Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_411/2024 vom 30. Mai 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 4A_411/2024 vom 30. Mai 2025

1. Einleitung und Parteien Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (I. Zivilrechtliche Abteilung) mit der Referenz 4A_411/2024 vom 30. Mai 2025 betrifft eine Beschwerde in Zivilsachen im Bereich des Exequatur, d.h. der Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils in der Schweiz. Die Beschwerdeführerin ist die A._ SA mit Hauptsitz in Luxemburg und einer Zweigniederlassung in Massagno (Schweiz). Die Beschwerdegegnerin ist die B._ S.r.l. mit Sitz in Italien.

2. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte Der Streit entstand aus einem italienischen Zahlungsbefehl (sog. decreto ingiuntivo) des Tribunals von Pisa vom 25. Oktober 2017, mit dem die A._ SA, namentlich deren Schweizer Zweigniederlassung in Massagno, zur Zahlung von 116'000 Euro an die B._ S.r.l. verpflichtet wurde. Die Verfügung sah eine 60-tägige Frist zur Erhebung von Widerspruch (gemäss Art. 645 italienischer Zivilprozessordnung, CPC italiano) vor, andernfalls die Zwangsvollstreckung eingeleitet würde. Da kein Widerspruch erfolgte, wurde der Zahlungsbefehl am 23. Mai 2018 für vollstreckbar erklärt (gemäss Art. 647 CPC italiano).

Die B._ S.r.l. versuchte daraufhin, den Zahlungsbefehl in der Schweiz zu vollstrecken und beantragte die Rechtsöffnung gegen den von der A._ SA in Lugano erhobenen Zahlungsbefehl. Der Pretore (Friedensrichter) von Lugano erklärte das Gesuch um Rechtsöffnung am 23. September 2021 als unzulässig.

Zwischenzeitlich erhob die A.__ SA am 20. Juli 2020 einen verspäteten Widerspruch gegen den Zahlungsbefehl nach Art. 650 CPC italiano. Das Tribunal von Pisa wies diesen Widerspruch am 4. Juni 2022 als verspätet ab. Sowohl der ursprüngliche Zahlungsbefehl als auch dieses Urteil vom Juni 2022 wurden später mit einer Vollstreckungsformel versehen.

Auf Gesuch der B.__ S.r.l. erkannte der Pretore von Lugano mit Entscheid vom 24. Oktober 2023 den Zahlungsbefehl vom Oktober 2017 und das Urteil vom Juni 2022 in der Schweiz an und erklärte sie für vollstreckbar.

3. Entscheid der Vorinstanz Das Tribunal d'appello des Kantons Tessin bestätigte mit Urteil vom 6. Juni 2024 die vorinstanzliche Entscheidung. Es hielt fest, dass es sich bei beiden italienischen Akten um "Entscheidungen" im Sinne von Art. 32 des Lugano-Übereinkommens (LugÜ) handle und keine Gründe für eine Verweigerung der Anerkennung nach Art. 34 Abs. 1-3 LugÜ vorlägen. Insbesondere befand das Gericht, dass die Ausstellung des Zahlungsbefehls auf den Namen der Schweizer Zweigniederlassung keine Verletzung der Schweizer ordre public darstelle und dass die Zustellung in der Schweiz die Verteidigungsmöglichkeiten der Beklagten nicht unzulässig eingeschränkt habe. Auch die Rüge der res judicata aufgrund des früheren Rechtsöffnungsverfahrens wurde abgewiesen.

4. Rügen der Beschwerdeführerin vor Bundesgericht Die A.__ SA beantragte die Aufhebung des kantonalen Urteils und die Abweisung des Anerkennungs- und Vollstreckungsgesuchs. Sie rügte im Wesentlichen: * Sie habe erst im Sommer 2020 durch das Rechtsöffnungsverfahren Kenntnis vom Zahlungsbefehl erhalten. * Verletzung von Art. 34 Abs. 2 LugÜ und Art. 5 des Haager Zustellungsübereinkommens (HZÜ 1965), da die Zustellung an ihren Hauptsitz in Luxemburg hätte erfolgen müssen, einschliesslich einer Übersetzung ins Deutsche oder Französische gemäss luxemburgischer Erklärung. * Die fehlerhafte Zustellung in der Schweiz habe ihr keine rechtzeitige Verteidigung innerhalb der 60 Tage ermöglicht, was eine Verletzung des ordre public (Art. 34 Abs. 1 LugÜ) darstelle. * Die Beschwerdegegnerin habe ihren Fehler implizit anerkannt, indem sie 2022 eine erneute Zustellung an den Luxemburger Hauptsitz vorgenommen habe. * Willkürliche Sachverhaltsfeststellung, da die Vorinstanz einen angeblichen Zusammenhang zwischen Zweigniederlassung und Hauptgesellschaft angenommen habe, obwohl die Zweigniederlassung die eigentliche Beklagte gewesen sei und die Zustellung an diese der Hauptgesellschaft keine Kenntnis verschafft habe.

5. Erwägungen des Bundesgerichts

5.1. Anwendbares Recht und allgemeine Grundsätze (Erw. 4) Das Bundesgericht stellt fest, dass in der Praxis des LugÜ die Rechtsprechung zur Brüssel I-Verordnung (EG Nr. 44/2001) und der Brüssel Ia-Verordnung (EU Nr. 1215/2012) berücksichtigt wird, da letztere inhaltlich mit Art. 34 LugÜ übereinstimmt.

5.2. Rüge der öffentlichen Ordnung (Art. 34 Abs. 1 LugÜ) und Zustellung an die Zweigniederlassung (Erw. 5) Das Bundesgericht weist die Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung als unbegründet zurück, da die Vorinstanz explizit festgehalten hatte, dass der Zahlungsbefehl nur die Schweizer Zweigniederlassung nannte. Die Beschwerdeführerin konnte nicht darlegen, warum die rechtlichen Konsequenzen dieser ungenauen Angabe eine Verletzung des Schweizer ordre public darstellen sollten. Das Gericht hält fest, dass eine Zweigniederlassung nach Schweizer Recht, obwohl sie eine gewisse Autonomie geniesst, keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt und daher nicht parteifähig ist. Die Nennung der Zweigniederlassung anstelle des Hauptsitzes in der Klage stellt keinen Fehler dar, der die Unzulässigkeit der Klage bewirkt; es handelt sich lediglich um einen korrigierbaren Irrtum in der Bezeichnung der Partei. Die ordre public-Klausel ist restriktiv auszulegen und erlaubt die Verweigerung der Anerkennung nur, wenn die Situation in schockierender Weise grundlegende Prinzipien der Schweizer Rechtsordnung verletzt. Dies sei hier nicht der Fall. Die Frage der Verletzung des rechtlichen Gehörs wird unter Art. 34 Abs. 2 LugÜ behandelt.

5.3. Rüge des Rechts auf Verteidigung / Rechtzeitige Zustellung (Art. 34 Abs. 2 LugÜ) (Erw. 6) Dies ist der Kernpunkt der bundesgerichtlichen Prüfung. * Autonomes Verständnis von Art. 34 Abs. 2 LugÜ: Das Bundesgericht betont, dass Art. 34 Abs. 2 LugÜ nicht mehr verlangt, dass die Klageschrift (oder ein gleichwertiger Akt) dem säumigen Beklagten ordnungsgemäss zugestellt wurde (im Gegensatz zu Art. 27 Abs. 2 des früheren Brüsseler Übereinkommens). Es genügt, dass die Zustellung rechtzeitig und in einer Weise erfolgte, die dem Beklagten die Möglichkeit gab, seine Verteidigung vorzubringen. Der Begriff der Zustellung in dieser Norm hat einen autonomen Charakter und stellt eine Mindestgarantie dar: Der Akt muss in den Machtbereich des Beklagten gelangt sein, so dass dieser seine Bedeutung erfassen konnte. * Vertretung der Zweigniederlassung: Gemäss Art. 160 Abs. 2 IPRG richtet sich die Vertretungsmacht einer ausländischen Zweigniederlassung nach schweizerischem Recht und umfasst auch die Prozessvertretung. Eine Zweigniederlassung ist immer Teil des Hauptsitzes und bildet mit diesem eine Einheit. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, es gäbe keine Verbindung zwischen ihrer Luxemburger Gesellschaft und der Schweizer Zweigniederlassung, grenze an Mutwilligkeit. * Anwendung auf den Fall: * Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass der italienische Zahlungsbefehl und die zugrundeliegende Klageschrift ihrer Schweizer Zweigniederlassung nach den Regeln des HZÜ 1965 für die Zustellung ausländischer Akte im Kanton Tessin übermittelt wurden und dass sie die Angelegenheiten der Zweigniederlassung betrafen. * Die interne Weiterleitung des Aktes von der Zweigniederlassung an die zuständigen Organe der Hauptgesellschaft betrifft nicht die Zustellung im Sinne des HZÜ 1965. * Das Bundesgericht bekräftigt, dass aufgrund der Einheit zwischen Zweigniederlassung und Hauptsitz die Zustellung an die Zweigniederlassung die Verteidigung des Hauptsitzes nicht verhinderte. Die 60-tägige Frist zur Einlegung des Widerspruchs wurde von der Beschwerdeführerin nicht als zu kurz gerügt. * Sprachliche Aspekte: Die Tatsache, dass der Zahlungsbefehl nicht ins Deutsche oder Französische übersetzt war, verhinderte die Verteidigung nicht, da er in Italienisch, der Amtssprache des Ortes der Schweizer Zweigniederlassung, verfasst war. Das Bundesgericht verweist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil C-14/07 Weiss vom 8. Mai 2008), wonach eine Übersetzung des Klageakts durch den Kläger vom Standpunkt der Brüssel I-Verordnung aus kein unabdingbares Element für die Ausübung der Verteidigungsrechte des Beklagten darstellt. Es sei lediglich notwendig, dass der Beklagte genügend Zeit hatte, den Akt übersetzen zu lassen und seine Verteidigung zu organisieren. * Kenntnis und Verteidigungsmöglichkeit: Die Vorinstanz stellte zu Recht fest, dass die Beschwerdeführerin, obwohl sie nach eigenen Angaben noch keine Zustellung in Luxemburg erhalten hatte, einen verspäteten Widerspruch nach Art. 650 CPC italiano einlegen konnte. Dies zeige, dass sie Kenntnis vom Zahlungsbefehl hatte und sich verteidigen konnte, auch wenn der Widerspruch in Italien als verspätet abgewiesen wurde. Dies widerlegt die Behauptung, sie sei zur Verteidigung nicht in der Lage gewesen. * Fazit: Das Bundesgericht verneint eine Verletzung von Art. 34 Abs. 2 LugÜ.

6. Gesamtfazit Das Bundesgericht weist die Beschwerde in allen zulässigen Punkten als unbegründet ab und bestätigt die Anerkennung und Vollstreckbarkeit des italienischen Zahlungsbefehls in der Schweiz.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  • Zustellung an Zweigniederlassung ausreichend: Die Zustellung eines ausländischen Zahlungsbefehls an die Schweizer Zweigniederlassung einer ausländischen Gesellschaft genügt den Anforderungen von Art. 34 Abs. 2 LugÜ, da eine Zweigniederlassung keine eigene Rechtspersönlichkeit hat, sondern einen Teil der Hauptgesellschaft bildet.
  • Keine ordnungsgemässe Zustellung im engeren Sinne erforderlich: Art. 34 Abs. 2 LugÜ verlangt keine formell ordnungsgemässe Zustellung nach den Regeln des Prozessrechts des Ursprungsstaates, sondern lediglich, dass die Zustellung rechtzeitig und in einer Weise erfolgt ist, die dem Beklagten die Verteidigung ermöglicht hat (autonomer Standard).
  • Sprache und Verteidigungsrecht: Die fehlende Übersetzung des zugestellten Akts in die Sprache des Hauptsitzes (hier Deutsch/Französisch) stellt keine unzulässige Einschränkung der Verteidigung dar, wenn die Zustellungssprache (hier Italienisch) am Ort der Zweigniederlassung Amtssprache ist und dem Beklagten genügend Zeit zur Verfügung stand, eine Übersetzung zu veranlassen und sich zu verteidigen.
  • Praktische Kenntnisnahme: Die Tatsache, dass die Beklagte (hier A.__ SA) eine verspätete Opposition gegen den Zahlungsbefehl einlegen konnte, beweist ihre Kenntnisnahme und die Möglichkeit zur Verteidigung, auch wenn diese im Ursprungsstaat als verspätet abgewiesen wurde.
  • Keine Verletzung des ordre public: Die Bezeichnung der Zweigniederlassung anstelle der Hauptgesellschaft in der ursprünglichen Verfügung stellt keine Verletzung des Schweizer ordre public dar.