Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_270/2023 vom 27. Juni 2025

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Das Bundesgerichtsurteil 7B_270/2023 vom 27. Juni 2025 behandelt im Wesentlichen Beschwerden gegen Verurteilungen wegen versuchter Nötigung und Ungehorsam gegen behördliche Verfügungen, den Widerruf eines bedingt gewährten Strafvollzugs sowie damit verbundene Nebenfolgen wie Genugtuung und Kostenverteilung.

1. Sachverhalt und Vorverfahren:

Der Beschwerdeführer A._, geboren 1950, befand sich in einer konfliktreichen Trennungsphase mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin B._ (der Privatklägerin). Er war am 7. April 2020 bereits wegen diverser Delikte (einfache Körperverletzung, Tätlichkeiten, Sachbeschädigung geringer Bedeutung, Beschimpfung, missbräuchliche Verwendung einer Telekommunikationsanlage, Drohung, versuchte Nötigung, Nötigung, Belästigung durch Konfrontation mit einem sexuellen Akt und Ungehorsam gegen eine behördliche Verfügung) zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten und einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 30 CHF, beides bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von 4 Jahren, sowie zu einer Busse von 1'000 CHF verurteilt worden. Diese Verurteilung erfolgte aufgrund wiederholter Handlungen (Drohungen, Beleidigungen, Spucken, physische Übergriffe, Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit) gegenüber B.__ zwischen September 2018 und Oktober 2019. Der bedingte Strafvollzug wurde damals an Auflagen (psychotherapeutische Begleitung, Kontakt- und Annäherungsverbot) gebunden.

Die neuen, hier relevanten Vorwürfe beziehen sich auf Taten, die kurz nach der erstgenannten Verurteilung begangen wurden: * Ungehorsam gegen behördliche Verfügung (Art. 292 StGB): Trotz des Kontaktverbots nahm A._ ab dem 19. April 2020 wiederholt und hartnäckig Kontakt zu B._ über WhatsApp, E-Mails und Telefonanrufe auf (bis September 2020). Insbesondere umstritten war ein WhatsApp-Nachrichtenvorfall vom 29. Mai 2020 (Versand eines Fotos, gefolgt von einer Nachricht "Fausse manoeuvre - désolé"). * Versuchte Nötigung (Art. 181 i.V.m. 22 StGB): Am 18. Mai 2020 kontaktierte A._ die von B._ beauftragte Immobilienmaklerin und stellte sich als deren "zukünftiger Ex-Partner" vor. Er behauptete, alle Kosten für das zum Verkauf stehende Haus (dessen Alleineigentümerin B._ war) bezahlt zu haben, und drohte damit, nicht genehmigte Umbauten beim Service du développement territorial (SDT) anzuzeigen, um "seine Investitionen zurückzugewinnen". Er deutete auch Steuerhinterziehung seitens B._ an. Am 25. Mai 2020 kontaktierte er eine Person der Direction générale du territoire et du logement (DGTL) mit ähnlichen Behauptungen und forderte eine Verkaufsblockade, um angeblich unbeglichene Baukosten zurückzuerhalten.

Das erstinstanzliche Gericht sprach A._ in einigen Punkten frei, verurteilte ihn aber wegen versuchter Nötigung und Ungehorsam gegen behördliche Verfügungen. Es widerrief den bedingten Strafvollzug vom 7. April 2020 und verhängte eine Gesamtstrafe von 360 Tagen Freiheitsstrafe (abzüglich 180 Tage Untersuchungshaft) sowie eine Busse von 1'500 CHF. Zudem wurde er zur Zahlung einer Genugtuung von 900 CHF an B._ verurteilt. Die kantonale Berufungsinstanz bestätigte dieses Urteil.

2. Rechtliche Würdigung und Begründung des Bundesgerichts:

Das Bundesgericht prüfte die Rügen des Beschwerdeführers im Detail:

2.1. Ungehorsam gegen behördliche Verfügung (Art. 292 StGB): * Rechtsgrundlagen: Art. 292 StGB setzt vorsätzliches Handeln voraus (auch Eventualvorsatz genügt). Die Kenntnis des Verbots, dessen Gültigkeit und der Strafandrohung ist erforderlich. * Willkürliche Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden, es sei denn, diese wurden willkürlich (Art. 9 BV) oder offensichtlich unrichtig (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG) festgestellt. Das Prinzip "in dubio pro reo" hat in Bezug auf die Beweiswürdigung keine über die Willkürprüfung hinausgehende Bedeutung. * Begründung des Gerichts: Die Vorinstanz hatte aufgrund eines Bündels konvergierender Indizien angenommen, dass der Beschwerdeführer das Foto vom 29. Mai 2020 absichtlich an B.__ gesendet hatte. Das Verhalten des Beschwerdeführers – das Nichtlöschen von Kontakten, das spätere Senden einer "Falscher-Handgriff"-Nachricht ohne tatsächliches Löschen der ursprünglichen Nachricht – sprach gegen eine unbeabsichtigte Handlung. Er wusste, dass jeglicher Kontakt mit der Privatklägerin verboten war. * Bundesgerichtliche Prüfung: Der Beschwerdeführer bestritt dies als "reine Unachtsamkeit", bot aber lediglich eine appellatorische Neubeurteilung der Beweise an, ohne substantiiert Willkür darzulegen. Das Bundesgericht verwarf diese Rüge als unzulässig.

2.2. Versuchter Nötigung (Art. 181 i.V.m. 22 StGB): * Rechtsgrundlagen: Art. 181 StGB verlangt, dass der Täter das Opfer durch Gewalt, ernsthafte Schädigung oder auf "andere Weise" zur Vornahme, Duldung oder Unterlassung einer Handlung zwingt. "Andere Weise" ist restriktiv auszulegen und muss in Intensität und Wirkung den ausdrücklich genannten Nötigungsmitteln (Gewalt, Drohung) gleichkommen. Die Nötigung muss rechtswidrig sein, entweder weil das Mittel oder der Zweck unrechtmässig ist, das Mittel unverhältnismässig ist oder ein an sich rechtmässiges Mittel missbräuchlich eingesetzt wird (z.B. missbräuchliche Betreibung zur Druckausübung). Subjektiv ist Vorsatz (auch Eventualvorsatz) erforderlich. Bei fehlendem Erfolg liegt ein Versuch vor (Art. 22 StGB). * Begründung des Gerichts: Die Vorinstanz befand, dass A._ durch die Kontaktaufnahme mit der Maklerin und dem Mitarbeiter der DGTL versucht hatte, diese zu manipulieren, um den Verkauf des Hauses zu blockieren. Dies zielte darauf ab, Druck auf B._ auszuüben und das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und der Maklerin zu stören. Auch wenn die von A._ an Dritte gegebenen Informationen für sich genommen nicht ehrverletzend waren, so war doch die Art und Weise seines Vorgehens – die Kontaktaufnahme mit Dritten in einer Angelegenheit, die ihn nicht betraf, und die Androhung von Denunziationen gegenüber Steuer- und Verwaltungsbehörden – als unverhältnismässiges und missbräuchliches Druckmittel zu qualifizieren. Zudem wurde der verfolgte Zweck als illegitim angesehen, da A._ weder Eigentümer noch Gläubiger-Pfandberechtigter des Hauses war. Das Scheitern der Verkaufsblockade war für die Strafbarkeit unerheblich, da der Versuch ausreichte. * Bundesgerichtliche Prüfung: Der Beschwerdeführer argumentierte, sein Ziel sei rechtmässig gewesen (Geltendmachung von Investitionen). Das Bundesgericht hielt dem entgegen, dass auch bei einem legitimen Ziel das verwendete Mittel missbräuchlich und damit rechtswidrig sein kann. Die Kontaktaufnahme mit Dritten, Kritik an B.__ und die Drohung mit Anzeigen zur Blockade des Verkaufs stellten ein psychologisches Druckmittel dar, das in keinem vernünftigen Verhältnis zum beabsichtigten Zweck stand. Die Argumente des Beschwerdeführers wurden als appellatorisch oder auf nicht festgestellten Sachverhalten beruhend abgewiesen. Die fehlende direkte Kontaktaufnahme mit der Privatklägerin war irrelevant, da dies ohnehin durch das Kontaktverbot untersagt war. Die Rüge wurde als unbegründet abgewiesen.

2.3. Widerruf des bedingten Strafvollzugs (Art. 42, 46 StGB): * Rechtsgrundlagen: Art. 42 Abs. 1 StGB verlangt in der Regel eine günstige Prognose für die Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Bei einer Vorstrafe von mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe innerhalb der letzten fünf Jahre (Art. 42 Abs. 2 StGB) ist ein bedingter Vollzug nur bei "besonders günstigen Umständen" möglich, wobei die Prognose nicht mehr vermutet, sondern positiv begründet werden muss. Art. 46 StGB regelt den Widerruf bei erneuter Straftat während der Probezeit, wenn eine ungünstige Prognose besteht. Der Richter muss eine Gesamtwürdigung der Umstände, der Vorgeschichte, des Rufs und der persönlichen Situation des Täters vornehmen, einschliesslich der von ihm gezeigten Einstellung. * Begründung des Gerichts: Die Vorinstanz beurteilte die Prognose als ungünstig. A.__ war weniger als einen Monat nach seiner ersten Verurteilung erneut straffällig geworden und hatte dieselbe Person als Opfer. Sein Verhalten wurde als "obsessiv" beschrieben; er zeigte keinerlei Einsicht oder Rücksichtnahme auf die Opferin oder gerichtliche Entscheidungen. Er verharmloste oder rechtfertigte seine Taten und leugnete weiterhin körperliche Gewalt gegen die Privatklägerin. Auch die 180-tägige Untersuchungshaft in der früheren Angelegenheit hatte offensichtlich keine abschreckende Wirkung gezeigt. Ein Bewährungshelferbericht von Juli 2022 bestätigte, dass er die Bewährungsaufsicht für nutzlos hielt und sich immer noch abfällig über das Opfer äusserte. Angesichts dieser Umstände wurde der frühere bedingte Vollzug widerrufen und die neue Strafe ebenfalls unbedingt ausgesprochen. * Bundesgerichtliche Prüfung: Die Argumentation des Beschwerdeführers, er sei seit 2020 nicht mehr verurteilt worden, wurde als unzureichend erachtet, um die ungünstige Prognose umzustossen. Sein Spezialrezidiv, seine umfassende Vorstrafe und seine anhaltende Uneinsichtigkeit sowie die Weigerung, die körperlichen Gewalttaten anzuerkennen, untermauerten die Einschätzung der Vorinstanz. Auch seine Haltung gegenüber der Bewährungsaufsicht war relevant. Das Bundesgericht bestätigte den Widerruf des bedingten Strafvollzugs und die Verweigerung eines neuen bedingten Vollzugs als rechtmässig.

2.4. Genugtuung (Art. 49 OR): * Rechtsgrundlagen: Art. 49 Abs. 1 OR gewährt bei widerrechtlicher Persönlichkeitsverletzung eine Genugtuung in Geld, sofern die Schwere der Verletzung dies rechtfertigt. Das Bundesgericht überprüft die Höhe der Genugtuung frei, aber mit Zurückhaltung, da es sich um eine Billigkeitsfrage handelt. * Begründung des Gerichts: Die Vorinstanz befand den Betrag von 900 CHF als angemessen, da die Handlungen des Beschwerdeführers die Leiden der Privatklägerin reaktiviert hatten. Diese hatte vor Gericht angegeben, täglich unter Hass, Ungerechtigkeit und Verlassenheit zu leiden und sich ein Ende der Schikane zu wünschen. * Bundesgerichtliche Prüfung: Der Beschwerdeführer rügte, der Schaden sei nicht bewiesen und es fehle an medizinischen Zeugnissen. Das Bundesgericht stellte fest, dass die wiederholten, hartnäckigen Kontaktaufnahmen trotz Verbots und die Nötigungsversuche eine Persönlichkeitsverletzung darstellten, für die kein medizinisches Zeugnis zwingend erforderlich war. Angesichts der gesamten Umstände wurde der zugesprochene Betrag als adäquat erachtet. Die Rüge wurde als unbegründet abgewiesen.

2.5. Kostenverteilung (Art. 426 StPO): * Rechtsgrundlagen: Der Verurteilte trägt die Verfahrenskosten (Art. 426 Abs. 1 StPO). Bei teilweisem Freispruch kann der Richter die Kosten reduzieren, es sei denn, der Beschuldigte hat die Verfahrenseröffnung rechtswidrig und schuldhaft verursacht oder dessen Führung erschwert (Art. 426 Abs. 2 StPO). Dies ist eine Ausnahme, die bei einem klaren Verstoss gegen eine Verhaltensnorm greift und einen weiten Ermessensspielraum des Gerichts zulässt. * Begründung des Gerichts: Die Vorinstanz hatte die Gesamtkosten von 10'067 CHF um 30% auf 7'047.65 CHF reduziert, da der Beschwerdeführer die Verfahrenseröffnung durch sein "unangemessenes, belästigendes, herabwürdigendes und wiederholtes Verhalten" gegenüber B.__, das einen Verstoss gegen Art. 28 ZGB darstellte, verursacht hatte. Die Reduktion wurde sogar als äusserst günstig für den Beschwerdeführer erachtet. * Bundesgerichtliche Prüfung: Der Beschwerdeführer forderte eine Reduktion um 70%. Das Bundesgericht wies dies zurück. Die Vorinstanz hatte nicht unterstellt, dass er sich der Delikte schuldig gemacht hatte, von denen er freigesprochen wurde, sondern dass sein zivilrechtlich missbilligtes Verhalten zur Einleitung des Verfahrens geführt hatte. Diese Einschätzung wurde als nicht willkürlich erachtet. Die Rüge wurde als unbegründet abgewiesen.

2.6. Parteientschädigung (Art. 433 StPO): * Rechtsgrundlagen: Die klagende Partei kann eine Entschädigung für notwendige Aufwendungen verlangen, wenn sie obsiegt oder der Beschuldigte die Kosten gemäss Art. 426 Abs. 2 StPO tragen muss. * Begründung des Gerichts: Da B._ in den wesentlichen Punkten obsiegt hatte und A._ zur Tragung der Verfahrenskosten verurteilt wurde, waren die Voraussetzungen für eine Parteientschädigung gemäss Art. 433 Abs. 1 lit. a und b StPO erfüllt. * Bundesgerichtliche Prüfung: Der Beschwerdeführer argumentierte, ein Anwalt sei nicht nötig gewesen und viele Klagen seien abgewiesen worden. Das Bundesgericht bestätigte, dass die Voraussetzungen erfüllt waren, da die Privatklägerin obsiegt hatte und der Beschwerdeführer zur Tragung der Kosten verpflichtet war. Die Höhe der Entschädigung wurde nicht als problematisch befunden. Die Rüge wurde als unbegründet abgewiesen.

3. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen versuchter Nötigung und Ungehorsam gegen behördliche Verfügungen bestätigt. Es bekräftigte den Widerruf des bedingt gewährten Strafvollzugs sowie die Verweigerung eines neuen bedingten Vollzugs aufgrund einer ungünstigen Täterprognose, die sich aus dem Spezialrezidiv, der fehlenden Einsicht und dem hartnäckigen, obsessiven Verhalten gegenüber der Privatklägerin ergab. Des Weiteren wurden die zugesprochene Genugtuung an die Privatklägerin sowie die Kostenverteilung des Verfahrens als rechtmässig befunden, da das Verhalten des Beschwerdeführers – auch bezüglich der Straftaten, von denen er freigesprochen wurde – die Verfahrenseinleitung zivilrechtlich missbräuchlich verursacht und die Persönlichkeit der Privatklägerin verletzt hatte.