Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (5A_366/2025 vom 17. Juli 2025) detailliert zusammen.
Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 5A_366/2025 vom 17. Juli 2025 (Internationale Kindesrückführung)
I. Einleitung
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts befasst sich mit einer Beschwerde gegen einen Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, welches ein Gesuch der Mutter auf Rückführung zweier Kinder nach Schweden gemäss dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) abgewiesen hatte. Im Kern ging es um die Frage, ob die Verbringung der Kinder durch den Vater von Schweden in die Schweiz als widerrechtlich im Sinne des HKÜ zu qualifizieren ist.
II. Sachverhalt und Prozessgeschichte (massgebliche Punkte)
Die Kinder C._ (geb. 2019) und D._ (geb. 2021) sind die gemeinsamen Kinder der unverheirateten schwedischen Mutter A._ (Beschwerdeführerin) und des schweizerisch-schwedischen Vaters B._ (Beschwerdegegner). Die Kinder sind ebenfalls Doppelbürger. Bis zur Trennung der Eltern im Sommer 2021 lebten die Kinder in Schweden, danach beim Vater am selben Ort.
- 11. November 2022: Das Bezirksgericht Lycksele (Schweden) übertrug dem Vater das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Der Mutter wurde ein ausgedehntes Besuchsrecht jede zweite Woche von Mittwoch, 14 Uhr, bis Montag, 14 Uhr, eingeräumt.
- 18. Juli 2024: Auf Antrag der Mutter führte das Bezirksgericht Lycksele eine mündliche Verhandlung zur Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge durch. Die Eröffnung eines vorsorglichen Entscheids wurde für den 23. Juli 2024 um 14:00 Uhr angekündigt. Gemäss Auskunft der schwedischen Verbindungsrichterin wurde dieser Entscheid sofort um 14:00 Uhr rechtsverbindlich, unabhängig von der tatsächlichen Kenntnisnahme.
- 23. Juli 2024, 13:55 Uhr: Der Vater reiste planmässig mit den Kindern mit dem Flugzeug von Stockholm in die Schweiz aus.
- 23. Juli 2024, 14:00 Uhr: Der vorsorgliche Entscheid des Bezirksgerichts Lycksele wurde rechtsverbindlich, welcher die Kinder unter die gemeinsame elterliche Sorge stellte, der ständige Wohnsitz der Kinder jedoch beim Vater verblieb und das bestehende Besuchsrecht der Mutter aufrechterhalten wurde.
- 21. Oktober 2024: Das Bezirksgericht Lycksele stellte die Kinder vorsorglich unter die alleinige elterliche Sorge der Mutter.
- 13. März 2025: Das Bezirksgericht Lycksele bestätigte den Entscheid vom 21. Oktober 2024 definitiv: alleiniges Sorgerecht für die Mutter, Kinder sollen bei der Mutter wohnen, Vater hat Kinder zu übergeben; sofort vollstreckbar. Gegen dieses Urteil legte der Vater Rechtsmittel ein.
- 17. März 2025: Die Mutter beantragte beim Kantonsgericht St. Gallen die Rückführung der Kinder.
- 28. April 2025: Das Kantonsgericht wies das Rückführungsgesuch ab.
- 12. Mai 2025: Die Mutter reichte Beschwerde beim Bundesgericht ein und beantragte die Rückführung.
III. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht hatte primär zu prüfen, ob die Verbringung der Kinder am 23. Juli 2024 widerrechtlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a HKÜ war. Die Kernfragen bildeten hierbei die geschützte Sorgerechtsposition der Mutter bis zur Eröffnung des schwedischen Sorgerechtsentscheides sowie der exakte relevante Zeitpunkt des Verbringens der Kinder.
1. Die Sorgerechtsposition der Mutter vor dem 23. Juli 2024 (E. 4)
- Vertragsautonome und weite Auslegung des Sorgerechtsbegriffs: Das Bundesgericht führt aus, dass der Begriff des Sorgerechts im Sinne von Art. 3 HKÜ vertragsautonom und weit auszulegen ist. Erfasst werden dabei nicht nur die Obhut und Aufenthaltsbestimmung, sondern auch weitere Personensorgebefugnisse wie Pflege, Erziehung und Aufsicht (BGE 136 III 353 E. 3.5). Entscheidend ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Kern des Sorgerechts (Art. 5 lit. a HKÜ).
- Abgrenzung zum Besuchsrecht: Das Gericht betont die klare Unterscheidung zwischen dem Sorgerecht (custody rights / droit de garde), welches einen Rückführungsanspruch begründet, und dem Besuchsrecht (access rights / droit de visite, Art. 21 HKÜ). Ein reines Besuchsrecht, selbst wenn ausgedehnt, wie im vorliegenden Fall, umfasst keine Aufenthaltsbestimmung und begründet somit keinen Rückführungsanspruch nach Art. 3 HKÜ (PÉREZ-VERA, Explanatory Report, N. 65; BGE 136 III 353 E. 3.5).
- Anwendbares Recht: Die geschützte Rechtsposition beurteilt sich nach dem Recht des Staates, in welchem die Kinder unmittelbar vor dem Verbringen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten (Art. 3 Abs. 1 lit. a HKÜ).
- Schweden als Herkunftsstaat: Nach schwedischem Recht (Föräldrabalk, 6. Kap.) steht Kindern unverheirateter Eltern das Sorgerecht ursprünglich der Mutter allein zu. Durch Gerichtsentscheid kann es beiden Eltern oder einem Elternteil allein übertragen werden. Der Inhaber der Personensorge hat das Recht und die Pflicht, in den persönlichen Angelegenheiten des Kindes zu entscheiden, was auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht umfasst. Einem nicht sorgeberechtigten Elternteil steht lediglich ein Besuchsrecht zu, welches keine Aufenthaltsbestimmung beinhaltet.
- Anwendung auf den Fall: Da das Bezirksgericht Lycksele dem Vater mit Entscheid vom 11. November 2022 das alleinige Sorgerecht übertragen hatte und die Mutter lediglich ein Besuchsrecht besass, kam dem Vater nach schwedischem Recht auch das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht zu. Die Mutter konnte somit aufgrund ihrer damaligen Rechtsposition (Besuchsrecht) keine widerrechtliche Verbringung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a HKÜ geltend machen, selbst wenn das Besuchsrecht ausgedehnt war. Der Vater war daher aus der Perspektive des HKÜ befugt, den gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder ins Ausland zu verlegen.
2. Relevanter Zeitpunkt des "Verbringens" und "Zurückhaltens" (E. 5.1-5.4)
- Einwand der Mutter (13:54 Uhr E-Mail): Die Mutter machte geltend, die E-Mail mit der Urteilseröffnung sei bereits um 13:54 Uhr verschickt worden, was dem Vater die Kenntnisnahme vor dem Abflug ermöglicht hätte. Das Bundesgericht qualifizierte dies als zulässiges unechtes Novum. Jedoch wurde der Einwand als unsubstanziiert und nicht hinreichend glaubhaft zurückgewiesen, da die E-Mail an eine unbekannte Person gerichtet war und nicht ersichtlich war, dass sie an den Rechtsvertreter des Vaters gegangen wäre. Daher blieb die Feststellung des Kantonsgerichts, wonach der Entscheid um 14:00 Uhr rechtswirksam wurde, verbindlich.
- Definition des "Verbringens" bei Flugreisen: Das Bundesgericht stützt die Ansicht des Kantonsgerichts, wonach für das "Verbringen" bei Flugreisen der Zeitpunkt massgeblich ist, in welchem der verbringende Elternteil keinen Einfluss mehr auf die Ausreise hat, d.h. spätestens nach dem Abheben des Flugzeugs. Dieser Zeitpunkt sei objektiv feststellbar und in der Einflusssphäre des Handelnden.
- Anwendung auf den Fall: Da der Flug um 13:55 Uhr abhob und der Sorgerechtsentscheid erst um 14:00 Uhr rechtswirksam wurde, erfolgte das Verbringen der Kinder, während der Vater noch das alleinige Sorgerecht (und somit das Aufenthaltsbestimmungsrecht) besass.
- Ausschluss von "Zurückhalten": Das Gericht bekräftigt, dass "Verbringen" und "Zurückhalten" (Art. 3 Abs. 1 lit. a HKÜ) Handlungsalternativen darstellen und sich gegenseitig ausschliessen. Ein "Zurückhalten" setzt voraus, dass sich das Kind zunächst rechtmässig im Zuzugsstaat befindet und erst später widerrechtlich zurückgehalten wird. Vorliegend handelte es sich um ein "Verbringen".
- Irrelevanz "nacheilender Entscheide": Entscheidungen, die im Herkunftsstaat erst als Reaktion auf ein Verbringen gefällt wurden (wie die nachfolgenden Sorgerechtsentscheide zugunsten der Mutter), sind für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit im Zeitpunkt des Verbringens unbeachtlich.
3. Vorwurf der Treuwidrigkeit des Vaters (E. 5.5)
- Buchungszeitpunkt der Flüge: Die Flüge wurden bereits am 19. April 2024 gebucht, lange vor den neuen Gerichtsverfahren und der Urteilseröffnung am 23. Juli 2024. Dies widerlegt den Vorwurf, der Vater habe die Ausreise aufgrund einer erwarteten negativen Entscheidung (prophylaktisch) vorverlegt.
- Zufälligkeit der Zeitpunkte: Der Zeitpunkt der Urteilseröffnung und der Abflugszeit war reiner Zufall, auf den der Vater keinen Einfluss hatte.
- Keine Offenbarungspflicht: Als alleiniger Sorgerechtsinhaber war der Vater nach schwedischem Recht (und damit aus HKÜ-Sicht) nicht verpflichtet, seine Auswanderungspläne von sich aus dem Gericht oder der Mutter mitzuteilen.
- Fazit: Das Bundesgericht verneinte ein treuwidriges Verhalten des Vaters.
IV. Schlussfolgerung des Bundesgerichts (E. 5.6)
Das Bundesgericht gelangt zum Schluss, dass der Vater die Kinder am 23. Juli 2024 um 13:55 Uhr und somit in einem Zeitpunkt verbrachte, als er nach schwedischem Recht alleiniger Sorgerechtsinhaber (einschliesslich des Aufenthaltsbestimmungsrechts) war. Weder war die Verbringung widerrechtlich im Sinne von Art. 3 HKÜ, noch hat sich der Vater treuwidrig verhalten. Folglich verstösst der angefochtene Entscheid des Kantonsgerichts, mit welchem das Rückführungsgesuch der Mutter abgewiesen wurde, nicht gegen Bundes- oder Völkerrecht. Die Beschwerde wurde abgewiesen.
V. Kosten und Entschädigung (E. 6)
Das Bundesgericht wies darauf hin, dass Schweden gemäss Art. 26 Abs. 3 i.V.m. Art. 42 Abs. 1 HKÜ einen Vorbehalt erklärt hat, wonach die Kosten für das Rückführungsverfahren und die anwaltliche Verbeiständung nur im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege übernommen werden. Obwohl die Schweiz Gegenrecht halten könnte, entschied das Bundesgericht ausnahmsweise, die Rechtsvertreter der Parteien und der Kinder direkt aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen, wodurch die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege der Parteien gegenstandslos wurden.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Kein widerrechtliches Verbringen: Die Verbringung der Kinder durch den Vater war zum Zeitpunkt des Abfluges (13:55 Uhr) nicht widerrechtlich.
- Alleinsorgerecht des Vaters: Zum Zeitpunkt des Abfluges stand dem Vater das alleinige Sorgerecht und damit das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht nach schwedischem Recht zu. Das ausgedehnte Besuchsrecht der Mutter begründete keinen Sorgerechtsanspruch im Sinne von Art. 3 HKÜ.
- Zeitpunkt der Sorgerechtsänderung: Die erst fünf Minuten nach dem Abflug (14:00 Uhr) wirksam gewordene Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge war für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit des Verbringens irrelevant.
- Keine Treuwidrigkeit: Das Bundesgericht verneinte ein treuwidriges Verhalten des Vaters, da die Reisepläne vor der Sorgerechtsänderung bestanden und die zeitliche Koinzidenz zufällig war.
- HKÜ-Systematik: Das Urteil betont die vertragsautonome Auslegung des Sorgerechtsbegriffs im HKÜ und die Unterscheidung zwischen "Verbringen" und "Zurückhalten" sowie die Irrelevanz "nacheilender Entscheide".