Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer 6B_950/2024 vom 10. Juli 2025) befasst sich detailliert mit der Verurteilung zweier Aktivisten wegen Störung öffentlicher Dienste (Art. 239 StGB), einfacher Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG) sowie – für einen der Rekurrenten – einer Übertretung nach kantonalem Recht (LContr). Im Kern stehen die Intensität der Störung, die Frage der Konkurrenz mehrerer Straftaten sowie die Vereinbarkeit der Verurteilung mit der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit.
I. Sachverhalt und Vorverfahren
Die Rekurrenten B._ und A._ nahmen am 20. September 2019 in Lausanne an einer unangemeldeten Demonstration der Gruppierung Extinction Rebellion (XR) auf dem Pont Bessières teil. Sie setzten sich auf die Strasse, legten Gegenstände auf die Fahrbahn und blockierten so den Verkehr. A.__ war zudem an der Organisation und dem Aufbau einer «Bühne» beteiligt und benutzte ein Megaphon. Die Polizei forderte die Demonstrierenden mehrfach auf, den Ort zu verlassen, bevor sie diese nach Stunden des Blockierens gewaltsam entfernte. Der Verkehr, insbesondere von Einsatzfahrzeugen und mehreren Buslinien der Transports publics de la région lausannoise (TL), musste umgeleitet werden, was zu erheblichen Verspätungen und Verkehrsbehinderungen führte. Die Blockade dauerte von 11:25 Uhr bis 19:55 Uhr.
Im erstinstanzlichen Verfahren wurden beide Rekurrenten wegen Störung öffentlicher Dienste und einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt. A._ wurde zusätzlich wegen einer Übertretung nach LContr sowie ursprünglich auch wegen Behinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) verurteilt. Das Bundesgericht hatte die Sache bereits mit Urteil 6B_605/2023 vom 13. Mai 2024 an die kantonale Vorinstanz zurückgewiesen, da die Begründung zur Störung öffentlicher Dienste lückenhaft war und die Verurteilung von A._ wegen Behinderung einer Amtshandlung gegen den Anklagegrundsatz verstoss. Die Vorinstanz sprach A.__ daraufhin vom Vorwurf der Behinderung einer Amtshandlung frei, bestätigte aber im Übrigen die Verurteilungen.
II. Wesentliche Rechtsfragen und Begründung des Bundesgerichts
1. Störung öffentlicher Dienste (Art. 239 Ziff. 1 StGB)
Das Bundesgericht prüfte zunächst die Verurteilung wegen Störung öffentlicher Dienste und wies die Rügen der Rekurrenten zurück.
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1.1. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung: Die Rekurrenten beanstandeten, dass die Vorinstanz nicht berücksichtigt habe, dass die Busse der TL auch aufgrund falscher Umleitungen verspätet waren und ein Polizeikommuniqué von "leichten" Verkehrsbehinderungen sprach. Das Bundesgericht verwarf diese Argumente als unbegründet. Die Busse hätten sich nur wegen der durch die Demonstration verursachten Umleitung verfahren, die Blockade sei mithin ursächlich für die Verspätungen gewesen. Das Polizeikommuniqué habe sich zudem auf den Verkehr im Allgemeinen bezogen, während andere Akten detaillierte Angaben zu den Busverspätungen enthielten. Es liege keine Willkür vor.
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1.2. Verletzung des Anklageprinzips (Art. 9, 325, 350 Abs. 1 StPO; Art. 6 EMRK): Die Rekurrenten machten geltend, die ursprünglichen Strafbefehle hätten lediglich die Umleitung der Buslinie 16 erwähnt, was eine Verurteilung wegen Störung anderer Buslinien unzulässig mache. Das Bundesgericht hielt fest, die Strafbefehle hätten klar auf die Blockade des "Verkehrs der Fahrzeuge, insbesondere der Einsatzfahrzeuge und der Busse der Linie Nr. 16" hingewiesen. Dies habe den Rekurrenten deutlich gemacht, dass ihnen eine umfassende Verkehrsblockade angelastet werde. Der Anklagegrundsatz sei gewahrt.
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1.3. Intensität der Störung (Art. 239 Ziff. 1 StGB): Die Rekurrenten argumentierten, Verspätungen von 10 bis 18 Minuten seien nicht ausreichend intensiv für eine Störung im Sinne von Art. 239 StGB. Das Bundesgericht widersprach dieser Ansicht energisch.
- Dauer: Die Störung dauerte von 11:20 Uhr bis 17:20 Uhr, mithin sechs Stunden. Die gesamte Blockade des Pont Bessières dauerte über acht Stunden (11:25 bis 19:55 Uhr). Das Bundesgericht betonte, dass die reine Dauer nicht isoliert zu betrachten sei, sondern im Kontext der konkreten Störungen.
- Umfang der Störung: Die Verspätungen betrafen 33 Busse auf sechs verschiedenen Linien. Die kumulierten Verspätungen beliefen sich auf 330 bis 594 Minuten. Das Bundesgericht verwies auf die Rechtsprechung (BGE 116 IV 44 E. 2d), wonach bereits eine Störung von anderthalb Stunden als erheblich qualifiziert wurde. Die vorliegende Störung habe diesen Wert – auch unter Berücksichtigung der kumulierten Verspätungen und nicht nur der einzelnen Maximalverspätungen – bei weitem überschritten.
- Örtlichkeit: Die Blockade erfolgte im Zentrum der Waadtländer Hauptstadt auf einer Hauptverkehrsachse. Die Beeinträchtigung einer nicht unerheblichen Anzahl von Nutzern des öffentlichen Verkehrs auf mehreren Linien über mehrere Stunden hinweg sei erheblich.
- Fazit: Die Vorinstanz habe die Störung zu Recht als "wichtig" qualifiziert.
2. Konkurrenz zwischen Art. 90 Abs. 1 SVG und Art. 239 Ziff. 1 StGB
Die Rekurrenten beantragten, dass nur Art. 239 StGB anwendbar sei und keine Idealkonkurrenz zu Art. 90 Abs. 1 SVG bestehe.
- 2.1. Rechtsgrundsätze: Idealkonkurrenz liegt vor, wenn eine Handlung mehrere verschiedene Strafbestimmungen verletzt, wobei keine der Bestimmungen die Tat in allen ihren Aspekten erfasst. Die Beurteilung erfolgt nach den geschützten Rechtsgütern.
- 2.2. Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die Idealkonkurrenz.
- Art. 239 StGB: Schützt in erster Linie das öffentliche Interesse am störungsfreien Betrieb bestimmter Unternehmen, hier die Möglichkeit der TL, ihr Netz störungsfrei zu betreiben. Es schützt die Funktionsfähigkeit der Dienstleistung.
- Art. 90 Abs. 1 SVG: Schützt in erster Linie das öffentliche Interesse an der Flüssigkeit des Verkehrs und der Sicherheit auf den Strassen.
- Abgrenzung: Die geschützten Rechtsgüter überschneiden sich nur teilweise und sind nicht identisch. Art. 239 StGB ist nicht auf den öffentlichen Raum beschränkt. Art. 90 Abs. 1 SVG schützt zusätzlich die Sicherheit der Strassenbenutzer, was durch Art. 239 StGB nicht abgedeckt ist. Es sei möglich, nur den öffentlichen Verkehr zu behindern (z.B. eine Busspur) oder nur den Individualverkehr. Da keine der Bestimmungen das gesamte Verhalten erfasst, liege Idealkonkurrenz vor.
3. Übertretung nach LContr (nur A.__)
Der Einwand von A.__, er sei kein Organisator der Demonstration gewesen, wurde als unzulässig erklärt. Diese Frage sei bereits im früheren Bundesgerichtsurteil 6B_605/2023 endgültig entschieden und vom Rekurrenten selbst nicht mehr vorgebracht worden. Der Grundsatz der Bindungswirkung des Rückweisungsentscheids (Autorité de l'arrêt de renvoi) greife hier.
4. Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10, 11 EMRK; Art. 16, 22 BV)
Die Rekurrenten machten geltend, ihre Verurteilung verletze ihre Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit.
- 4.1. Anwendbarkeit der Grundrechte: Das Bundesgericht bejahte das Vorliegen eines Eingriffs in die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV, 11 EMRK), da die Rekurrenten an einer friedlichen Demonstration mit politischem Zweck teilgenommen hatten. Eine primäre Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 16 BV, 10 EMRK) lehnte das Gericht ab, da das absichtliche Blockieren einer Verkehrsachse nicht im Kern der Meinungsäusserungsfreiheit liege (Verweis auf EGMR-Rechtsprechung wie Barraco c. France und Lucas c. Royaume-Uni). Die Art. 22 BV und 11 EMRK seien jedoch im Lichte der Meinungsäusserungsfreiheit zu lesen.
- 4.2. Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV, 11 Abs. 2 EMRK): Die Rekurrenten bestritten die ausreichende Qualität der gesetzlichen Grundlagen (Art. 239 StGB, 90 SVG) für die Verfolgung von Teilnehmern an unangemeldeten Demonstrationen. Das Bundesgericht wies dies zurück. Die zitierten EGMR-Fälle (Huseynli, Hakobyan) seien nicht vergleichbar, da sie die willkürliche Inhaftierung von Demonstranten zum Inhalt hatten, während hier konkrete Straftaten geahndet wurden. Die fraglichen Bestimmungen seien hinreichend präzise und vorhersehbar. Es sei notorisch, dass die Teilnahme an unangemeldeten friedlichen Demonstrationen unter Umständen strafrechtliche Konsequenzen haben könne.
- 4.3. Legitimes Ziel (Art. 36 Abs. 2 BV, 11 Abs. 2 EMRK): Die Rekurrenten behaupteten, die Verurteilung diene lediglich der Bestrafung des Fehlens einer Bewilligung und der Abschreckung. Das Bundesgericht sah dies anders. Die Verurteilung habe legitime Ziele verfolgt: die öffentliche Sicherheit (insbesondere die Verkehrssicherheit auf einer Brücke), die Aufrechterhaltung der Ordnung (da die Demonstration unangemeldet war) und den Schutz der Rechte und Freiheiten Dritter (Recht auf freie Bewegung und Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel). Das EGMR habe in ähnlichen Fällen (Kudrevicius, Barraco) solche Störungen als "zu ahndende Handlungen" anerkannt, wenn ihr Ausmass über das normale Mass einer friedlichen Versammlung hinausgeht. Ein "verstecktes" Ziel der Behörden sei nicht ersichtlich, zumal die Vorinstanz die "authentische Überzeugung" der Rekurrenten anerkannt habe und zahlreiche bewilligte Klimademonstrationen in Lausanne stattgefunden hätten.
- 4.4. Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV, 11 Abs. 2 EMRK): Dies war der entscheidende Punkt der Grundrechtsprüfung.
- Klarstellung: Die Verurteilung erfolgte nicht für die blosse Teilnahme an einer unangemeldeten Demonstration, sondern für die Begehung konkreter Straftaten (Blockade), die nicht notwendig für die Ausübung der Versammlungsfreiheit waren. Die Toleranz der Polizei gegenüber der Demonstration schliesse strafrechtliche Verfolgung nicht aus.
- Alternative Handlungsoptionen: Die Demonstration war geplant, nicht spontan. Eine Bewilligung hätte beantragt werden können, was den Behörden die Möglichkeit gegeben hätte, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Zudem standen den Rekurrenten andere legale, demokratische Mittel zur Verfügung (Volksinitiativen, Referenden, Petitionen). Das Klimaproblem sei zudem allgemein bekannt, sodass keine Notwendigkeit für eine spontane Aktion bestanden habe.
- Absichtliche Störung: Die Blockade war nicht indirekte Folge, sondern das bewusst verfolgte Ziel, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das blockierte Objekt (Brücke) hatte keinen direkten Bezug zur behaupteten Untätigkeit der Regierung in Klimafragen. Das EGMR hat betont, dass das absichtliche Verursachen von Störungen des täglichen Lebens, die über das unvermeidbare Mass hinausgehen, nicht denselben Schutz nach Art. 11 EMRK geniessen wie politische Debatten.
- Ausmass der Störung: Die achtstündige Blockade einer Hauptverkehrsachse im Zentrum Lausannes mit erheblichen Auswirkungen auf den Verkehr und die Buslinien war exzessiv. Das Bundesgericht verwies auf den EGMR-Fall Barraco, wo die Verurteilung für eine fünfstündige partielle Autobahnblockade als verhältnismässig erachtet wurde.
- Verhalten der Polizei und Sanktionen: Die Polizei zeigte Toleranz, indem sie erst nach mehreren Stunden und vergeblichen Aufforderungen eingriff. Die verhängten Strafen (bedingte Geldstrafen, Bussen) waren verhältnismässig "leicht".
- Fazit: Die strafrechtlichen Sanktionen sind mit der Versammlungsfreiheit vereinbar. Sie stellen ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den legitimen Zielen der öffentlichen Sicherheit, der Verteidigung der Ordnung und des Schutzes der Rechte Dritter einerseits und den Erfordernissen der Versammlungsfreiheit andererseits dar.
5. Strafmilderung (Art. 52, 48 lit. a Ziff. 1 StGB)
Die Rekurrenten beantragten, ihre Strafe sei wegen geringer Schuld (Art. 52 StGB) oder eines ehrenhaften Motivs (Art. 48 lit. a Ziff. 1 StGB) zu mildern.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die ständige Rechtsprechung in ähnlichen "Klima-Fällen" (BGE 149 IV 217). Auch wenn die Rekurrenten aus ideellen Gründen handelten, waren ihre Taten nicht folgenlos. Die Intensität der Störung (Dauer, Ort, Ausmass der Beeinträchtigungen, Energieeinsatz zur Verlängerung der Blockade) nahm dem Motiv den "ehrenhaften Charakter". Eine Strafmilderung oder ein Strafverzicht komme daher nicht in Frage. Die Schuld sei nicht unerheblich.
6. Prozesskosten und Entschädigungen (Art. 428, 436 i.V.m. 429 StPO)
Schliesslich rügten die Rekurrenten die Kostenverteilung, da sie teilweise Obsiegt hatten (A.__s Freispruch von der Behinderung einer Amtshandlung).
- Begründung des Bundesgerichts: B._ unterlag vollständig und hat keinen Anspruch. A._ obsiegte nur bezüglich eines von mehreren Vorwürfen (Behinderung einer Amtshandlung), der Freispruch beruhte auf einem Verfahrensmangel (Anklageprinzip). Die Verurteilungen wegen Störung öffentlicher Dienste, Verkehrsregelverletzung und LContr wurden bestätigt. Angesichts des Gesamtumfangs sei der Teilerfolg als "geringfügig" im Sinne von Art. 428 Abs. 2 lit. b StPO zu qualifizieren. Zudem habe A.__ bereits eine Entschädigung von 1'000 CHF erhalten. Die Vorinstanz habe ihr weites Ermessen bei der Kostenverteilung nicht missbräuchlich ausgeübt.
III. Kurzfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht bestätigt die Verurteilung der Aktivisten wegen Störung öffentlicher Dienste (Art. 239 StGB) und einfacher Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 1 SVG). Es qualifiziert die über achtstündige Blockade einer Hauptverkehrsachse in Lausanne mit erheblichen kumulierten Verspätungen für 33 Busse auf sechs Linien als erhebliche Störung. Es bejaht die Idealkonkurrenz zwischen den beiden Straftaten, da sie unterschiedliche Rechtsgüter (Funktionsfähigkeit öffentlicher Dienste vs. Sicherheit und Flüssigkeit des Strassenverkehrs) schützen.
Hinsichtlich der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 11 EMRK, 22 BV) hält das Gericht fest, dass die Verurteilung einen rechtmässigen und verhältnismässigen Eingriff darstellt. Die strafrechtliche Ahndung erfolgte nicht für die blosse Teilnahme an einer unangemeldeten Demonstration, sondern für konkrete Straftaten (die Blockade), die über das normale Mass der Ausübung der Versammlungsfreiheit hinausgingen. Die Behörden handelten verhältnismässig, indem sie zunächst Toleranz zeigten, bevor sie eingriffen, und die verhängten Strafen mild waren. Das Gericht betont, dass geplante Proteste bewilligungspflichtig sind und andere demokratische Mittel zur Verfügung stehen.
Schliesslich verneint das Bundesgericht eine Strafmilderung aufgrund eines "ehrenhaften Motivs" (Klimaaktivismus), da die erhebliche und absichtliche Störung des öffentlichen Lebens diesen Charakter dem Motiv entziehe. Die Kostenverteilung wird als ermessenskonform bestätigt.