich zu EU-/EFTA-Staatsangehörigen (Verweis auf das Freizügigkeitsabkommen FZA) hielt das Bundesgericht fest, dass selbst bei einer hypothetischen Anwendung der freizügigkeitsrechtlichen Bestimmungen kein Aufenthaltsanspruch bestünde, da die erforderliche Unterhaltsgewährung gemäss FZA nicht erfüllt sei. Dieser Punkt wurde daher nicht vertieft.

Bezüglich der möglichen Erteilung einer Ermessensbewilligung nach Art. 28 (Rentnerinnen und Rentner) oder Art. 30 Abs. 1 lit. b (Härtefall) AIG stellte das Bundesgericht klar, dass es solche Ermessensentscheide nicht materiell überprüfen kann, da seine Zuständigkeit auf Anspruchsbewilligungen beschränkt ist. Eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde käme diesbezüglich nur in Frage, wenn eine formelle Rechtsverweigerung vorliegt (sog. "Star"-Praxis), also eine willkürliche Einschränkung der Kognitionsbefugnis oder eine faktische Aushöhlung des rechtlichen Gehörs. Materielle Überprüfungen oder Rügen, die im Ergebnis auf eine Beweiswürdigung abzielen (z.B. unvollständige Begründung, abgelehnte Beweisanträge), sind unzulässig. Die diesbezüglichen Rügen der Beschwerdeführerin wurden als unzulässig erachtet, da sie auf eine materielle Überprüfung abzielten und keine formelle Rechtsverweigerung darstellten.

3. Prüfung der Rügen zum rechtlichen Gehör und zur formellen Rechtsverweigerung (Art. 29 BV)

Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und eine formelle Rechtsverweigerung, insbesondere weil die Vorinstanz keine weitergehenden Abklärungen (Befragung der Beteiligten, Untersuchungen zum Gesundheitszustand, Berichte der Gemeinde im Kosovo) zum Abhängigkeitsverhältnis vorgenommen habe.

Das Bundesgericht präzisierte die Anforderungen an das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV): Es verlangt, dass die Behörde Vorbringen prüft und berücksichtigt und relevante Beweise abnimmt. Es besteht jedoch kein genereller Anspruch auf Beweisabnahme, wenn die Behörde in "antizipierter Beweiswürdigung" (d.h. vorweggenommener Beweiswürdigung) ohne Willkür annehmen kann, dass weitere Beweiserhebungen ihre Überzeugung nicht ändern würden.

Das Bundesgericht befand, die Vorinstanz habe diese Grundsätze nicht verletzt. Sie habe die vorhandenen Belege (Berichte des Sozialamts im Kosovo, Arztberichte) eingehend gewürdigt. Obwohl altersbedingte Gesundheitsprobleme und ein Betreuungsbedarf anerkannt wurden, sei nicht nachgewiesen, dass die Betreuung zwingend vom Schweizer Sohn erbracht werden müsse. Die Vorinstanz durfte in antizipierter Beweiswürdigung davon absehen, weitere Beweise zu erheben, da keine neuen gesundheitlichen Beeinträchtigungen geltend gemacht wurden und die Parteien bereits schriftlich Stellung nehmen konnten. Auch der Umgang mit dem Antrag auf Gewährung eines prozeduralen Aufenthalts (Art. 17 Abs. 2 AIG) durch die kantonalen Instanzen stellte keine formelle Rechtsverweigerung dar.

4. Prüfung der Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV)

Die Beschwerdeführerin behauptete, die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz bezüglich ihres Gesundheitszustands, Betreuungsbedarfs und der Betreuungsmöglichkeiten im Kosovo seien aktenwidrig und willkürlich.

Das Bundesgericht erinnerte daran, dass Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung nur vorliegt, wenn diese "schlechterdings unhaltbar" ist, z.B. bei offensichtlicher Verkennung des Sinns eines Beweismittels oder Nichtberücksichtigung entscheidwesentlicher Beweismittel ohne sachlichen Grund. Allein die Diskrepanz zur eigenen Darstellung der Partei begründet keine Willkür.

Das Bundesgericht wies die Rüge ab. Die Beschwerdeführerin habe sich im Wesentlichen darauf beschränkt, ihre eigene Sachverhaltsdarstellung derjenigen der Vorinstanz gegenüberzustellen, ohne die Unhaltbarkeit der gerichtlichen Feststellungen konkret darzulegen. Es sei nicht willkürlich, wenn die Vorinstanz trotz eines Berichts des lokalen Sozialamts, der Schwierigkeiten bei der Betreuung annahm, zum Schluss kam, eine ausreichende Betreuung im Kosovo sei organisierbar. Dies insbesondere unter Hinweis auf die 25 Kilometer entfernt lebende Tochter und die finanzielle Unterstützung der vier im Ausland lebenden Kinder für eine Drittbetreuung. Die Möglichkeit, dass die Tochter vor Ort bei der Organisation helfen kann, sei eine vertretbare Annahme.

5. Anspruch auf umgekehrten Familiennachzug gemäss Art. 8 EMRK / Art. 13 BV

Dies bildete den Kern der rechtlichen Prüfung und des materiellen Bewilligungsanspruchs.

a) Grundsätze des Familiennachzugs nach Art. 8 EMRK: Das Bundesgericht betonte, dass Art. 8 EMRK grundsätzlich keinen Anspruch auf Aufenthalt in einem Konventionsstaat vermittelt. Der Schutz des Familienlebens bezieht sich in erster Linie auf die Kernfamilie (Ehegatten und minderjährige Kinder). Andere familiäre Beziehungen, insbesondere die zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, stehen nur ausnahmsweise unter dem Schutz von Art. 8 EMRK, nämlich dann, wenn ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht. Art. 13 Abs. 1 BV deckt sich inhaltlich mit Art. 8 EMRK.

b) Kriterien für ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis: Ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis wird nach bundesgerichtlicher Praxis nicht leichthin angenommen. Allein das Vorliegen eines allgemeinen Pflege- und Betreuungsbedürfnisses genügt nicht. Es ist zusätzlich erforderlich, dass die betreffende Pflege- und Betreuungsleistung unabdingbar von den in der Schweiz anwesenheitsberechtigten Angehörigen erbracht werden muss. Besteht kein derartiges personenspezifisches Abhängigkeitsverhältnis, ergibt sich kein Bewilligungsanspruch. Das Bundesgericht verweist hier auf seine konstante Rechtsprechung, einschliesslich BGE 120 Ib 257 E. 1e und 115 Ib 1 E. 2d, sowie neuere Urteile wie 2C_596/2023 und 2C_682/2022.

c) Anwendung auf den vorliegenden Fall: Die Vorinstanz hatte verbindlich festgestellt, dass die Beschwerdeführerin seit dem Tod ihres Ehemanns allein in Kosovo lebt, fünf Kinder hat (eine Tochter im Kosovo, ein Sohn in der Schweiz, drei Kinder in Deutschland). Die altersbedingten gesundheitlichen Beschwerden (Gelenkschmerzen, Gehschwierigkeiten) und der daraus resultierende Betreuungsbedarf waren unbestritten. Jedoch stellte die Vorinstanz willkürfrei fest, dass die Beschwerdeführerin weder schwer krank noch auf ständige Betreuung angewiesen ist. Entscheidend war, dass nicht ersichtlich war, dass ihre Unterstützung zwingend durch den in der Schweiz lebenden Sohn geleistet werden muss. Das Bundesgericht stützte die willkürfreie Annahme der Vorinstanz, dass die gesundheitlichen Probleme im Kosovo weiterbehandelt werden können, wo die medizinische Grundversorgung gewährleistet sei. Zudem lebe eine Tochter der Beschwerdeführerin nur 25 Kilometer entfernt im Kosovo, und die vier im Ausland lebenden Kinder hätten finanzielle Unterstützung für eine Drittbetreuung im Kosovo zugesichert. Der Kontakt zum Sohn und seiner Familie könne weiterhin durch gegenseitige Besuche und moderne Kommunikationsmittel gepflegt werden.

d) Ergebnis zur Anspruchsprüfung: Im Ergebnis verneinte das Bundesgericht zu Recht ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Art. 8 EMRK. Die Vorinstanz habe die rechtsprechungsgemäss geltenden Kriterien rechtskonform angewendet und eine entsprechende Gesamtwürdigung vorgenommen. Ein Aufenthaltsanspruch der Beschwerdeführerin gestützt auf das Recht auf Schutz des Familienlebens fiel demnach ausser Betracht. Eine separat erhobene Rüge einer Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot von Folter) wurde mangels hinreichender Begründung nicht näher geprüft.

6. Fazit und Kosten

Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erwies sich in Bezug auf den Hauptantrag und die Eventualanträge als unbegründet und wurde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war. Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wurde nicht eingetreten. Die Gerichtskosten wurden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Kein Anspruch auf umgekehrten Familiennachzug: Das Bundesgericht verneinte einen Anspruch der kosovarischen Mutter auf eine Aufenthaltsbewilligung für den Familiennachzug zu ihrem Schweizer Sohn.
  • Kein "besonderes Abhängigkeitsverhältnis": Gemäss Art. 8 EMRK und Art. 13 BV besteht ein Anspruch auf Familienleben zwischen erwachsenen Familienmitgliedern nur bei einem "besonderen Abhängigkeitsverhältnis". Dieses liegt nicht allein bei einem Betreuungsbedarf vor, sondern erfordert, dass die Pflege und Betreuung unabdingbar vom in der Schweiz lebenden Angehörigen geleistet werden muss.
  • Alternative Betreuung im Heimatland möglich: Obwohl der Betreuungsbedarf der Beschwerdeführerin anerkannt wurde, sah das Gericht diesen als nicht so gravierend an, dass die Anwesenheit des Sohnes in der Schweiz zwingend erforderlich wäre. Eine medizinische Grundversorgung und Betreuung durch eine im Kosovo lebende Tochter oder eine finanzierte Drittbetreuung im Kosovo wurden als zumutbare Alternativen betrachtet.
  • Ablehnung prozeduraler Rügen: Beschwerden bezüglich einer Verletzung des rechtlichen Gehörs oder willkürlicher Sachverhaltsfeststellung wurden zurückgewiesen. Das Bundesgericht bestätigte die "antizipierte Beweiswürdigung" der Vorinstanz, wonach weitere Beweiserhebungen als nicht notwendig erachtet werden durften, da die vorhandenen Akten eine hinreichende Beurteilung ermöglichten.